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Wolf-Andreas Liebert und Werner Moskopp (Hg.)
Die Selbstermächtigung der Einzigen
Texte zur Aktualität Max Stirners
LIT-Verlag, Berlin 2014, S. 127-163


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Bernd A. Laska

Individuelle Selbstermächtigung und rationales Über-Ich

Max Stirner als psychologischer Denker

Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden,
wenn Ich Mir's selbst nicht verbiete,
wenn Ich selbst Mich nicht vorm Morde
als vor einem "Unrecht" fürchte.
Max Stirner
(1)

Die gesamte Literatur über Stirner bzw. über sein 1845 erschienenes Buch Der Einzige und sein Eigentum steht unter der Prämisse, dass Stirner zu den untersten Chargen der Philosophie gehört. Diese Prämisse gilt als so selbstverständlich, dass sie kaum je ausgesprochen wurde. Versuche einzelner Autoren, Stirners Rang, warum auch immer, zu erhöhen, scheiterten. Der ambitionierteste dieser Versuche stammte von Wolfgang Essbach, der 1978 Stirners "Materialismus des Selbst" ranggleich neben Marx' "Materialismus der Verhältnisse" stellen wollte. Sein aus begründbarem Misstrauen gegenüber den "etablierten wissenschaftlichen und politischen Auffassungen" begonnenes Projekt einer "Forschung gegen den Strom" (Essbach 1978/1982, S. 1–3) gab er jedoch bald auf, nicht nur aus Gründen der akademischen Karriere, sondern auch aus solchen, die in der Sache liegen. Es waren durchaus nicht die unverständigsten Autoren, die ihr Befremden oder ihre Ratlosigkeit gegenüber Stirners "sonderbarem", "seltsamem", "merkwürdigem" Buch bekundeten; oder die Stirner als "Unphilosoph", "Anti-


(1) Stirner 1845/1972, S. 170; der Buchtitel Der Einzige und sein Eigentum wird im Folgenden mit EE bezeichnet.


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soph", "Sophist" bezeichneten und darauf verzichteten, ihn als Philosoph zu klassifizieren und sich mit ihm näher auseinanderzusetzen. Ich sehe Stirner, der zweifelsfrei einen Bezug zur Philosophie hat, hors concours, ausserhalb oder auch neben ihr: ein Paraphilosoph.

Stirner verwendet das Wort 'Selbstermächtigung' nicht. Er spricht von 'Empörung'. Dieses Wort kommt, incl. abgeleiteter Formen, im Einzigen mehr als dreissig Mal vor, allerdings meist im üblichen Sinn. Nur in einer Passage verwendet Stirner es im Sinne dessen, was mit dem Wort 'Selbstermächtigung', und zwar individueller Selbstermächtigung, sogar treffender und weniger missverständlich bezeichnet wäre. Nimmt man dies als Schlüsselbegriff, so lässt sich zeigen, dass Stirner uns nach einhundertsiebzig Jahren noch etwas Entscheidendes zu sagen hat, etwas, das nach der stillschweigend vollzogenen Überwindung Stirners durch vor allem Marx und Nietzsche sowie ihre Epigonen nur noch sozusagen subkutan, d. h. in der kollektiven Verdrängung weiterlebte. Marx und Nietzsche, auf den Schultern früherer Aufklärer stehend, wirkten hier effektiv als Verdunkler (vgl. Laska 2000b, S. 17–23 & ders. 2000c, S. 17–24). Ihre Autorität wirkt bis dato wie ein Bann, der die eingangs genannte Prämisse trägt und schützt.

Angesichts der verworrenen ideologischen Lage im mittlerweile postsäkular genannten Westen drängt sich der Gedanke auf, dass die Erfolge der von Marx und Nietzsche massgeblich geprägten neueren Aufklärung, verglichen mit deren ursprünglicher Intention, Pyrrhussiege waren; dass hier aber nicht eine in der vertrackten Sache begründete 'Dialektik der Aufklärung'


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am Werk war, sondern etwas, das als 'unbewusste Selbstsabotage' treffend bezeichnet ist. Deren Analyse, sozusagen eine grossangelegte Manöverkritik, erscheint mir unverzichtbar für den Versuch, die immer wieder einmal zu hörende Forderung nach einer 'Zweiten Aufklärung' in die Wege zu leiten. Im Vordergrund steht dabei die Analyse der Konfrontationen Marx vs. Stirner und Nietzsche vs. Stirner. Das waren jedoch keine Titanenkämpfe, im Gegenteil: Stirner wurde ziemlich geräuschlos, in einem zustimmenden oder gleichgültigen kulturellen Umfeld, zu einem 'Paria des Geistes' gestempelt. Dieser einzigartige Status Stirners prädestiniert ihn dafür, gleichsam als archimedischer Punkt genommen zu werden, an dem bei einer Revision der neueren Ideengeschichte zum genannten Zweck anzusetzen wäre.

Um Stirners Sonderstellung und ihre Gründe begreiflich zu machen, werde ich zunächst, bevor ich zum Titelthema komme, einen Abriss der wichtigsten Stationen der Rezeptionsgeschichte des Stirner'schen Werks geben. Als nächstes referiere ich die bei Stirner zentralen Gedanken, die seiner Vorstellung von Empörung resp. individueller Selbstermächtigung zugrunde liegen. Ich werde dabei, wie im Titel angekündigt, vom Über-Ich bei Stirner – avant la lettre – sprechen, insbesondere von seiner Unterscheidung eines irrationalen und eines rationalen Über- Ichs. Einer Kalamität werde ich jedoch kaum entrinnen können: sie konstituiert sich aus der Uneindeutigkeit und Unschärfe der verwendeten Begriffe (die hier nicht genauer definiert werden können), aus der Überfülle der philosophischen und psychologischen Diskurse des letzten Jahrhunderts zum Thema und


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nicht zuletzt aus der eingangs genannten Prämisse, unter der alles Reden über Stirner stattfindet. Um dennoch plausibel zu machen, dass es hier etwas substantiell Neues zu entdecken gibt und Stirners Ideen nicht längst obsolet geworden sind, füge ich ein Schlusskapitel an, das zeigt, dass Stirners Auffassung vom Über-Ich, derentwegen er zum Paria wurde, bis in unsere Zeit untergründig weiter rumort.

I

Die Rezeption der Ideen, die Max Stirner 1845 in seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum und einigen Artikeln niederschrieb, war seit je problematisch. Einer kurzen, heftigen Reaktion einer begrenzten Öffentlichkeit bei Erscheinen des Buches folgten Jahrzehnte, in denen Stirner vergessen schien. Er hatte gleichwohl von Beginn an einen bösen Ruf ("Teufel", "Nihilist") (2), der seit etwa 1890 im ideologischen Kampf eingesetzt wurde: Friedrich Engels schob, durchaus im Stil des 1883 verstorbenen Karl Marx, Stirner der konkurrierenden politischen Partei der Anarchisten unter, und der Philosoph Eduard von Hartmann, der seinen Ruhm durch die aufschiessende Popularität Nietzsches bedroht sah, benannte Stirner als die Quelle, aus der Nietzsche seine verwerfliche Morallehre geschöpft habe. (3) Die Anarchisten wie auch die Verehrer Nietzsches zogen es


(2) "Der Teufel [Stirner] verdient unseren Dank, wenn er uns sagt, dass er der Teufel ist." (Daumer 1864, S. 118)
"Theoretisch kann ein solcher Nihilismus alles ethischen Pathos sich zu nichts mehr fortentwickeln." (Rosenkranz 1854, S. 132)
(3) Für Details zu Engels, Hartmann und zahlreichen anderen Autoren in Bezug auf Stirner siehe Laska (1996).


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meist vor, diese Zuschreibung nicht zu kommentieren. "An den Quellen des Existentialismus" sah dann ein halbes Jahrhundert später der französische Ideenhistoriker Henri Arvon Stirners Ideen (vgl. Arvon 1954/2012). Doch Sartre und fast alle Vertreter des Existentialismus schwiegen ebenfalls; nur Albert Camus schrieb ein paar distanzierende Worte. Philosophiehistoriker ordneten Stirner meist den Jung- bzw. Linkshegelianern zu, weil er aus diesem Milieu hervorgegangen war. Sie übergingen, dass er hauptsächlich gegen die Protagonisten dieses und jedes Hegelianismus geschrieben hatte.

Das Bedürfnis, Stirner einer philosophischen Richtung zuzuordnen, kam erst mit seiner Wiederentdeckung im Windschatten von Nietzsches steil ansteigender Popularität im fin de siècle auf. Seither bezeichnete man Stirner als Individualisten, Subjektivisten, Nihilisten, Nominalisten, Egoisten, Solipsisten, oft mit dem Attribut, der extremste oder radikalste dieser Sorte zu sein. Daneben gab es zahlreiche andere Charakterisierungen Stirners wie Grössenwahnsinniger, Herostrat, Psychopath, Satanist. Seit Beginn der sog. zweiten Stirner-Renaissance Ende der 1960er Jahre sah man mit dem an Marx anknüpfenden Hans G. Helms Stirner auch als den prototypischen Ideologen des Kleinbürgertums, konkreter: als bis dahin unerkannt gebliebenen Erzideologen des Faschismus und des Nationalsozialismus (vgl. Helms 1966). Kürzlich vertrat Alexander Stulpe die Auffassung, Stirner sei heutzutage, wie die "Anatomie der modernen Individualität" zeige, derart "gründlich einverleibt", dass er zwar "längst vergessen, aber überall ist" (Stulpe 2010,


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S. 935), in jedem der self-styled Massenindividualisten unserer Zeit.

Klar scheint, dass der Königsweg zu einer eigenen begründeten Beurteilung Stirners über das Studium seiner Rezeption führt, insbesondere, wenn man die mögliche Bedeutung seines einhundertsiebzig Jahre alten Einzigen für die ideologische Problemlage hier und heute zu bestimmen versuchen möchte.

Nahe liegt dann, mit den vorliegenden Darstellungen der Rezeptionsgeschichte des Stirner'schen Werks zu beginnen. Zwei Autoren solcher Werke sind dabei hervorzuheben: Helms (1966) und Stulpe (2010). Beide Arbeiten sind aussergewöhnlich umfangreich (Helms 600, Stulpe 1000 Seiten) und ausserordentlich akribisch im Detail (Helms 1400, Stulpe 2500 Fussnoten), dabei fast druckfehlerfrei. Ein derart gewaltiges Pensum lässt auf eine sehr starke persönliche Motivation schliessen.

Helms spricht demonstrativ offen über seinen Antrieb. Es war die "aktuelle Gefährlichkeit" Stirners (Helms 1966, S. 495 & passim). Ihr galt es zu begegnen. Die Arbeit habe bei ihm zwar "oft Ekel erregt" und sei "immer beängstigend" gewesen (Helms 1966, S. 501). Er habe das aber auf sich genommen. Stirner sei nun als Erzideologe des Faschismus entdeckt, somit auch der zeitgenössischen Herrschaftsform im Westen, denn: "Der Faschismus gibt sich heute demokratisch." (Helms 1966, S. 499) Stirner scheine zwar "hier und jetzt über Marx obsiegt zu haben", doch könne dies, nachdem Marxisten diesen ideologischen "Eiterherd" (Helms 1966, S. 495) erkannt hätten, rückgängig gemacht werden. Zu ähnlichen Motivlagen für ihr Enga-


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gement in Sachen Stirner bekannten sich – kaum zu glauben, aber wahr – auch die Herausgeber und Kommentatoren des Einzigen in Reclams Universalbibliothek, Paul Lauterbach (ab 1893) und Ahlrich Meyer (ab 1972). (4)

Stulpe nennt Helms' Werk eine "grosse Untersuchung" (Stulpe 2010, S. 867), hält aber sonst Distanz. In Hinblick auf sein eigenes Werk sagt Stulpe zwar, der Zeitbedarf dafür habe "alle Erwartungen übertroffen" (Stulpe 2010, S. [9]), aber kein Wort über seine Motivation, die ihn dieses schriftstellerische Grossprojekt über viele Jahre hinweg verfolgen liess. Stulpe stellt sich als Wissenssoziologe vor und erklärt zunächst auf 260 Seiten die theoretischen Grundlagen seiner Arbeit (Luhmann, Freud, Weber u. a.). Für seine "gegenwartsdiagnostische These von der Ubiquität des Einzigen" braucht er diese allerdings nicht. Seine Forschung beruht auf folgendem Prinzip: "Wenn man zeigen kann, was der Einzige ist, dann kann man ihn auch dort aufspüren, wo er unbekannt – oder vergessen – zu sein scheint." (Stulpe 2010, S. 292) Was der Einzige ist, will Stulpe anhand von Literatur aus der Zeit der sogenannten Stirner-Renaissance (ca. 1890–1914) zeigen. Doch schon dieser erste Schritt verheisst ein Scheitern, denn Stulpe ignoriert mit unbeirrbarer Konsequenz, dass es sogar in jener Phase grosser Popularität Stirners nur ganz vereinzelt Personen gab, die sich selbst als "Einzige" resp. Anhänger Stirners verstanden. Stattdessen zieht Stulpe psychopathologische Fälle, politische Attentäter, Barfusspropheten, Inflationsheilige und ökonomistische Sektierer als


(4) Detailliert dazu Laska (1994).


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Zeugen heran, die er mittels "Askription" zu (verkappten, unbewussten) Stirnerianern erklärt. Sonst referiert er über weite Strecken, was frühere Autoren, auch sie keine Adepten Stirners, über Stirners Buch geschrieben haben. Nachdem er so auf hunderten von Seiten vermeintlich ermittelt hat, "was der Einzige ist", ein aus vielerlei "individualistischen Gestalten" oder den titelgebenden "Gesichtern des Einzigen" zusammengesetzter "Gesamt-Einziger" (Stulpe 2010, passim), scheint ihn eine Ahnung davon befallen zu haben, dass er einen ungeheuerlichen Popanz errichtet hat, denn er sagt nun, dass er den zweiten Schritt – dessentwegen allein er den ersten unendlich mühsamen getan hat – "selbstverständlich allenfalls punktuell umsetzen" könne: "im Aufweis von gegenwärtigen semantischen Strukturen, die der Figur des Einzigen in bestimmten Aspekten entsprechen, ohne dass diese Figur des Einzigen oder gar Stirner selbst als Referenz angegeben wird" (Stulpe 2010, S. 292).

Stulpe fasst sich nun sehr kurz und will dieserart Belege für seine These in einem Essay von Enzensberger und dem Spiegel- Heft 22/1994 über den Tanz ums goldene Selbst ausmachen. Dies soll beglaubigen, dass "der Einzige mittlerweile in gewisser Weise allgegenwärtig und zur Selbstverständlichkeit geworden ist" (Stulpe 2010, S. 28). Stulpe bricht jetzt schnell ab und endet, Helms' Wort vom Obsiegen Stirners im Ohr, mit dem Seufzer: "Dieser Einzige wird sobald wohl nicht verschwinden." (Stulpe 2010, S. 935)

In dieser resignativen Haltung unterscheidet sich Stulpe von seinem Vorgänger Helms, der 1966 erwartete, dass nun endlich Marx über Stirner obsiegen werde. Sonst ähneln sich beide Au-


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toren sehr, vor allem in ihrer Methode der kontrafaktischen "Askription", mit der sie ein gigantisches Werk der Verblendung inszenieren. Helms erklärt Nationalsozialisten und BRDDemokraten der 1960er Jahre zu (klandestinen, latenten, unbewussten) Stirnerianern und Stulpe darüber hinaus seine shoppenden massenindividualistischen Zeitgenossen insgesamt. Da stellt sich die Frage, wer da wen, was da was, erklären oder denunzieren soll. (5)

Das Surreale, das Ungeheuerliche dieser beiden monströsen Werke lässt sich kaum in Worten einfangen. Man muss die beiden handwerklich perfekten Bände in den Händen haben, einen Zweipfünder und einen Dreipfünder, darin blättern, lesen und immer wieder auf ihre fundamentale Widersinnigkeit stossen: eine phantastische, bizarre These, für die auf Hunderten von Seiten teils durchaus imposanter Prosa kaum wirkliche Belege geliefert werden.

Beide Werke tragen überdeutlich das Merkmal, das ich als gemeinsamen Nenner der Stirner-Rezeption – auch der routinierten, professionellen Erledigungen – gefunden habe: Abwehr. Abwehr eines als universell hochgefährlich empfundenen, meist nur geahnten, selten artikulierten Gedankens. Stirners angestrebte "Destruktion der Entfremdung, also die Rückkehr zur Authentizität", schreibt beispielsweise Leszek Kolakowski, "wäre nichts anderes als die Zerstörung der Kultur, die Rückkehr zum Tiersein [...] die Rückkehr zum vormenschlichen Status." "Stirners Gründe", wenngleich "unwiderlegbar", müssten


(5) Für eine Kritik an Stulpes Buch siehe Laska (2010).


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deshalb um jeden Preis zurückgewiesen werden. Karl Joël, Basler Philosophieprofessor und Verehrer Nietzsches, meint dasselbe, wenn er schreibt, Stirner habe mit seinem Buch den Grund für eine "Teufelsreligion" gelegt. Eine ähnliche Auffassung verriet Edmund Husserl, als er seine Studenten vor Stirners "versucherischer Kraft" warnte und öffentlich, obwohl selbst "Egologe", über den "Egoisten" Stirner schwieg. (Laska 1996)

Dieserart reflexartige Abwehr und argumentlose Verdrängung des säkularen Bösen findet sich – meist an entlegenen Textstellen – bei Dutzenden prominenter Denker. Ich habe deshalb von einer Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners gesprochen und sie in 22 Kapiteln meiner Wirkungsgeschichte Stirners – unter Stulpes 700 Titeln Literatur findet man sie übrigens nicht – dargestellt. (6) Verlässlich belegt und ohne Askriptionen berichte ich darin über erstaunliche Reaktionen bekannter Denker – von Feuerbach und Marx über Nietzsche und Carl Schmitt bis zu Adorno und Habermas – auf Stirners Buch, die in Monographien über sie meist nicht einmal als Fussnote erwähnt sind. Hier kann ich nur auf die beiden wichtigsten, weil folgenschwersten Fälle eingehen, auf Marx und Nietzsche, bei denen die Konfrontation mit Stirner den Startpunkt ihrer eigenständigen Denkerkarriere markiert. Die Darstellung kann freilich nur kursorisch die wichtigsten Punkte berühren, sollte aber genügen, um den Bann, der Stirner in der Rolle einer ideenge-


(6) Siehe Laska (1996); dazu ergänzend einige Artikel, insbesondere Laska (2002).


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schichtlichen quantité négligeable hält, so weit zu brechen, dass sein Sonderstatus wahrgenommen und problematisiert werden kann.

II

Der junge Karl Marx war, als Stirners Einziger Ende Oktober 1844 erschien, ein begeisterter Anhänger Feuerbachs. Er hatte kurz zuvor Friedrich Engels kennengelernt, und beide beschlossen, gemeinsam eine Abrechnung mit den Junghegelianern, zu denen sie sich selbst bis vor kurzem gezählt hatten, zu schreiben. Das Buch, betitelt Die heilige Familie, erschien Ende Februar 1845. Es ist eine furiose Polemik gegen "Bruno Bauer und Consorten" (Marx/Engels 1845/1957, S. [5]) und eine Huldigung an Feuerbach und seinen "realen Humanismus" (Marx/Engels 1845/1957, S. 7). Was an dem Buch am meisten auffällt, ist eine Leerstelle: Der bekannteste jener Consorten, Max Stirner, dessen Einziger gerade erschienen war und Engels spontan begeistert hatte, bleibt unerwähnt. Marx, der das gemeinsame Buch fast im Alleingang verfasste, nahm von Beginn an eine taktierende Haltung gegenüber Stirner ein. Nachdem er Engels' positive Sicht auf Stirner schnell zerstreut hatte, wartete er ab, was andere, insbesondere der von Stirner angegriffene Feuerbach, erwidern würden. Als er im September 1845 Feuerbachs Replik auf den Einzigen und Stirners Duplik auf diese las, bewirkte dies bei Marx zweierlei: die Abkehr von Feuerbach, die unter dem Einfluss des Einzigen schon im Februar mit der Niederschrift seiner Thesen ad Feuerbach begonnen hatte; und den Entschluss, nun selbst Stirner entgegenzutreten. Marx


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stellte, ohne Rücksicht auf Vertragstermine und finanzielle Verluste, alle anderen Arbeiten hintan und schrieb über Monate eine furiose Suada gegen einen Mann, den er gleichwohl als den "hohlsten und dürftigsten Schädel unter den Philosophen" (Marx/Engels 1846/1958, S. 435) beschimpfte. Er gab dieser Schrift, die den knapp 500-seitigen Einzigen an Länge noch übertraf, den Titel Sankt Max. Sie war und blieb die aufwendigste Auseinandersetzung, die Marx je mit einem Autor führte. Dieser voluminöse Sankt Max ist ein seltsam groteskes Stück. Was ihn charakterisiert, ist wiederum, wie bei den Werken von Helms und Stulpe, kaum mit Worten zu vermitteln. Man muss es zur Hand nehmen und darin blättern. Bemerkenswerterweise wurde es, trotz seines Umfangs, von Marxforschern jeglicher ideologischer Provenienz meist stillschweigend übergangen oder als Produkt jugendlichen Überschwangs bagatellisiert. Der Autor der jüngsten grossen Marx-Biographie, Jonathan Sperber, ist perplex über das "obsessive Interesse" und die "zwanghaft anmutende Aufmerksamkeit" (Sperber 2013, S. 176) seines Helden für "einen eindeutig zweitrangigen Autor" (ebd., S. 188), und ratlos. Er sieht die sinnvollste Erklärung für die Entstehung des Textes darin, dass die gemeinsame Arbeit mit Engels Marx zur Versöhnung nach einer Freundschaftskrise gedient habe.

Tatsächlich vollzog Marx parallel zu und im Anschluss an Sankt Max den Sprung vom 'ethischen Humanismus' Feuerbachs zum 'wissenschaftlichen Sozialismus' eigener Prägung. Zur Immunisierung gegen Kritik im Geiste Stirners vermied er fortan ethische Argumente und entwarf in jenen Monaten, was Engels


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später "die grosse Theorie" nannte, den sogenannten Historischen Materialismus. Dessen erster Entwurf steht in einem schmalen Kapitel Feuerbach, das zusammen mit Sankt Max und einigen kleineren Schriften unter dem Titel Die deutsche Ideologie zusammengefasst wurde. Die Veröffentlichung des Werks scheiterte jedoch. Der wichtigste Grund dafür war, dass Marx selbst nun zauderte und Engels' Eifer bei der Verlagssuche konterkarierte. Marx schrieb stattdessen in kurzer Zeit ein anderes Buch, Misère de la philosophie, für das er auch schnell einen Verlag fand. Eine Kontroverse Marx-Stirner, von der später einige Autoren sprachen, kam damit gar nicht erst zustande.

Ohne hier eine nähere Begründung geben zu können, vertrete ich, das weitere Schicksal von Sankt Max und die Stirner- Rezeption vor Augen, die These, dass Marx in jenen chaotischen Monaten, die zu Sankt Max und zur Geburt des Historischen Materialismus führten, Stirners verstörende Ideen verdrängt hat, 'verdrängt' in zweifachem Sinn: psychologisch für sich als Individuum und ideengeschichtlich für alle, die später von seiner daraufhin entwickelten Lehre fasziniert waren – pro oder contra.

Sankt Max blieb im Nachlass von Marx erhalten und wurde erst postum veröffentlicht, 1903 in Auszügen und 1932 vollständig in der (ersten) Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Beide Male folgte keine nennenswerte Rezeption. Erst 1951 veröffentlichte der oben schon genannte Henri Arvon in Les temps modernes einen Artikel, in dem er erstmalig die entscheidende, aber stets übergangene Rolle Stirners in Marx' Entwicklung darstellte und sie als deren "tournant essentiel" (wesentlichen


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Wendepunkt) bezeichnete (vgl. Arvon 1951 & Arvon 1954/2012).

Der junge Iring Fetscher, der gerade über Hegel promoviert hatte, berichtete erstaunt über die von Arvon gefundene "unerklärliche Lücke in der Marx-Forschung" (Fetscher 1962, S. 425). Die Marx-Forschung aber ignorierte Arvons Aufdeckung, in Frankreich wie in Deutschland, wie überall – auch Fetscher selbst, als er sich zu einem angesehenen Marx-Forscher entwickelte, kam in seinen einschlägigen Arbeiten nicht auf die noch immer bestehende Lücke zurück. Auch hier darf man von Verdrängung, in beiderlei Wortsinn, sprechen. Wenn man bei Marx aufgrund seines Umgangs mit der Stirner'schen Herausforderung von primärer Verdrängung sprechen kann, so bei Fetscher, der Stirner plus Arvons Stirner-Marx-Forschungen 'vergass', von sekundärer.

Der erstaunlichste Fall dieser Art ist der des Louis Althusser. Er und Arvon forschten auf dem gleichen Spezialgebiet: Feuerbach und Marx. Althusser musste Arvon also kennen, somit auch dessen Artikel und, selbstverständlich, den Einzigen und Sankt Max. Gut ein Jahrzehnt nachdem Arvon von dem "tournant essentiel" und Stirners Rolle in der theoretischen Entwicklung von Marx geschrieben hatte, erschien Althussers Arbeit Pour Marx. Darin trug er, ohne Arvon zu nennen, unter dem Namen "coupure épistémologique" (erkenntnistheoretischer Einschnitt) eine in der Hauptsache gleiche These vor. (7) Der Clou: Althusser konzentrierte sich natürlich ebenfalls auf Marx' Deutsche Ideologie, ignorierte jedoch – kaum zu glauben, aber


(7) Vgl. Althusser (1968).


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wahr – die zwei Drittel des Werks, die von Stirner handeln. Der Name Stirner kommt bei Althusser nicht vor. Dies ist nicht nur ein Paradefall sekundärer Verdrängung; der weltweite Ruhm, den Althusser wegen seiner These erwarb, deutet auch auf dessen Gründe. Die Zäsur in Marx' Entwicklung, von Arvon 1951 klar erwiesen, konnte erst ein grosses Thema werden, nachdem Stirners Rolle darin getilgt war. Diese Ausblendung wurde in der weltweiten Diskussion der Theorie Althussers ebenfalls ausgeblendet. (8)

*

Die Frage, ob Friedrich Nietzsche, der andere Denker des 19. Jahrhunderts, der das ideologische Klima des 20. massgeblich prägte, Stirners Buch kannte, kam bereits in den 1890er Jahren auf, weil man in seinen Werken offenkundige Anklänge zum Einzigen entdeckte. Man fand jedoch in Nietzsches Büchern, Briefen und nachgelassenen Papieren keine Antwort auf diese Frage. Auch Nietzsches Freunde konnten sich nicht erinnern, dass Nietzsche Stirner jemals erwähnt hätte. Nur ein ehemaliger, vertrauter Schüler Nietzsches, Adolf Baumgartner, berichtete, er habe sich 1874 Stirners Einzigen auf Anraten Nietzsches aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen. Der Ausleihvorgang konnte verifiziert werden, mehr nicht.

Die Vermutung, Nietzsche habe Stirner gekannt – Henning Ottmann nannte sie "eine der intelligenteren Nietzsche-


(8) Näheres zu Arvon und Althusser bei Laska (2011).


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Legenden" (Ottmann 1982, S. 309) – wurde immer wieder einmal ventiliert. Wer die Frage spekulativ mit ja beantwortete, zählte Gedanken Stirners auf, die er bei Nietzsche wiederzufinden meinte. Aber niemand entledigte sich der eingangs genannten Prämisse, die wie ein Bann über der gesamten Stirner- Rezeption liegt.

Vor einigen Jahren befasste sich Rüdiger Safranski in seiner Nietzsche-Biographie (2000) mit der Stirner-Nietzsche-Frage, ausführlicher als die meisten Autoren vor ihm. Der Anlass dafür war ein Artikel, den ich Anfang 2000, gerade noch vor Drucklegung seines Buches, in der ZEIT veröffentlicht hatte. Darin berichte ich über meine Entdeckung eines noch weissen Flecks in der sonst sehr gründlich erforschten Biographie Nietzsches:

"Im Oktober 1865 hatte Nietzsche eine längere, intensive Begegnung mit Eduard Mushacke, der [...] mit Stirner befreundet gewesen war. Die unmittelbare Folge [für den jungen Nietzsche] war eine tiefe geistige Krise und ein panikartiger 'Entschluss zur Philologie und zu Schopenhauer'. (Laska 2000a S. 49)

Diese Krise, aus der Nietzsche als Philosoph hervorging, beschreibt Safranski konventionell: Nietzsche sei "einige Zeit wie im Rausch herumgetappt", habe eine "Haltung der Ergriffenheit, fast [...] Bekehrung" (Safranski 2000, S. 36) gezeigt. Konventionell ist auch die Übernahme der von Nietzsche autobiographisch vorgegebenen Ursache der Krise: bei einem zufälligen Griff nach Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung in einer Buchhandlung und kursorischer Lektüre noch im Laden habe sie ihn überfallen. Safranski stellt zwar bei Nietzsche "ein bemerkenswertes Verschweigen" (ebd., S. 123) fest, verIndividuelle


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schweigt aber selbst Nietzsches Begegnung mit Mushacke. Gleichwohl schreibt er dort, wo er sein Stirner-Kapitel eingeschoben hat, stellenweise fast euphorisch über den offensichtlich neu entdeckten Stirner. Schliesslich findet er wieder zur Kongruenz mit dem Altbekannten: Nietzsche werde den Kleinbürger Stirner letztlich doch als "abstossend" (ebd., S. 129) empfunden haben.

Wer die Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte von Stirners Einzigem kennt, kann die allgemein akzeptierte Version von Nietzsches "Initiation" nicht für glaubhaft halten. Mein Resumé im ZEIT-Artikel:

"Nietzsche hat die direkten Spuren dieser entscheidenden geistigen Wende mit einigem Erfolg zu tilgen gesucht – was den verbliebenen um so grösseres Gewicht verleiht. – Obwohl im Falle Nietzsches die Dinge in allen Details (auch in der Frage der positiven Belegbarkeit) anders liegen als bei Marx, ist doch bei beiden eine grundsätzliche Ähnlichkeit ihrer Entwicklung zu Denkern von überragendem Einfluss festzustellen: Konfrontation mit Stirner in jungen Jahren; (Primär-)Verdrängung; Konzeption einer neuen Philosophie, die eine beginnende ideologische Zeitströmung verstärkt und dadurch populär wird, dass sie die eigentlich anstehende (und von Stirner eingeforderte) Auseinandersetzung mit den tieferen Problemen des Projekts der Moderne, des 'Ausgangs des Menschen aus seiner Unmündigkeit', abschneidet und zugleich eine greifbare praktische Lösung suggeriert. Wie bei Marx folgte auch bei Nietzsche der [individuellen] Primärverdrängung die kollektive Sekundärverdrängung: durch die Nietzscheforscher aller Richtungen. Sie äusserte sich jedoch in flexibleren Formen als in der Marxforschung. (Laska 2000a, S. 49)


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III

Ich habe bis hierhin versucht, die Position des philosophischen Schriftstellers Max Stirner, der in der Philosophie so wenig gilt, dass er in historischen Darstellungen und Lexika des Fachgebiets meist gar nicht oder nur marginal vorkommt, neu zu bestimmen: ausserhalb, neben der Philosophie. Ich habe dies unter Rückgriff und Verweis auf meine vorangehenden Studien getan, indem ich einen Überblick zur Wirkungsgeschichte Stirners gab. Dieser konnte hier freilich nur fast stichwortartig die wichtigsten Stationen hervorheben. Dabei wollte ich vor allem zeigen, dass diese Geschichte in erster Linie eine Geschichte der Abwehr und Verdrängung war, neuere aufwendige Darstellungen dieser Geschichte (Helms, Stulpe) eingeschlossen. (9)

Damit will ich nicht etwa dazu auffordern, Stirner gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen, ihn als Philosophen aufzuwerten oder ähnliches. Nein, ich wollte vielmehr den nachhaltigen Eindruck oder zumindest den begründeten Verdacht hervorrufen, dass das Buch, das derartige Reaktionen bei Dutzenden prominenter Denker provoziert, nicht durch die immer wieder


(9) Peter Sloterdijk hat in seinem letzten kulturtheoretischen Grossessay Die schrecklichen Kinder der Neuzeit Stirner zur Schlüsselfigur für das Verständnis der abschüssigen Entwicklung der Moderne erklärt: "In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt." (Sloterdijk 2014, S. 468) Seine Interpretation Stirners deckt sich im Wesentlichen mit der Stulpes: Stirner sei heute, obwohl weitgehend unbekannt, allgegenwärtig. Wie Stulpe blendet Sloterdijk das Evidenteste konsequent aus: dass es ausgerechnet die Stirner-Vernichter Marx und Nietzsche waren, die das 20. Jahrhundert geistig geprägt haben. Auch im Falle Sloterdijk kann man von einem "Stachel Stirner" (Laska 2010) sprechen: Hatte er in seinem Erstling noch gemeint, Stirner durch Belächeln erledigen zu können (Sloterdijk 1983, S. 192), so jetzt durch Dämonisieren.


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zitierten Stirner-Worte "Mir geht nichts über Mich" und "Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt" in seinem Kern erfasst werden kann. Es ist kaum denkbar, dass es sich bloss um einen präpotenten, wie Winfried Schröder schreibt, "selbst ernannten [sic!] Erben der Aufklärung" (Schröder 2005, S. 161) und seinen "unverblümten [sic!] moralischen Nihilismus" (ebd., S. 56) handelte, vor dem Geistesgrössen wie Marx und Nietzsche bis ins Mark erschraken und gegen ihn Werke schufen, die ein Jahrhundert prägten.

Eingedenk des bisher Vorgetragenen ist evident, dass eine ausführliche Darstellung der Kernidee Stirners, die zwar oft als 'gefährlich' bezeichnet, aber nie konkretisiert wurde, hier nicht erfolgen kann. Das Stichwort 'Selbstermächtigung' eignet sich jedoch, sich ihr anzunähern. Im Einzigen kommt das Wort nicht vor. An einer Stelle schreibt Stirner: "Was ist also mein Eigentum? Nichts als was in meiner Gewalt ist! Zu welchem Eigentum bin Ich berechtigt? Zu jedem, zu welchem Ich Mich – ermächtige." (EE, S. 284) Weitere Stellen, an denen vom Ermächtigen die Rede ist, führen nicht zur Klärung der Frage, wie Stirner diese Festlegung auf das eigene Selbst anwendet, wie jemand zum Eigentümer seiner selbst wird, oder ob Selbsteigentum trivialerweise bei jedem vorliegt. Eine andere Stelle, an der Stirner den Begriff der Empörung verwendet, führt weiter:

"Revolution und Empörung dürfen nicht für gleichbedeutend angesehen werden. Jene besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische oder soziale Tat; diese hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der


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Menschen mit sich aus, ist nicht eine Schilderhebung, sondern eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen, ohne Rücksicht auf die Einrichtungen, welche daraus entspriessen. Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern Uns selbst einzurichten, und setzt auf 'Institutionen' keine glänzende Hoffnung. Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das Bestehende von selbst zusammenstürzt, sie ist nur ein Herausarbeiten Meiner aus dem Bestehenden." (EE, S. 354)

Empörung, wie Stirner das Wort an dieser Stelle gebraucht, entspricht weitgehend einer Selbstermächtigung, und zwar einer individuellen, die sich von einer kollektiven – wo sich eine Gruppe zu illegalen Taten ("occupy") oder gar 'der Mensch' etwa zum Herrn über Leben und Tod (künstliche Zeugung, Sterbehilfe) ermächtigt – deutlich unterscheidet. Individuelle Selbstermächtigung als Empörung/Emporkommen meint den Prozess der Entwicklung eines Einzelnen zum "Eigner" im Stirner'schen Sinn. (10) Wenn diese aus "Unzufriedenheit der Menschen mit sich" motivierte Selbstermächtigung nicht gelänge, wäre jede Revolution vergeblich, denn aller historischen Erfahrung nach sei klar, "dass eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben" (EE, S. 231).


(10) Stirner spricht, wenn er ein Individuum meint, vom Einzelnen, Einzigen (u. a. im Buchtitel), Eigenen, Eigentümer, Egoisten (darunter düpierte, unfreiwillige u. a.) und Eigner. Die terminologischen Beziehungen der Wörter zueinander, ihr teilweise synonymer Gebrauch, brauchen hier nicht geklärt zu werden, weil allein der Eigner, dem Stirner gut zweihundert Seiten seines Buchs widmet, hier interessiert. Vgl. dazu Kapitel 4 (Der Eigner) in Laska 1997, S. 40–49, (http://www.lsr-projekt.de/mseigner.html).


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Eine individuelle Selbstermächtigung ist erforderlich, um das im Prozess der Erziehung, Sozialisation, Enkulturation, im Individuum entstandene irrationale Über-Ich soweit wie möglich zu schwächen, damit sich das rationale entwickeln kann. Stirner hielt dies für wünschenswert, weil er eine konsequente Aufklärung bejahte und sah, dass die Bewegung (in ihren damals fortgeschrittensten Repräsentanten Bauer und Feuerbach) schon in der Theorie stagnierte:

"Man hat nicht gemerkt, dass der Mensch den Gott getötet hat, um nun – 'alleiniger Gott in der Höhe' zu werden. Das Jenseits ausser Uns ist allerdings weggefegt, und das grosse Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf." (EE, S. 170)

Stirner beschrieb mit den ihm zur Verfügung stehenden Begriffen dieses "Jenseits in Uns". Ich habe in einem früheren Artikel, "Die Negation des irrationalen Über-Ich bei Max Stirner" (Laska 1991, S. 37–41), ausgeführt, dass Stirner damals erstaunlich treffsicher das erfasst hat, was achtzig Jahre später von Sigmund Freud (Das Ich und das Es, 1923) mit dem prägnanten Namen Über-Ich bezeichnet wurde. Der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke, der auch Historiker der Psychoanalyse ist, ist einer der wenigen Autoren, die Stirner als psychologischen Denker wahrnahmen:

"Im Kern der Freiheitsidee Stirners steckt ein sehr modernes Wissen: Die Individuation ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zum Eingehen neuer, freier Bindungen [...]. Stirner schreibt, als hätte er ein modernes psychoanalytisches Lehrbuch über


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Symbiose, Trennung und Individuation gelesen." (Nitzschke 1991, S. 18)

Das bedeutet aber nicht, dass Stirner und Freud zum Über-Ich die gleiche Meinung hatten, worauf ich später noch kurz eingehen werde.

Wenn ich von einem irrationalen Über-Ich spreche, d. h. von einer psychischen Instanz, die vor der Fähigkeit zur Reflexion im Individuum entsteht, und deren Negation mit dem Vorgang der Stirner'schen Empörung, d. h. einer individuellen Selbstermächtigung, identisch ist, dann stellt sich die Frage, ob Stirner auch über eine psychische Instanz nachgedacht hat, die als rationales Über-Ich bezeichnet werden könnte. Stirner war da eher zurückhaltend, um nicht einer Präskriptivität verdächtigt zu werden, die er an jenen aufklärerischen Zeitgenossen kritisierte, die das 'Gattungswesen' – jenes "Jenseits in Uns" – als Gottesersatz hochhielten. Aber er fürchtete den Verlust des irrationalen Über-Ichs nicht als nihilistisches Ende aller Kultur, Vertierung etc. Im Gegenteil: Individuelle Selbstermächtigung erfüllte ihn mit Optimismus: "Was ein Sklave tun wird, sobald er die Fesseln zerbrochen, das muss man – erwarten." (EE, S. 289)

Stirner erwartete, dass das per individueller Selbstermächtigung zum Eigner gewordene Individuum nun nicht ein Spielball seiner Launen ist, schon gar nicht ein von einer herrschenden Moral abhängiger Antimoralist wie etwa Sade. Dies wird ausgerechnet an dem Satz deutlich, der gelegentlich als sein vermeintlich schrecklichster zitiert wird:


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"Ich aber bin durch Mich berechtigt zu morden, wenn Ich Mir's selbst nicht verbiete, wenn Ich selbst Mich nicht vorm Morde als vor einem 'Unrecht' fürchte." (EE, S. 208)

Ich habe diesen Satz als Motto für diesen Artikel gewählt, weil er im ersten Moment sehr provokativ wirkt, nach einiger Überlegung sich jedoch als banal erweist und dennoch Anlass zum Nachdenken gibt. In erster Linie sagt Stirner hier, dass er, bzw. der Eigner, durchaus in der Lage ist, sich etwas zu verbieten, d. h. den Normen eines Über-Ichs gemäss zu handeln, allerdings eines rationalen, durch eigene Reflexion errichteten. Es liesse sich mit einigem Aufwand zeigen, dass Stirner eine Art dynamisches Modell vor Augen hatte, das mit Quantitäten operiert: Je mehr von dem infolge Enkulturation unvermeidlich vorhandenen irrationalen Über-Ich durch eine prozessual vorgestellte individuelle Selbstermächtigung getilgt, deaktiviert oder zurückgedraNngt wird, desto mehr Wirkungsspielraum entsteht für das rationale Über-Ich.

Da dieser Vorgang, wie allenthalben zu beobachten ist, oft nur mit geringer Effizienz verläuft, ergibt sich für die Erziehungstheorie – zu ihr schrieb Stirner übrigens eine seiner ersten Arbeiten (vgl. Stirner 1842/1986) – das Gebot der Prophylaxe: Minimierung der frühkindlichen Über-Ich-Bildung. Stirner weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die "Hauptingredienz unserer Erziehung", der "moralische Einfluss" (EE, S. 332), einzudämmen sei, denn er bewirke "die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab" (EE, S. 88). Es sei ein grosser Unterschied,


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"ob Mir [als Kind] Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize Ich Mich auf, hege sie in Mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen."

(EE, S. 70).

Die "eingegebenen Gefühle", die "unbewusst Uns beherrschen" (EE, S. 69), das irrationale Über-Ich also, werde als ur-eigenstes Ich missverstanden, "und es hält schwer, die 'heilige Scheu davor' abzulegen" (EE, S. 71).

IV

Stirners Einsichten als psychologischer Denker betrafen in erster Linie die Entstehung und Funktion jener psychischen Instanz, für die Sigmund Freud 1923 den griffigen Namen Über- Ich einführte. Freud äusserte sich jedoch nicht zu Stirner als möglichem Vorgänger; er war von Nietzsche fasziniert, dem er eine unübertroffen tiefe psychologische Selbsterkenntnis attestierte. Obwohl er dies nur aufgrund von Nietzsches Werken sagen konnte, behauptete er, eine Nietzsche-Lektüre vermieden zu haben, um nicht durch sie bei seinen eigenen Forschungen beeinflusst zu sein. Möglicherweise liegt hier bei Freud eine psychisch begründete Fehlleistung und eine sog. Deckerinnerung vor, bei der eine als unangenehm affektreich erlebte Begegnung mit dem Einzigen – die nahe liegt (11) – durch eine erträglichere ersetzt wurde. Ob dies zutrifft oder nicht: Freud war


(11) Für den jungen Freud (1856–1939) war Feuerbach derjenige, "den ich unter allen Philosophen am höchsten verehre und bewundere" (Freud 1989, S. 111). Er konnte deshalb leicht auf dessen öffentliche Kontroverse mit Stirner gestossen sein.


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jedenfalls als Begründer und Haupt der Psychoanalyse, der vielleicht einflussreichsten kulturellen Bewegung des 20. Jahrhunderts, streng darauf bedacht, dass keiner seiner Schüler das Über-Ich in einer Weise problematisierte, wie es Stirner avant la lettre getan hatte. Auch hier lohnt ein kurzer Überblick wegen der Ähnlichkeiten in den Reaktionen auf die erneut aufkeimende Idee.

Der Freud-Schüler S‡ndor Ferenczi (1873–1933) hielt 1908, als seinen Einstand, einen Vortrag vor dem 1. Psychoanalytischen Kongress, in dem er seiner Begeisterung über Freuds Entdeckungen freien Lauf liess. Sie ermöglichten eine "innere Revolution", die "Befreiung von unnötigem inneren Zwang wäre die erste Revolution, die der Menschheit eine wirkliche Erleichterung schüfe". Erziehung und Lebenslauf des Menschen würden "nicht mehr durch diese unappellierbaren und keine Erklärung zulassenden dogmatischen Prinzipien [später Über-Ich genannt] überwacht". Freuds Psychoanalyse führe "zur Befreiung von den die Selbsterkenntnis hindernden Vorurteilen", und "die so befreiten Menschen wären dann imstande, einen radikalen Umsturz in der Pädagogik herbeizuführen und hierdurch der Wiederkehr ähnlicher Zustände für immer vorzubeugen" (Ferenczi 1908/1989, S. 66 & S. 72 f.).

Otto Gross (1877–1920) war einer der ersten psychiatrischen Fachkollegen, die Freuds neue Tiefenpsychologie begeistert begrüssten und sich für sie öffentlich einsetzten. Auch er setzte grosse Erwartungen in die Psychoanalyse:

"Die Psychologie des Unbewussten ist die Philosophie der Revolution, d. h. sie ist berufen, das zu werden als das Ferment der


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Revoltierung innerhalb der Psyche, als die Befreiung der vom eigenen Unbewussten gebundenen Individualität. Sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution." (Gross 1913, Sp. 384)

Gross bezeichnete als "Selbstbefreiung", ganz im Sinne von Stirners "Empörung" [individuelle Selbstermächtigung], die "Annullierung der Erziehungsresultate [irrationales Über-Ich] zugunsten einer individuellen Selbstregulierung [rationales Über-Ich]" (Gross 1908/1980, S. 10).

Freud verstand es, die revolutionären Gedanken dieser beiden treuen Schüler umgehend aus der Psychoanalyse zu verbannen. Ferenczi wurde Freuds enger Freund und Lieblingsschüler und widmete sich fortan nicht mehr jenen Problemen. Gross geriet in immer grössere persönliche Schwierigkeiten, was es Freud ermöglichte, ihn aus der Bewegung zu drängen und aus den Annalen der Psychoanalyse zu tilgen. (12) Die exemplarische Ausschaltung dieser beiden Analytiker war ein wegweisendes Signal. Bei Freud selbst blieb die Theorie des Über-Ichs unklar und widersprüchlich. Rückblickend schrieb Eberenz, dass "die Psychologie des Über-Ichs in der Folge weit weniger systematisch erarbeitet wurde als die Ich-Psychologie oder die Triebpsychologie, was zu einem relativ willkürlichen Gebrauch des Über- Ich-Begriffes führte", weiter, "dass das Konzept des Über-Ichs als Forschungsgegenstand kaum noch auftaucht" (Eberenz 1983, S. 56).

Dasselbe konstatiert auch der prominente Psychoanalytiker Léon Wurmser (2004) in einem neueren Beitrag.


(12) Für Details zu den Fällen Ferenczi und Gross vgl. Laska (2003).


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Es gab jedoch noch ein Intermezzo, ein kurzes Aufleben der Idee und ein erneutes Abdrängen. Als die enge Beziehung zwischen Freud und Ferenczi sich Ende der 1920er Jahre auflöste, konnten bei Ferenczi seine lange verdrängten radikalen Ideen wieder ins Bewusstsein treten. Eine wirkliche Psychoanalyse, schrieb er nun, habe "mit jeder Art von Über-Ich, also auch mit dem des Analytikers, aufzuräumen. [...] Nur diese Art Abbau des Über-Ichs überhaupt kann eine radikale Heilung herbeiführen" (Ferenczi 1938, S. 394). Doch die Radikalität, die Ferenczi 1908 beseelt hatte, war verflogen:

"Solange dieses ['unbewusste'; hier: irrationale] Über-Ich in gemässigter Weise dafür sorgt, dass man sich als gesitteter Bürger fühlt und als solcher handelt, ist es eine nützliche Einrichtung." (ebd., S. 435)

Hier hakte in den 1960er Jahren Adorno kritisch ein: "In ihren heroischen Zeiten hat die Freudsche Schule [...] die rücksichtslose Kritik des Über-Ichs als eines Ichfremden, wahrhaft Heteronomen, gefordert." Welche heroischen Zeiten konnte er meinen? Gross und den frühen Ferenczi kannte er nicht. Jedenfalls kritisiert er den späten Ferenczi wegen seiner "Scheu vor den gesellschaftlichen Konsequenzen", seiner Bremsung der Kritik des Über-Ichs "aus sozialem Konformismus". Daraufhin geriert Adorno sich ultraradikal: "Das Gewissen [das Über-Ich] ist das Schandmal der unfreien Gesellschaft." Er unterscheidet aber nicht zwischen irrationalem und rationalem Über-Ich, sondern meint undifferenziert: "Wäre ein Zustand allseitiger rationaler Aktualität vorstellbar, so etablierte sich kein Über-Ich." (Adorno 1966, S. 269-272) Diese Passage in Adornos Negative


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Dialektik ist so furios wie konfus, erscheint vor allem als nachträglich eingeschoben zwischen Ausführungen zu Kant und Heidegger. Was die heroischen Zeiten der Psychoanalyse angeht, bleibt sie änigmatisch.

Die Verworrenheit dieses Einschubs in die Negative Dialektik lässt sich mit etwas Hintergrundwissen spekulativ deuten. Während der Niederschrift des Buches Anfang der 1960er Jahre wurde Adorno durch Hans G. Helms mit Stirners Einzigem konfrontiert.

Helms war eine Art Privatschüler über mehrere Jahre. Er wurde von Adorno eingeladen, ein einwöchiges Privatseminar über Max Stirner abzuhalten; seine Hörer waren u. a. Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Gerhard Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann – und eine Frau: Gretel Adorno. (Platzdasch 2003)

Helms überlieferte dazu nichts, nur den folgenden Kommentar Adornos zu Stirner: der habe "den Hasen aus dem Sack gelassen" (Helms 1966, S. 200). An die Stelle des Einschubs, an der es um Kants Sicht des Gewissens als Stimme des Sittengesetzes geht, hätte Stirners "Hase" hingehört. Aber der scheint ein 'Schulgeheimnis', ein Arcanum zu sein, über das man nicht offen spricht. Statt also, was ihm zu dieser Zeit naheliegt, Stirners Kritik des Über-Ichs gegen Kants Sicht zu setzen, zieht Adorno abrupt die des späten Ferenczi heran, kritisiert diese als konformistisch und beschwört eine heroische Zeit der Psychoanalyse, in der das Über-Ich rücksichtslos kritisiert worden sei, und "darin eines Sinnes mit dem anderen, aufklärerischen Kant" (Adorno 1966, S. 269). Der Einschub enthält, wohl aufgrund des Eiertanzes um jenen "Hasen", zahlreiche Fehlleistun-


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gen. Die wichtigste: eine im gemeinten Sinn heroische Psychoanalyse gab es nie. Im Gegenteil: wie gesagt, wurde radikale Über-Ich-Kritik von Freud persönlich im Keim erstickt. Woran erinnert sich Adorno also? Vermutlich an einen bestimmten Psychoanalytiker, der 'heroisch' genug war, um Freud in dieser zentralen Frage Paroli zu bieten. Adorno nennt auch dessen Namen nicht, hat aber sein Schicksal aus der Ferne verfolgt. Es war Wilhelm Reich.

Auf den verwickelten "Fall" Wilhelm Reich (Fallend/Nitzschke 1997) kann ich hier nicht näher eingehen, möchte aber drei 'Eckpunkte' für den hier behandelten Zusammenhang hervorheben:

1) Wilhelm Reich (1897–1957) war der einzige Psychoanalytiker, der sich von Stirner positiv beeinflussen liess. Als junger Mann, 1921, notierte er in sein Tagebuch: "Max Stirner, der Gott, der 1844 sah, was wir 1921 nicht sehen." Das bezog sich noch nicht auf Freud und die Psychoanalyse, war aber ein Bekenntnis, "auf dem Stirnerschen Standpunkt" (Reich 1994, S. 191 & S. 139) zu stehen.

2) Reich galt als einer der profiliertesten Schüler Freuds, als dieser beschloss, ihn aus den psychoanalytischen Organisationen ausschliessen zu lassen. Dies wurde 1933/34 mittels Geheimverfahren durchgeführt; eine Begründung wurde nicht gegeben; offiziell wurde der Ausschluss als Austritt deklariert und – das Erstaunlichste – dies alles wurde von den Analytikern stillschweigend akzeptiert. Ende der 1980er Jahre begannen Bemühungen um eine 'Rehabilitation' Reichs, wobei man vorwiegend politische Gründe für den Ausschluss unterstellte. (vgl.


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Fallend/Nitzschke 1997 & neuerdings: Peglau 2013) Freud selbst aber nannte, in einem Brief, ausdrücklich wissenschaftliche.

3) Diese wissenschaftlichen Gründe hat Freud nie bekanntgegeben. Zu erschliessen ist, dass es sich um einen fundamentalen anthropologischen Gegensatz handelt, der auch in Adornos zitierter Passage undeutlich und nur implizit aufscheint. Um nicht in einen technischen Jargon zu verfallen, lässt sich, auf das Einfachste heruntergebrochen, sagen: Reich unterschied zwischen 'Moral', deren Quelle das rationale Über-Ich ist und 'Zwangsmoral', deren Quelle das irrationale Über-Ich ist. Freud machte diese Unterscheidung nicht und lehnte die ZurückdraNngung des Über-Ichs generell ab. Er, ebenso wie die Gegner Stirners, verband damit den Tod aller Kultur. Stirner und Reich hingegen meinten, je schwächer das irrationale Über-Ich ist, desto bestimmender kann das rationale wirken. Dies sei die anthropologische Basis einer zukünftigen aufgeklärten Kultur.

V

Gegen einen Artikel, der das rationale Über-Ich bei Max Stirner thematisiert, liegen die Einwände auf der Hand: Den Begriff Über-Ich habe es für Stirner noch gar nicht gegeben; er sei auch später nie wissenschaftlich etabliert worden; er sei ausserdem längst schon wieder obsolet; Rationalität passe überhaupt nicht in den Zusammenhang; es handele sich ohnehin um eine contradictio in adiecto; usw. usf. Solchen Einwänden ist kaum zu begegnen. Aber man kann sie ignorieren. Das habe ich getrost


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getan. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass der Gedankengang dieses Artikels nachvollziehbar und seine Intention deutlich geworden ist. Vermutlich ist dafür jedoch ein gehöriges Mass an Skepsis, vielleicht sogar 'ein grosser Verdacht', gegenüber dem bisherigen Verlauf des mit grossen Hoffnungen verbundenen Projekts der Moderne, der europäischen Aufklärung, erforderlich; dazu das sichere Empfinden, die Aufklärung sei auf schwer fassbare Weise schleichend in die gegenwärtige Situation übergegangen, wo man sie längst hinter sich zu haben meint; in eine ideengeschichtliche Sackgasse, eine Art "end of history".

Stirner hatte als Fortsetzung der Aufklärung, nachdem sie "Gott getötet" hatte, wie eingangs zitiert, zu "erneutem Himmelsstürmen" (EE, S. 77) aufgerufen. Er bezeichnete sein Werk als dessen "Anfang, wenn auch noch ein sehr unbeholfener" (Stirner 1845/1986, S. 170). Er rechnete nicht damit, dass dieser Anfang nicht weitergeführt würde, sondern, im Gegenteil, Reaktionen provozierte, die ich oben als 'unbewusste Selbstsabotage' der Aufklärung interpretiert habe. Offenbar war ihm, wie allerdings wohl den meisten seiner Zeitgenossen, nicht bekannt, dass sich etwa ein Jahrhundert zuvor ein sehr ähnlicher Vorgang abgespielt hatte. Julien Offray de La Mettrie (1709– 1751) hatte in seinem Discours sur le bonheur die unheilvollen Folgen der Implantation des irrationalen Über-Ichs herausgestellt und ist deshalb von nachfolgenden Denkern, vor allem von Rousseau und Diderot, auf ähnlich klandestine Weise wie später Stirner von Marx und Nietzsche zur ideengeschichtlichen Unperson gemacht worden (vgl. Laska 2012). Man kann nicht von einem roten Faden sprechen, der sich durch die Ge-


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schichte der neueren Aufklärung zieht, zutreffend aber von drei Stationen, jeweils durch rund hundert Jahre getrennt, an denen konsequentes, aufklärerisches Denken abgebogen, verschüttet, verdrängt worden ist, Weichen gestellt, die den Hauptstrom des Denkens dahin lenkten, wo wir heute stehen. Aktiv waren dabei vorwiegend Denker, die als Aufklärer prominent waren oder wurden. Ihren Kampf führten sie mit Methoden, die sie sonst anprangerten. Movens war der horror nihili, der sie aufgrund der Über-Ich-Kritik, des Aufrufs zur individuellen Selbstermächtigung erfasste. Für sie stand die kulturelle Existenz des Menschen auf dem Spiel. (13)

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(13) Das klingt, ist aber nicht übertrieben. Vgl. oben Kolakowskis und Joëls Worte. Oft freilich ist dieses Verständnis der Konsequenz aus Stirner eher implizit und zwischen den Zeilen erkennbar, manchmal durch ein "bemerkenswertes Verschweigen" (Nietzsche lt. Safranski 2000, S. 123), manchmal aber auch explizit: "[...] führte der Stirner'sche Egoismus, würde er praktisch, in die Selbstvernichtung des Menschengeschlechts" (Holz 1976, S. 22).


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  • Stulpe, A. (2010): Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität. Berlin: Duncker & Humblot.
  • Wurmser, L. (2004): Superego revisited - Relevant or Irrelevant? In: Psychoanalytic Inquiry, 24, 2(2004), pp. 183–205.

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