Ein Service von Max Stirner im LSR-Projekt


Der folgende Text erschien zuerst als Broschüre:
Moses Hess: Die letzten Philosophen. Darmstadt: C. W. Leske [Juni] 1845, IV+28 S.
Er wurde zuletzt nachgedruckt in: Kurt W. Fleming (Hg.): Recensenten Stirners. Kritik und Anti-Kritik. Leipzig: Verlag Max-Stirner-Archiv 2003, S. 27-43
Die digitalisierte Fassung wurde zur Verfügung gestellt von Kurt W. Fleming, Max-Stirner-Archiv Leipzig.
Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten, g e s p e r r t e  Worte wurden kursiv wiedergegeben.


Moses Hess

Die letzten Philosophen


[Vorwort]

[III]

Wer nicht bereits die geschichtliche Entwickelung des Christenthums und der deutschen Philosophie hinter sich hat, könnte meinen, die in jüngster Zeit von den deutschen Philosophen veröffentlichten Schriften seien auf Anstiften der Reaction herausgegeben. — Gelang es mir doch kaum, diese Ansicht einem Manne, der früher selbst an der Spitze der Junghegelianer stand, in Bezug auf Bruno Bauer auszureden. Und doch waren damals die Bauer'schen Schriften noch weit von der "Consequenz" seiner spätern entfernt, geschweige denn, daß sie den Cynismus der neulich von Stirner herausgegebenen Schrift erreicht hätten. *) Trotz alle dem ist es dennoch wahr, daß weder Bruno Bauer, noch Stirner sich jemals irgend wie von Außen bestimmen ließen. Vielmehr ist es gerade die innere, vom

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*) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig: O. Wigand 1845 [erschien bereits im Okt. 1844]; hier werden Zitate aus diesem Buch nach der Reclam-Ausgabe von 1972ff wie folgt angegeben [EE Seite]

[IV]

Leben abgezogene Entwickelung dieser Philosophen, welche in diesen "Unsinn" auslaufen mußte. — So gerade und nicht anders mußten die letzten Nachkommen der christlichen Asceten ihren Abschied von der Welt nehmen!

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I.

Es fällt keinem Menschen zu behaupten ein, daß der Astronom das Sonnensystem sei, welches er erkannt hat. Der einzelne Mensch aber, der die Natur und Geschichte erkannt hat, soll, nach unsern letzten deutschen Philosophen, die "Gattung", das "All" sein. Jeder Mensch, heißt es in der Buhl'schen Monatsschrift, *) ist der Staat, die Menschheit. Jeder Mensch ist die Gattung, das Ganze, die Menschheit, das All, schrieb vor Kurzem der Philosoph Julius. **) "Wie der Einzelne die ganze Natur, so ist er auch die ganze Gattung", sagt Stirner. [EE 201f]

Seit der Entstehung des Christenthums arbeitet man daran, den Unterschied zwischen dem Vater und Sohn, Göttlichen und Menschlichen, d.h. zwischen dem "Gattungsmenschen" und dem "leibhaftigen" Menschen aufzuheben. So wenig aber, wie dies dem Protestantismus durch Aufhebung der sichtbaren Kirche gelang da er die unsichtbare Kirche, den Himmel, und den unsichtbaren Priester, Christus, bestehen und ein neues Pfaffenthum entstehen lassen mußte eben so wenig gelang es den letzten Philosophen, welche auch diese unsichtbare Kirche aufhoben, aber an die Stelle

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*) Ludwig Buhl: Offenes Bekenntniß. In: Berliner Monatsschrift, hg. von Ludwig Buhl, [erstes und einziges Heft, "Juli 1843"], Mannheim 1844, S. 10
**) Gustav Julius: Tugend und Gottseligkeit. In: Wigand's Vierteljahrsschrift, Leipzig, Bd. 2, 1844, S. 253

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des Himmels den "absoluten Geist", das "Selbstbewußtsein" und das "Gattungswesen" setzten. Alle diese Versuche, den Unterschied zwischen den einzelnen Menschen und der Menschengattung theoretisch aufzuheben, mißlangen deshalb, weil der einzelne Mensch, wenn er auch Welt und Menschheit, Natur und Geschichte erkennt, in der Wirklichkeit doch nur vereinzelter Mensch ist und bleibt, so lange die Vereinzelung der Menschen nicht praktisch aufgehoben wird. Praktisch wird die Trennung der Menschen aber nur aufgehoben durch den Socialismus, dadurch nämlich, daß sie sich vereinigen, in Gemeinschaft leben und wirken und den Privaterwerb aufgeben. So lange sie im wirklichen, d. h. im gesellschaftlichen Leben, getrennt, so lange der Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Menschheit nur theoretisch, im "Bewußtsein" aufgehoben wird, bleiben nicht nur die Menschen im wirklichen Leben von einander getrennt, sondern auch der einzelne Mensch bleibt in seinem "Bewußtsein" getheilt. Er muß sich anders fühlen und denken, als er in der Wirklichkeit, im Leben ist. Die Sehnsucht, als isolirte Individuen so zu werden, wie wir uns fühlen, vorstellen und denken, hat alle die Illusionen hervorgebracht, welche seit der Entstehung des Christenthums bis heute unsere Köpfe einnahmen. Anstatt es uns ehrlich einzugestehen, daß wir vereinzelt Nichts, daß wir nur Etwas werden durch die gesellschaftliche Vereinigung mit unsern Nebenmenschen, haben wir uns über unser Elend hinaussetzen, hinwegschwindeln wollen, haben wir uns innerhalb der gesellschaftlichen Vereinzelung durch eine bloß theoretische Erkenntniß deificiren, humanisiren, vermenschlichen zu können geglaubt. Wir glaubten eben durch bloßes Erkennen, durch philosophisches

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Begreifen, oder religiöses Empfinden, liebende, sittliche, göttliche, tugendhafte, fromme, selige Wesen zu werden je nachdem wir uns unsre Natur religiös vorstellten oder philosophisch dachten obgleich wir doch im wirklichen Leben lieblose, gottlose, elende, unselige, getrennte, vereinzelte Egoisten oder Unmenschen blieben.

Der Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis, Göttlichem und Menschlichem, oder wie man ihn auch sonst noch nennen mag, dieser christliche Dualismus geht durch die ganze christliche Zeit hindurch, und die modernen, philosophischen, atheistischen Christen sind ihm ebenso unterworfen, wie die alten, gläubigen Christen. Die Geschichte des modernen Christenthums hatte denselben Verlauf, wie die des alten. Das alte Christenthum mußte, weil es eben nur eine Lehre, eine Theorie war, einen Lehrerstand, Priesterstand, eine Kirche einsetzen, und diese Kirche, einmal ins Leben getreten, mußte entarten, d.h. das Gegentheil dessen werden, wozu sie eingesetzt worden ist. Entstanden, um den Zwiespalt zwischen Göttlichem und Menschlichem, Theorie und Praxis, aufzuheben, um die Welt zu heiligen, zu deificiren, um die Kluft zwischen dem Einzelnen und der Gattung, die Feindschaft zwischen den Menschen auszugleichen, trat dieser Zwiespalt jetzt erst in seiner ganzen Schärfe hervor dem Pfaffenthum gegenüber erhob sich die mittelalterliche Feudalität und Leibeigenschaft: der praktische Egoismus der Welt gegenüber dem theoretischen der Religion und der Kirche selbst hatten wir es zu verdanken, daß das ursprünglich in der Theorie pantheistische Christenthum einen so schroffen Gegensatz zwischen Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Geist und Leib, im Bewußtsein der Menschen

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erzeugte. Im Verlaufe der Kirchengeschichte hat das Christenthum sich aber reformirt und seinen ursprünglichen Gedanken wiederhergestellt; es kehrte zu seinem Ursprunge zurück, wurde protestantisch, rationalistisch, philosophisch, atheistisch aber es blieb der Hauptsache nach, was es war, ein Ausdruck des Zwiespalts zwischen Theorie und Praxis, und auch die modernen Christen mußten, wie die alten, einen Lehrerstand, Priesterstand, ein philosophischesPfaffenthum einsetzen, weil sie eben dabei stehen blieben, das Menschliche nur theoretisch aufzunehmen und zu lehren. Das moderne Christenthum, diese neue Religion, mußte dasselbe Schicksal, wie die alte Religion haben; es mußte, einmal ins Leben getreten, entarten und in sein Gegentheil umschlagen.

[Die moderne christliche Kirche ist der christliche Staat. Wir meinen damit nicht jenes zwitterhafte Wesen, das nicht von der alten Kirche loskommen kann und zwischen ihr und dem Staate in der Mitte steht, nicht jenes Phantasiegebilde unsrer Romantiker, welches zwischen dem mittelalterlichen Himmel und dessen irdischer Verwirklichung in der Luft schwebt, kurz, nicht den "christlich-germanischen", sondern den modernen, den "freien" Staat, wie er in Frankreich, England und Nordamerika wirklich, für uns Deutsche aber als Ideal existirt. Dieser Staat ist die moderne Kirche, wie die Philosophie die moderne Religion. Dieser Staat ist selbst nur die Existenzform der Philosophie, wie die Kirche nur die Existenzform der Religion war. Aber auch er, der "freie Staat", der entstanden ist, um den Zwiespalt der mittelalterlichen Welt wieder auszugleichen, auch er hat nur einen neuen und schärfern Gegensatz zwi-

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schen Theorie und Praxis ins Leben gerufen, denn er hat nur an die Stelle des alten Himmels und der alten Erde einen neuen Himmel und eine neue Erde gesetzt, hat nur das Christenthum zu seiner Vollendung gebracht.

Der Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis war durch die mittelalterliche Kirche, durch das mittelalterliche Leben noch nicht principiell und allgemein durchgeführt. Wie im damaligen Bewußtsein das göttliche Jenseits und gottlose Diesseits, so bewegten sich auch im damaligen Leben Pfaffenthum und Laienthum, Ritterthum und Leibeigenschaft noch aus- und nebeneinander. Eines schloß das Andere aus. Der Laie konnte nicht zugleich Pfaffe, der Leibeigene nicht zugleich Herr sein, wie die Erde nicht zugleich Himmel, wie der Leib nicht zugleich Geist, wie der Mensch nicht zugleich Gott, wie der Einzelne nicht zugleich Gattungsmensch. Das war unchristlich; denn das Christenthum, dieser theoretische Pantheismus, will ja die Zweiheit in der Einheit; der Gott-Mensch in Einer Person ist ja das christliche Ideal. Man versuchte es also, innerhalb des Christenthums, d.h. theoretisch, noch einmal, diese Hexerei zu Stande zu bringen, im wirklichen Leben die Vereinzelung der Menschen fortbestehen zu lassen und diese einzelnen Menschen zu deificiren, zu humanisiren, zu Gattungsmenschen zu erheben, also die Trennung und Vereinzelung zu sanctioniren, wie im Himmel, so auf Erden.

Und sieh da! die Hexerei gelang vollständig. Die seligen Geister des christlichen Himmels wandeln auf Erden; es sind die "freien Staatsbürger!" Der Himmel ist nicht mehr jenseits, sondern diesseits; es ist der "Staat".

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Sind die Staatsbürger die wirklichen Menschen? Nein, es sind nur die Geister der wirklichen Menschen. Die Leiber dieser Geister sind in der bürgerlichen Gesellschaft.

Der leiblose Idealismus des christlichen Himmels ist vom Himmel auf die Erde gekommen, Staat geworden. Aber neben ihm existirt auch noch der geistlose Materialismus der christlichen Welt; er existirt in der bürgerlichen Gesellschaft. Der moderne Staat hat den Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gattung wieder nur verschärft, ja, er hat ihn erst zu seiner Vollendung gebracht!

Je härter, durchgreifender und allgemeiner aber jetzt der Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gattung ist, je mehr Menschen und je gewaltiger alle Menschen von diesem Widerspruch ergriffen werden, desto rascher ist sein geschichtlicher Verlauf, desto größer wird die Sehnsucht nach einer bessern Wirklichkeit, die, da sie nicht mehr im Jenseits gesucht wird, im gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben erstrebt werden muß. Die Versuche, unsere Gesellschaft zu reformiren, werden so lange wiederholt, bis sie dem innern Bewußtsein entsprechen, welches wir von unserm Leben haben. In dieser reformatorischen oder revolutionären Zeit leben wir jetzt.

Deutschland aber hat es, wie gesagt und wie bekannt, in der Wirklichkeit nicht zum modernen freien Staate gebracht. Wenn aber diese moderne Kirche bei uns nicht praktisch geworden ist, so brachten wir es dagegen nach allen Beziehungen zu ihrer theoretischen Wirklichkeit. Die letzten deutschen Philosophen haben sich nur deshalb entzweit, weil der Eine das Staatsprincip ohne bürgerliche Gesell-

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schaft, der Andere das Princip der bürgerlichen Gesellschaft ohne Staat consequent und der Dritte endlich das Ganze, also den Widerspruch zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft principiell vertritt.

Die Feuerbach'sche "Philosophie der Zukunft" ist nichts, als eine Philosophie der Gegenwart, aber einer Gegenwart, die dem Deutschen noch als Zukunft, als Ideal erscheint. Was in England, Frankreich, Nordamerika und anderwärts gegenwärtige Wirklichkeit ist, der moderne Staat mit der ihm gegenüber stehenden, ihn ergänzenden bürgerlichen Gesellschaft, das wird in den »Grundsätzen zur Philosophie der Zukunft« *) philosophisch, theoretisch ausgesprochen. Feuerbach spricht es z.B. aus, daß die Philosophie als solche überwunden, negirt, verwirklicht werden müsse. Aber wie? Über das Wie ist er, wie der moderne Staat, mit sich selbst im Widerspruche. Einmal versteht er unter dem "wirklichen" Menschen den vereinzelten Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, unter der "Wirklichkeit" die "schlechte Wirklichkeit", mit ihrem Rechte, mit ihrer Ehe, mit ihrem Eigenthum einmal huldigt er dem bornirten Individualismus, dem praktischen Egoismus ein anderes Mal anticipirt er dagegen den Gesellschaftsmenschen, den "Gattungsmenschen", das "Wesen des Menschen" und nimmt an, daß dieses Wesen im einzelnen Menschen, der es eben erkennt, steckte was philosophischer Schwindel und moderne Staatsweisheit ist, da der Gattungsmensch doch nur wirklich ist in einer Gesellschaft, in welcher alle Menschen sich ausbilden und auswirken oder sich bethätigen können. Dieser Widerspruch wird nur vom Socialismus gelöst, der mit der Verwirklichung und Negation der Philo-

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*) Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. Zürich und Winterthur: Literarisches Comptoir 1843

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sophie Ernst macht, der die Philosophie, wie den Staat bei Seite liegen läßt keine philosophischen Bücher über die Negation der Philosophie schreibt und es nicht bloß ausspricht, daß, sondern wie die Philosophie als bloße Lehre zu negiren und im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen. Es sind uns aber auch noch aus der philosophischen Schule consequente Theoretiker, d.h. rein theoretische Egoisten überkommen, die auf der äußersten Spitze theoretischer Weisheit "einsam" stehen und mit Verachtung von ihrem Himmel herabschauen auf das niedere Treiben der praktischen Egoisten, der schlechten "Masse". Auf dieser Spitze steht z.B. Bruno Bauer, einsam, wie er sagt, ein moderner Säulenheiliger. Ihm gegenüber erhob sich in neuester Zeit ein Anderer, der gerade umgekehrt die "Masse", die "schlechte Wirklichkeit", den praktischen Egoismus vertheidigt. Das ist Stirner, der "Einzige"; ihn wollen wir jetzt ganz speziell vornehmen.

Man sieht es den beiden letztgenannten Philosophen schon auf den ersten Blick an, daß sie nur die beiden Seiten des auseinander gerissenen Menschen sind. Der "Einsame" und der "Einzige" haben sich gegenseitig, wie Staat und bürgerliche Gesellschaft, zur Voraussetzung, und wir müssen, um den "Einzigen" zu beleuchten, den "Einsamen", wenn auch nur beiläufig hinzuziehen.

Der Religion ist es schon längst von der Philosophie selbst nachgewiesen worden, daß in ihrem Hintergrunde der krasseste Egoismus schlummere. Was ist aber der philosophische Humanismus anders, als krasser Privategoismus? Ist der consequente Philosoph, wie er in Bruno Bauer erscheint, nicht der selbstgenügsame Egoist, der Einsame, der in sei-

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nem Selbstbewußtsein selig und allmächtig ist? Hat er nicht die ganze Natur und die ganze Gattung verschlungen, verzehrt, aufgelöst und verdaut? Kann er nicht so gut, wie der fromme Christ, der sein Abendmahl eingenommen hat, getrost aus der schlechten, verworfenen Welt scheiden? Hat er in der Welt etwas Anderes zu thun, als die Welt verachten zu lernen? Leset Bruno Bauer! Die Verachtung der Welt der "Masse" ist noch von keinem Kirchenvater und keinem Staatsmanne cynischer ausgesprochen worden, als von ihm, dem letzten Philosophen. Sehr natürlich! Ist doch die "Kritik" nichts Anderes, als die hohe Staatspolizei, welche den Pöbel im Zaume hält, und was hätte diese Behörde zu thun, wenn es kein gemeines, niederträchtiges, schlechtes Gesindel gäbe? Ist aber der philosophische Humanismus derselbe theoretische Egoismus, wie der religiöse Humanismus, wie sollte er nicht auch denselben praktischen Egoismus im Hintergrunde haben? Sowie der Religiöse dahinter kommt, daß es mit seinem himmlischen Egoismus, mit seiner Seligkeit, Nichts sei, wird er zunächst ein Thier, verfällt er zunächst ganz in den irdischen Egoismus und erstrebt statt seines entäußerten theoretischen Wesens, statt Gottes und der himmlischen Seligkeit, sein entäußertes praktisches Wesen, Geld und Glück. Ebenso verfällt der Philosoph, sowie er dahinter kommt, daß es auch mit dem "Geiste" Nichts ist, daß er einem "eingebildeten Wesen", welches ihm zu gar nichts nutze war, gedient hatte, zunächst in den praktischen Egoismus und verwirft mit der transcendenten Humanität auch alle wirkliche Humanität.

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II.

Nach Stirner bestand der ganze Fehler der bisherigen Egoisten nur darin, daß sie kein Bewußtsein von ihrem Egoismus hatten, daß sie nicht aus Princip Egoisten waren, sondern immer der Humanität zu huldigen heuchelten daß der Krieg Aller gegen Alle, selbst in der freien Concurrenz, nicht consequent durchgeführt worden.

"Greife zu und nimm, was du brauchst! Damit ist der Krieg Aller gegen Alle erklärt. Ich allein bestimme darüber, was Ich haben will. 'Nun das ist wahrlich keine neue Weisheit; denn so haben's die Selbstsüchtigen zu allen Zeiten gemacht.' Ist auch gar nicht nöthig, daß die Sache neu sei, wenn nur das Bewußtsein darüber vorhanden ist. [ ... ] Wissen soll man's eben, daß jenes Verfahren des Zugreifens nicht verächtlich sei... Erst wenn Ich weder von Einzelnen, noch von einer Gesammtheit erwarte, was Ich Mir selbst geben kann, erst dann entschlüpfe ich den Stricken der — Liebe... [ ... ] Nur daß das Zugreifen Sünde, Verbrechen ist, nur diese Satzung schafft einen Pöbel, und daß dieser bleibt, was er ist, daran ist sowohl er schuld, weil er jene Satzung gelten läßt, als besonders diejenigen, welche 'selbstsüchtig' (um ihnen das beliebte Wort zurückzugeben) fordern, daß sie respectirt werde. Kurz der Mangel an Bewußtsein über jene 'neue Weisheit', das alte Sündenbewußtsein trägt allein die Schuld." [EE 286f]

Also das "Bewußtsein" ist das Einzige, was noch fehlt, um uns zu vollständigen Egoisten zu machen und folglich den "Pöbel aufzuheben".

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Nicht die gegenseitige Entfremdung der Menschen, sondern der theoretische Ausdruck dieser Entfremdung: Religion und Philosophie nicht der Krieg Aller gegen Alle, hervorgegangen aus der Vereinzelung und Entzweiung der Menschen im Leben, sondern das sie begleitende böse Gewissen nicht das Verbrechen nach Oben und das Verbrechen nach Unten, kurz, nicht der Egoismus hat den Pöbel und seine Zwingherren zur Welt gebracht, sagt Stirner, sondern das "Sündenbewußtsein", welches dazu kam, trägt allein die Schuld!

Wenn du ein Bein gebrochen hast, und der Bruch verursacht dir Schmerzen, und der Wundarzt legt einen Verband um den Bruch, so ist, nach unseren Philosophen, nicht der Bruch, sondern die schmerzliche Empfindung des Bruchs und der Verband die Ursache deines Übels!

Weil du krank bist, wenn du den Arzt brauchst, darum schicke nur den Arzt fort, wenn du wieder gesund werden willst!

Das ist die Logik der "neuen Weisheit". Wie verhält es sich im Übrigen mit ihr?

Nicht unmittelbar, klagt Stirner, "nur durch die Sache, kann Einer den Andern verkürzen, der Reiche z.B. den Armen, den Unbemittelten durch das Geld". [EE 119] Stirner hätte nichts an der bestehenden Ausbeutung des Einen durch den Andern zu tadeln, wenn diese gegenseitige Ausbeutung eine unmittelbare, persönliche wäre. Stirner ist nicht deshalb gegen die freie Concurrenz, weil sie Raubmord, sondern nur deshalb, weil sie kein unmittelbarer Raubmord ist.

Ist aber vermittelter Raubmord etwas Anderes, als bewußter Raubmord; und hat Stirner nicht soeben erst

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darüber geklagt, daß unsern Egoisten das egoistische Bewußtsein fehle? Stirner hat nichts gegen den bestehenden praktischen Egoismus einzuwenden, als daß ihm das "Bewußtsein" des Egoismus fehle. Es wird sich zeigen, daß nicht dem bestehenden Egoismus, sondern ihm, dem eingebildeten Egoisten, das Bewußtsein des Egoismus fehlt.

Was ist zunächst der Egoismus überhaupt, und worin besteht der Unterschied zwischen dem egoistischen Leben und dem Leben in der Liebe?

Lieben, schaffen, arbeiten, produziren, ist unmittelbarer Genuß; ich kann nicht lieben, ohne zugleich zu leben, wohl zu leben ich kann nicht produziren, ohne zugleich zu consumiren, zu genießen. Auch der Egoist will genießen! Wodurch unterscheidet sich also der Egoismus von der Liebe? Dadurch, daß der Egoist das Leben ohne Liebe, Genuß ohne Arbeit, Consumtion ohne Production, daß er immer nur zu sich nehmen und nimmer von sich geben, d.h. niemals sich hingeben will. Als Egoist kann er's aber auch nicht; er hat keinen Inhalt und muß stets fremden Inhalt zu erhaschen streben, weil er als Egoist sich selber fremd gegenüber steht. Er kann nicht schaffen, weil er keinen Inhalt hat. Er muß stets nach Genuß jagen, weil er niemals zu "des Lebens Vollgenuß" kommt, und er kommt nicht dazu, weil er nicht schaffen kann.

"Du schaffst und liebst also doch auch nur um des Genusses halber?"

Nein, du altkluges Kind, ich schaffe und liebe keineswegs, um zu genießen, sondern liebe aus Liebe, schaffe aus Schöpferlust, aus Lebenstrieb, aus unmittelbarem Natur-

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trieb. Wenn ich liebe, um zu genießen, dann liebe ich nicht nur nicht, dann genieße ich auch nicht wie wenn ich arbeite, thätig bin, um etwas zu erwerben, ich nicht nur nicht frei thätig bin, nicht nur keine Lust und Liebe zur Arbeit habe, sondern mir in der That auch nichts erwerbe: ich zehre in dieser "Arbeit", in dieser "Erwerbsthätigkeit" nur mich selber auf.

Das egoistische Leben ist das mit sich zerfallene, sich selbst verzehrende Leben der Thierwelt. Die Thierwelt ist eben die Naturgeschichte des mit sich zerfallenen, sich selber zerstörenden Lebens überhaupt, und unsere ganze bisherige Geschichte ist nichts als die Geschichte der socialen Thierwelt.

Wodurch unterscheidet sich aber die sociale Thierwelt von der Thierwelt im vWalde? Durch nichts, als ihr Bewußtsein. Die Geschichte der socialen Thierwelt ist eben die Geschichte des Bewußtseins der Thierwelt, und ist die letzte Spitze der natürlichen Thierwelt das Raubthier, so ist der Höhepunkt der socialen Thierwelt eben das bewußte Raubthier.

Die civilisirte Barberei fängt gerade da an, wo die uncivilisirte Wildheit aufhört. Der Wilde ist noch das Raubthier, dem sein entfremdetes Leben nur "unmittelbar" "persönlich", d.h. als natürliches oder leibliches gegenüber steht, wogegen schon dem Barbaren sein geistiges Leben nicht minder, als sein leibliches, sein sichtbares Ich (leibhaftiges Individuum) fremd gegenüber steht.

Der bewußte Egoismus hat ebenso seine Entwickelungsgeschichte, wie der unbewußte Egoismus.

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Wie in der Naturgeschichte, so mußte es auch in der Geschichte der Menschheit zur Thierwelt, zum Auseinanderfallen der Gattung in feindliche Individuen, Familien, Stämme, Völker, Racen kommen; denn dieses Auseinanderfallen, diese Entfremdung ist die erste Existenzform der Gattung. Um zur Existenz zu kommen, muß die Gattung sich individualisiren. Durch den Gegensatz und Kampf der Individuen erwachte das erste Bewußtsein in der Menschheit. Das erste Bewußtsein ist das egoistische. Der Mensch konnte nicht anfangen, Ich zu sagen, ohne sich sein Du, sein alter ego, seine Nebenmenschen und die Natur, als eine ihm fremde und unter Umständen feindliche Macht anzuschauen. Mit dem ersten in der Menschheit erwachten Bewußtsein war die sociale Thierwelt mit allen ihren egoistischen Begierden da. Der einzelne Mensch stand eben deshalb isolirt da, weil in seinem Bewußtsein alles Andere ihm fremd gegenüber stand. Wie der Egoismus die gegenseitige Entfremdung der Gattung ist, so ist das Bewußtsein dieser Entfremdung (das egoistische Bewußtsein) das religiöse Bewußtsein. Die Thierwelt im Walde hat lediglich deshalb keine Religion, weil ihr das Bewußtsein ihres Egoismus, ihrer Entfremdung, d.h. weil ihr das Sündenbewußtsein fehlt. Das erste Bewußtsein in der Menschheit ist das Sündenbewußtsein was auch in der Mythe vom "Sündenfall" ausgesprochen ist. Dieses der Anfang, die erste Entstehung des "bewußten" Egoismus.

Aber was dem Einzelnen anfänglich fremd gegenüber stand, war zunächst nur Einzelnes; es waren eben die einzelnen Dinge aus der Natur, die ihn umgab, die Menschen

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sowohl, wie die Dinge, als einzelne Naturmächte. Je mehr er nun kennen lernte, desto mehr erweiterte sich sein egoistisches, religiöses oder "Sündenbewußtsein" bis er sich endlich der ganzen Menschheit gegenüber befand, wo sein entfremdetes Wesen die Menschheit, die ganze Gattung, d.h. sein Gott Mensch, Gott-Mensch, Christus, wurde.

Der Egoismus hat keinen Inhalt, sein Inhalt ist ihm entfremdet, und er kann daher nur Anderes "verzehren", "genießen", nicht Anderes schaffen. Verzehren kann auch nur der bewußte Egoist. Selbst der Gott-Mensch Christus wird nur "verzehrt", im Abendmahl "genossen". Auch der Gattungsmensch, "Geist" der Menschheit, "Wesen" des Menschen, kann vom Egoisten nur erworben, ergriffen, erfaßt, begriffen, aufgelöst, verzehrt, verdaut, "genossen" werden. Die "Kritik" ist ein eben so egoistisches Institut, wie das Abendmahl. Sie ist, wie die Religion, der geistige, der theoretische Egoismus, also das egoistische Bewußtsein. Ihr fehlt als solcher, wie der Religion als solcher, die praktische Seite des egoistischen Bewußtseins, die egoistische Praxis, von welcher sie, das egoistische Bewußtsein, nur der theoretische Ausdruck ist, und ohne welche das egoistische Bewußtsein nicht denkbar, so wenig wie das Sündenbewußtsein ohne Sünde denkbar ist.

Als daher die egoistische Theorie, das egoistische Bewußtsein, Religion und Philosophie, ihren Gipfelpunkt erreicht hatten, mußte auch die egoistische Praxis ihren Gipfelpunkt erreicht haben. Sie hat ihn erreicht in der modernen, christlichen Krämerwelt.

Was ist unsere Krämerwelt? Sie ist die letzte Spitze der socialen Thierwelt. Wie das Raubthier die letzte Spitze

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der Thierwelt im Walde, so ist die Krämerwelt die letzte Spitze der bewußten, socialen Thierwelt. Im entäußerten Leben des thierischen Leibes, im Blute, genießt das Raubthier sein eigenes, entäußertes Leben. Im entäußerten Leben des socialen Körpers, im Gelde, genießt die Krämerwelt ihr eigenes, entäußertes Leben. Der Gelddurst der Krämerwelt ist der Blutdurst des Raubthiers die Krämerwelt ist habsüchtig, wie das Raubthier beutesüchtig ist. Das geldgierige Eigenthumthier verzehrt nicht nur sein entäußertes theoretisches Wesen, seinen Gott, sondern vor allen Dingen sein entäußertes praktisches Wesen: Geld. Es geht nicht nur in die heilige Messe; es geht vor allen Dingen auf die profane Messe (Krämermesse), auf den Markt, um sein egoistisches Bedürfniß zu befriedigen. Wenn es auch die Kirche und den Gott als Sonntagskost hochzuschätzen weiß, so muß es doch die Börse und den Geldcultus (Gelderwerb) als sein täglich Brod betrachten.

In der socialen Thierwelt geht der Egoismus und das egoistische Bewußtsein stets Hand in Hand. Je ausgebildeter die theoretische Entfremdung, desto ausgebildeter ist auch die praktische, und umgekehrt, je ausgebildeter der praktische Egoismus, desto ausgebildeter ist auch die Theorie, das Bewußtsein des Egoismus. In unsrer Krämerwelt ist nicht nur die höchste Spitze der Thierwelt, das Raubthier, auch das Bewußtsein des Raubthiers ist hier vollendet. Was man bis jetzt noch immer mehr oder weniger ohne Bewußtsein und mit Unwillen geschehen ließ, die gegenseitige Ausbeutung der Menschen, wird nun mit Bewußtsein und Willen ausgeführt. Die privilegirten Räubereien hören hier auf; die zufälligen Gewaltthätigkeiten sind

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hier allgemeine Menschenrechte geworden. Die Menschenrechte sind die gleichen Rechte aller Thiermenschen d.h. aller isolirten sogenannten "unabhängigen" "freien" Individuen auf das entäußerte Wesen Aller; der Krieg Aller gegen Alle ist sanktionirt. Die feierliche Erklärung der "Menschenrechte" ist die feierliche Erklärung, weshalb alle Raubthiere gleich berechtigt sind. Sie sind es deshalb, sagen die "Constitutionen" der "freien Staaten", weil sie als selbstständige freie Wesen, d.h. weil sie als Egoisten, als "unabhängige Individuen", erkannt und gesetzlich anerkannt sind.

Die "freie Concurrenz" unsrer modernen Krämerwelt ist nicht nur die vollendete Form des Raubmordes, sie ist zugleich das vollendete Bewußtsein der gegenseitigen menschlichen Entfremdung. Die vorhistorische Wildheit, die classische Sklaverei, die romantische Leibeigenschaft waren noch ihrem Wesen mehr oder weniger unangemessen, hatten noch beschränkte Gesichtskreise, hatten den Raubmord nicht zu dieser Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit unsrer Krämerwelt gebracht. Die heutige Krämerwelt ist die vermittelte, ihrem Wesen entsprechende, "bewußte" und "principielle" Form des Egoismus.

Jetzt begreifen wir auch, was Stirner, dem der bestehende Egoismus nicht zusagt, weil er vermittelt ist, unbewußt will. Es thut uns leid, seine "Weisheit", trotz seiner Protestation, für eine "alte" erklären zu müssen, und wir können ihm nur den Trost geben, daß die "kritische" Weisheit noch älter ist.

Was ist die Stirner'sche "neue Weisheit"?

Um der religiösen Thierwelt zu entkommen, ruft

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Stirner aus, wollen wir wieder zur Thierwelt im Walde zurückkehren: rétournons à la nature!

Was will dagegen die "kritische" Weisheit?

Die Welt ist eine schlechte "Masse", sagt der Hohepriester der "Kritik", sie muß von der "Kritik" aufgehoben werden. Im Himmel der "Kritik" sind nur Geister ohne Leiber, einsame, bewußte Egoisten, ohne egoistische Praxis, ohne egoistische Bedürfnisse. Ñ Brauche ich Euch noch zu sagen, daß der classische Boden dieser einsamen Egoisten ohne egoistische Praxis, dieser selbstgenügsamen seligen Egoisten, der christliche Himmel, das sündlose Paradies ist? Aber ich will Euch sagen, wo dieser Garten mit seiner unschuldigen Bevölkerung wirklich ist: Ñ draußen vor dem Stadtthore.

Die "Consequenz" des "Einzigen", rationell ausgedrückt, ist der kategorische Imperativ: Werdet Thiere!

Die "Consequenz" des "Einsamen", rationell ausgedrückt, ist der kategorische Imperativ: Werdet Pflanzen!

Das Ideal Stirnersist die bürgerliche Gesellschaft, welche den Staat die Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu sich nimmt.

Das Ideal Bauers ist der Staat, welcher die bürgerliche Gesellschaft die Pflanzenwelt, welche die Thierwelt in sich aufhebt.

III.

Man hat in jüngster Zeit bei uns so viel vom "leibhaftigen" Individuum, vom "wirklichen" Menschen, von der

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"Verwirklichung" der Idee gesprochen, daß man sich nicht darüber wundern darf, wenn die Kunde davon auch nach Berlin gedrungen ist und da "philosophische Köpfe" aus ihrer Seligkeit aufgerüttelt hat. Aber die philosophischen Köpfe haben die Sache philosophisch verstanden. Allerdings soll das leibhaftige Individuum an die Stelle des geistigen Menschen treten, aber nicht das sich selber entfremdete, nicht der isolirte, herz- und geistlose, seelenlose, todte Leib, wie der Egoist ihn sich gegenüber stehen hat, um ihn zu "genießen" sonst hätten wir nur an der Stelle des entfremdeten unsichtbaren Ichs das entfremdete sichtbare Ich, an der Stelle des theoretischen den praktischen Egoismus statt der Entäußerung unsres "geistigen" die Entäußerung unsres "natürlichen" Lebens statt des "An- und Fürsichseins" der Philosophie ihr sogenanntes "Anderssein" wir aber wollen das Sein für Andere das Füreinandersein der Menschen, das thätige, schöpferische Individuum.

Wir wollen es dem Philosophen begreiflich machen, was wir unter dem "wirklichen", "lebendigen" Menschen verstehen.

Wie die menschlichen Eigenschaften unser allgemeines Eigenthum sind, so ist Eigenthum des Einzelnen die Gesammtheit seiner verwirklichten Eigenschaften. So wie aber die menschlichen Eigenschaften erst dann wirklich unser allgemeines Eigenthum sind, wenn sie durch sociale Erziehung ausgebildet worden sind, so wird das Eigenthum des Einzelnen erst dann verwirklicht, sein wirkliches Eigenthum, wenn er seine, durch eine sociale Erziehung ausgebildeten, Eigenschaften, im socialen Leben auswirken, bethätigen

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kann. So wie die allgemein menschlichen Eigenschaften, so lange sie unausgebildet sind, nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach unser allgemeines Eigenthum sind, eben so sind unsere durch eine sociale Erziehung ausgebildeten Eigenschaften, so lange sie nicht im Leben bethätigt werden, nicht wirklich, sondern auch nur der Möglichkeit nach unser persönliches, sociales Eigenthum. Oder philosophisch ausgedrückt: So lange das "geistige" Eigenthum nicht wirklich ist, sind die Menschen wohl "an sich", aber nicht "für sich" die Besitzer ihres geistigen Eigenthums. Daß sie dann noch weniger sociale Eigenthümer, Menschen für einander, sich auswirkende Menschen, schöpferische, liebende Wesen sind, versteht sich von selbst, läßt sich aber philosophisch nicht ausdrücken. Die Philosophie, die so viele "Kategorieen" hat, kennt nicht die Kategorie Für-einander-sein. Sie hat es nicht über die Kategorie des "An- und Fürsichseins" gebracht.

Stirner sieht nun ein, daß das "An- und Fürsichsein" der Philosophie eine Abstraction ist; aber anstatt zum Sein-für-einander fortzuschreiten, kehrt er vielmehr zum "Anderssein" der Natur, zur Habsucht, zur Geistlosigkeit zurück. Er verliert aus purer Angst, sein "leibhaftiges" Individuum zu verlieren, allen Menschenverstand und alles Menschengefühl.

Der "Einzige" ist der kopf- und herzlose Rumpf, d.h. er hat eben diese Illusion, denn er ist in der That nicht nur "geistlos", sondern auch leiblos, er ist nichts, als seine Illusion, wie der kritische Kopf, der "Einsame", nicht nur leiblos, sondern auch herz- und kopflos ist.

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Wie kritisirt der "Einzige" den Liberalismus, Humanismus und Socialismus? Weil die Humanität, Vernunft und Liebe in der Philosophie nur Abstractionen sind, deshalb sind sie überhaupt ohne Realität. Weil wir jetzt zu Menschen dressirt werden, deshalb dürfen wir auch nicht unser Wesen, unsere Eigenschaften, von Innen heraus entwickeln, ausbilden, auswirken oder bethätigen. Weil unser Wesen uns bisher ein entfremdetes Heiligthum war, darum sollen wir dieses Heiligthum verzehren. "Wenn Du das Heilige verzehrst, dann hast Du's zum Eigenthum gemacht! Verdaue die Hostie und du bist sie los!" [EE 106]

Als ob wir nicht längst unser "heiliges" Eigenthum verzehrten! Als ob das entfremdete "heilige" Eigenthum dadurch, daß man's verzehrt, persönlich würde! Als ob unser wirkliches Eigenthum, das an die Stelle der bisherigen Illusion treten soll, etwas Anderes ist, als die Verwirklichung und Bethätigung unserer Eigenschaften etwas Anderes, als die Production unseres Lebens, statt der bisherigen Consumtion desselben?

Der Socialismus läßt den Staat beiseite liegen, denn er steht auf einem ganz anderen Boden. Vom Socialismus kennt Stirner aber nur die ersten Anfänge, die noch auf den Voraussetzungen der Politik und der politischen Ökonomie beruhen Babeuf, den französischen und den Arbeitercommunismus und auch diese Anfänge kennt er nur vom Hörensagen, sonst müßte er z.B. wissen, daß der auf dem Boden der Politik stehende Communismus

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selbst schon in die beiden Gegensätze des Egoismus (interêt personel) und des Humanismus (dévouement) längst auseinander gegangen ist. Von der "Gesellschaft" weiß er gerade so viel, wie die "Kritik" von ihr weiß. Seine Opposition gegen den Staat ist die ganz gewöhnliche Opposition der freisinnigen Bourgeois, welche es ebenfalls dem Staate in die Schuhe schieben, wenn das Volk verarmt und verhungert.

Es ist dem Berliner Philosophen auch zu Ohren gekommen, daß man die "Anarchie" angepriesen hat. Er will ebenfalls die "Anarchie". Aber, um eine "neue Weisheit" zu sagen, tritt er mit dieser Proudhon'schen Kategorie nicht nur gegen die Herrschaft einer jeden äußeren Autorität, sondern auch gegen die "Herrschaft der Vernunft" auf. Diese Weisheit ist jedoch so wenig neu, daß man, um ihr zu begegnen, zum Anfange der Geschichte, zum Ursprunge unserer socialen Thierwelt zurückkehren muß, während man, um der Proudhon'schen Anarchie zu begegnen, doch nur zum Anfange der neuesten Geschichte, zur religiösen und politischen Revolution zurückzukehren braucht.

Daß es dem Einzigen mit dieser neuen Weisheit Ernst ist, daß er nicht etwa nur gegen eine bestimmte Form der Vernunft und Sittlichkeit, sondern geradezu gegen den vernünftigen Inhalt aller bisherigen Formen der gesellschaftlichen Moral auftritt, das spricht er auf jeder Seite seiner Schrift aus. So z.B. würde er dem "humanen Liberalismus" seine Heiligsprechung des "Menschlichen" wohl hingehen lassen, wenn der "Humane" unter dem "Menschlichen" alles "Menschenmögliche" begriffe, weil alsdann der Irrthum der "Humanen" nur ein formeller, kein reeller

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wäre. "Wird aber der Humane so human sein?" Im Gegentheil! "Über die Hure theilt er zwar das moralische Vorurtheil des Philisters nicht; aber 'daß dies Weib ihren Körper zur Geld-Erwerb-Maschine macht', das macht sie ihm als 'Menschen' verächtlich. Er urtheilt: die Hure ist nicht Mensch, oder: so weit ein Weib Hure (Geld-Erwerb-Maschine) ist, so weit ist sie unmenschlich, entmenscht." [EE 138] Das ist's, was Stirner an dem Humanismus auszusetzen hat. Würde der Humane auch noch in der Geld-Erwerb-Maschine etwas Menschliches erblicken, so würde Stirner allerdings in Betreff seines Inhalts mit dem Humanismus übereinstimmen!

Der Humanismus ist nach Stirner nicht deshalb ein Irrthum, weil er den Menschen nur zum "Princip" macht, d.h. weil er nur die theoretische Abstraction des Menschen, also eine Illusion zum Inhalte hat, sondern deshalb, weil er (hört! hört!) "unter allen Socialtheorien die vollendetste ist, weil er Alles entfernt und entwerthet, was den Menschen vom Menschen trennt". [EE 147] "Wie könnt Ihr wahrhaft einzig sein, solange auch nur Ein Zusammenhang zwischen Euch noch besteht?" [EE 148]

Um den Widerspruch zwischen der humanen "Idee" und der inhumanen Wirklichkeit aufzuheben, sollen wir nicht den Menschen verwirklichen, sondern von uns "abthun" und zum "Thiere" zurückkehren. Hielte sich der Mensch "nur für ein Thier, so fände er leicht, daß das Thier, das doch auch nur seinem Antriebe, gleichsam seinem Rathe folgt,

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sich nicht zum Unsinnigsten räth und treibt, sondern sehr richtige Schritte thut." [EE 178] Rétournons à la nature!

Der Socialismus sagt: Ihr sollt keine bloßen Idealisten, sondern wirkliche Menschen sein. Stirner sagt dagegen: "Jahrtausende der Cultur haben Euch verdunkelt, was Ihr seid, haben Euch glauben gemacht, ihr seiet keine Egoisten, sondern zu Idealisten, zu "guten Menschen", berufen. Schüttelt das ab!" [EE 181]

Ein Socialist stellte die Forderung, wir sollen wirkliche Gattungswesen werden, womit er eine Gesellschaft forderte, in welcher Jeder seine menschlichen Eigenschaften ausbilden und bethätigen oder verwirklichen kann. Stirner will von diesem wirklichen Menschen nichts wissen. Er macht dagegen seine Ansicht vom wirklichen Menschen in folgender Weise geltend: "Wirklicher Mensch ist nur der Unmensch." [EE 194] "Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser 'menschlichen Gesellschaft' nicht am Herzen. Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geschöpf, d.h. (höret) Ich vernichte sie und bilde an ihre Stelle den Verein von Egoisten." [EE 196]

Einziger, Du bist groß, originell, genial! Aber ich hätte Deinen "Verein von Egoisten" gerne, wenn auch nur auf dem Papiere, gesehen. Da mir dies nicht vergönnt

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ist, erlaube ich mir, den eigentlichen Gedanken Deines "Vereines von Egoisten" zu charakterisiren.

Unsere ganze bisherige Geschichte war nichts, als die Geschichte von egoistischen Vereinen, deren Früchte die antike Sklaverei, die romantische Leibeigenschaft und die moderne, principielle, universelle Leibeigenschaft uns Allen bekannt sind. Nun, nachdem der Kreislauf dieser egoistischen Vereine vollendet, verendet ist, schlägt der Egoismus in seiner Verzweiflung allerlei Combinationen geschichtlich bereits überwundener Formen von Associationen des Egoismus noch einmal vor. Die Verzweiflung hat heutzutage schon manchen tollen Gedanken zur Welt gebracht. Daß sie aber auch auf den Gedanken verfallen würde, die roheste Form des Egoismus, die Wildheit, jetzt ins Leben einführen zu wollen wer hätte das sich träumen lassen. Und doch ist es eben dieser Gedanke, der den "Einzigen" beherrscht. Stirner will ganz im Ernste die ursprüngliche Form des egoistischen Verkehrs, den allerunmittelbarsten Raubmord, wiederhergestellt wissen!"Das will Stirner?" Ihr habt Recht, wenn Ihr nicht glaubt, daß der "Einzige" das will, und ich muß mein Wort wieder zurück nehmen. Stirner will überhaupt Nichts. Er renommirt nur.

Es gereicht vielleicht dem "Einzigen" zur Entschuldigung, daß Er selbst nicht weiß, was Er will. So meint Er, gegen die "kritische Kritik" zu kämpfen, und ist selbst nur der Knecht der "Kritik". Er will den "Staat" fortwährend vernichten und bleibt fortwährend auf dessen Boden stehen. Er preiset aus allen Tonarten die Rückkehr zur

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Thierwelt an und meint an Ende nur ein friedliches Vegetiren.

"Der letzte und entschiedenste Gegensatz, der des Einzigen gegen den Einzigen, ist im Grunde über das, was Gegensatz heißt, hinaus, ohne aber in die Einheit oder Einigkeit zurückgesunken zu sein. Du hast als Einziger nichts Gemeinsames mehr mit dem Andern und darum auch nichts Trennendes oder Feindliches. Der Gegensatz verschwindet in der vollkommenen Geschiedenheit oder Einzigkeit." [EE 220]

Gewiß, er verschwindet wie vor dem Blinden das Licht wie vor der Unwissenheit der Irrthum wie vor dem Tode das Leben! Um jeder Collision, jedem Lebenskampfe auszuweichen, kehrt er in den Schooß der Erde zurück und vegetirt!

Also die ganze Renommage mit der Brutalität läuft zuletzt doch nur auf den friedlichen Unsinn des "Einsamen" hinaus!

Verhält es sich im Übrigen mit dem Kampfe Stirners gegen Bauer anders? Ist Stirner überhaupt der praktische Egoist, der er zu sein sich einbildet? Ist er ein so verstockter Sünder, wie er meint?

Da er gegen jeden "Beruf", jede "Bestimmung" eifert, so sollte man glauben, er selbst müsse über jede "Bestimmung", über jeden "Beruf" hinaus sein. Er ist es aber so wenig, daß er vielmehr fortwährend unter der geheimen Polizei seines kritischen Gewissens steht. Seine Unbefangenheit ist eine Lüge, seine Rohheit affectirt. Er hat "die Weisung der Kritik, keinen Theil unseres Eigenthums stabil werden zu lassen und Uns nur wohl zu fühlen

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im Auflösen", [EE 157] nicht vergessen und bleibt stets hinter seinem "Ideal" des Egoismus zurück. Der Egoist, ruft ihm fortwährend sein kritisches Gewissen ins Gedächtniß zurück, darf sich für Nichts so sehr interessiren, daß er sich seinem Gegenstande ganz hingibt und, wie Luther einmal, ausrufen müßte: Hier steh' ich, ich kann nicht anders! Das ist der Kernspruch aller Besessenen. [EE 66] Ja, die "Sorge", es möchte sich in ihm Etwas "festsetzen", läßt dieses altkluge Naturkind nicht einen Augenblick in Ruhe! Es kann seine "Bestimmung" als Egoist niemals erfüllen. Es muß sich jeder Zeit fragen: "Folge Ich Mir selbst, meiner eigenen Bestimmung", [EE 187] wenn ich Diesem und Jenem mich unbefangen hingebe?

Wir haben schon im Eingange gesehen, daß Stirner mit den Philosophen in dem Satze übereinstimmt: Der einzelne Mensch ist die Gattung. Wir haben ferner gesehen, daß Bauer, eben so sehr Egoist, wie Stirner, und daß dieser eben so sehr Idealist, wie Bauer ist, daß Stirner mit aller seiner Brutalität zuletzt doch nur das friedliche Vegetiren meint und daß er in letzter Instanz von der geheimen Polizeiaufsicht der "Kritik" nicht loskommen kann. Worin unterscheidet sich endlich der egoistische "Einzige" vom kritischen "Einsamen"?

Der "Einsame" ist der Egoist mit greisen Haaren, ein verkindischter Alter, der "Einzige" ist ein altkluges Kind. Der "Einsame" ist der Sklave auf dem Throne; der "Einzige" ist der Sklave, der seine Ketten ge-

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brochen hat. Bauer hat sich den theoretischen, Stirner den praktischen Unsinn in den Kopf gesetzt. Vereinigt, würden sie, wie unsere Zustände und wie ihr philosophischer Repräsentant Feuerbach, nothwendig einer fernern Entwickelung entgegengehen, und man hätte die Hoffnung, sie einmal als Socialisten auferstehen zu sehen, nachdem sie der innere Widerspruch aufgerieben. Getrennt, wie sie sind, bleiben sie einsam, einzig, ohne leben, ohne sterben, ohne auferstehen zu können. Sie sind und bleiben Philosophen.


Ein Service von Max Stirner im LSR-Projekt