Der folgende Text erschien zuerst in:
Der Einzige, Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr, 1/2 (13/14), 3. Februar / 3. Mai 2001, S. 15-22;
er wird, mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers, auf den LSR-Seiten zur Verfügung gestellt, weil er der Beginn einer Kontroverse ist. Die Replik darauf: Bernd A. Laska: Max Stirner - ein Verächter der "Praxis" ?


Fritz-Erik Hoevels
Stirner, Psychoanalyse und Marxismus

Stirner ist der kleinere Bruder de Sades und Nietzsches: auch er hat entdeckt, dass die Moral eine Genealogie hat. Es ist seine einzige Entdeckung, und da sie stimmt und er nicht müde wird, sie von allen Seiten auszubreiten -- eigentlich nur in der negativen Form, dass sie, d. h. alle in standardisierter Form an das Individuum herangetragenen Forderungen, nur ein Fetisch ist, wie Marx derlei nennt, und keinesfalls, wie man allen einredet, etwas Objektives --, hat er auch immer recht. Kein Subjekt kann von einem oder mehreren anderen Subjekten von vornherein irgend etwas fordern; und da nichts anderes als Subjekte fordern können, sind alle generellen Forderungen a priori substanzlos. Es gibt keinen an sich bestehenden Grund, sie an das Individuum heranzutragen, noch für dieses einen, sie als berechtigt zu betrachten; sie sind logisch haltlose Zumutungen. Nur aus gegenseitiger Vereinbarung können sich Ansprüche ergeben.

So weit hat Stirner recht, und da er nichts anderes mitzuteilen hat, hat er es wirklich immer; einem Kant, einem Plato, jedem Religiösen, jedem klassischen Faschisten und deren "politisch korrekten" Geistesnachfahren der Gegenwart -- als den momentan übelriechendsten Zwergen im Garten des Geistes -- ist er damit sachlich immerhin himmelhoch überlegen. Philosophie ist gewöhnlich nichts anderes als ein im Dienste der Herrschaftserleichterung unendlich breitgetretener und ermüdend langwierig ausgestalteter Denkfehler; das erklärt, warum sie bezahlt und warum den Kindern Respekt vor ihr beigebracht wird. Stirner macht oder gar kultiviert im Gegensatz zu einem Kant, Rosenberg oder Popper keinen einzigen Denkfehler; das erklärt durchaus, warum er nie bezahlt und nur mit knapper Not, ganz wie der Dichter Lautréamont mit seiner inhaltsgleichen Botschaft, überhaupt überliefert wurde (sein Soupault hiess bekanntlich Mackay). Es ist in der Tat nur eine einzige Erkenntnis, die Stirner gelungen ist, diejenige nämlich, wie irrationale bzw. vorgefundene Kollektive hypostasiert werden; aber genau diese bleibt den meisten Sterblichen verschlossen, da sie sich nie von dem Gedanken befreien können, an dem Klumpen gesellschaftlich standardisierter (und dadurch natürlich, für Ewigkeitsgläubige störenderweise, historisch variabler) Forderungen an das Individuum, lateinisch als "Moral" oder griechisch als "Ethik" fetischisiert und stets mit irgendeinem nach Zeit und Publikum wechselnden mystischen Aroma imprägniert oder begossen, sei irgend etwas an sich "dran". Selbst der ob seiner Unerschrockenheit und in seinem Metier durchaus rekordhaften geistigen Klarheit hochachtbare, von den wohlorganisierten Kräften der Finsternis dementsprechend verbellte und ausserhalb des machtgestützten angloprotestantischen Kernbereichs geradezu lebensgefährlich attackierte Peter Singer teilt diesen Fehler. Es wundert daher gar nicht so sehr, wenn sich de Sade ob der gleichen Entdeckung, höflich verkappt durch seine Romanfiguren, selber als "den grössten aller Philosophen" feiert; denn seit die zumindest abendländische Philosophie nicht mehr als nackte Religion auftritt, sondern dieser vielmehr in der Psychomachie militärisch nützliche Tarnkleidung liefert (ein Erbe, an der sogar die radikalste Aufklärung noch lange zu knabbern hatte), hat sie auf weite Strecken kaum einen anderen Inhalt mehr an den Mann zu bringen gehabt (inzwischen, in unseren seit ca. 100 Jahren sehr viel finstereren Zeiten, nimmt allerdings die Verwirrung des Erkenntnisprozesses selbst wieder mehr Raum ein) als eben diesen moralischen Fetisch, und wir können de Sades ebenso wie Stirners Erleichterung sehr gut nachvollziehen, als sie endlich die Nadel gefunden hatten, mit der sie diesen überprallen Luftballon der Jahrtausende anstachen. Diese Nadel des Geistes wog den von ihr gepieksten und gründlich entleerten Luftballon wahrlich auf, und insofern war der Titel "grösster der Philosophen" gar nicht so unangemessen, das Äquivalent stimmte. Es ist ein wenig wie mit dem schwachsinnigen Vorwurf an die Psychoanalyse, sie beanspruche, "alles" erklären zu können; in Wahrheit beansprucht sie nur, u.a. das Wesentliche an der Religion erklären zu können, welche ihrerseits abwegigerweise, aber sehr ernsthaft, beansprucht, alles erklären

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zu können, die Natur selbstredend eingeschlossen, nämlich aus dem Willen ihres Gottes. Das absolute Gewicht beider Seiten freilich diskutieren wir später.

Man merkt, wie sich Stirner Kapitel für Kapitel gegen die argumentativen Zumutungen wehrt, denen er erstmals als intelligentes Kind ausgesetzt war, das die höchst tendenziösen logischen Brüche in dem Zeug durchschaut, mit welchem die Erwachsenen es zumüllen: "Ihr wisst von Gott viel Gründliches zu verkünden (...), so dass ihr uns wohl sagen könnt, wie Gott die 'Sache Gottes', der wir zu dienen berufen sind, selber betreibt. (...) Nun, es ist klar, Gott bekümmert sich nur ums Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich. Seine Sache ist eine -- rein egoistische Sache. (...) Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein 'blühendes Volk'! Die Individuen sind 'für die grosse Sache des Volkes' gestorben, und das Volk schickt ihnen einige Worte des Dankes nach und -- hat den Profit davon. Das nenn' ich mir einen einträglichen Egoismus. (...) Und an diesen glänzenden Beispielen wollt ihr nicht lernen, dass der Egoist am besten fährt? Ich meinesteils nehme mir eine Lehre daran und will, statt jenem grossen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein." (1) Und die Situation hält an, mit dem gleichen Mist, gegen den sich Stirner wehrt, werden wir ja alle, je nach dem Zeitgeschmack abgewandelt, alle Tage berieselt, Schule und Medien setzen die Eltern fort. Die einzige Stärke der ungerechten Herrschaft ebenso wie des im Unrecht befindlichen "Ehepartners" ist ja, neben der unmittelbaren oder mittelbaren Gewalt, nichts anderes als die eintönige Wiederholung, und wer sich jemals in einem Behörden- oder Ehestreit durch die Qual der eisernen Wiederholerei zu einer Variation seiner Entgegnung hinreissen lässt (gleiches gilt natürlich für analoge Auseinandersetzungen mit Religionsvertretern usw. usf.), hat unwiderruflich verloren (ich habe das in meinem Stück »Waitoreke« schon lange verbildlicht). Dagegen hält Stirner durch, die Wiederholungen seines verbissenen Buches spiegeln exakt die Wiederholungen -- aus so vielen Lautsprechern! -- der Zumüllung, gegen die er sich ganz alleine wehren muss, genauso wie diejenigen de Sades, dem sie auf dieselbe Weise zum Erleben seiner von der allgegenwärtigen Ideologie bedrohten Persönlichkeit, seines letzten "Eigentums" sensu Stirner sozusagen, notwendigerweise dienen müssen, und so wirken sie paradoxerweise auf den von ähnlichen Intentionen beseelten Leser weniger ermüdend als befreiend (denn er ahnt die Quelle ihrer Durchhaltekraft und freut sich undeutlich über diese, normalerweise so seltene, Stärke), auf den von entgegengesetzten Intentionen verschmutzten Leser dagegen, etwa den kgl.-sächsischen Innenminister der entsprechenden Zeit oder den fdGO-Hofphilosophen Habermas, aufreizend und verärgernd, also auch nicht so richtig ermüdend. Kein Zweifel, denn das historische Verbot des doch immerhin ebenso unpolitischen wie asexuellen Buches beweist es: Stirner hatte einen Nerv getroffen.

Es ist verlockend, mit den durch spätere Geburt so wohlfeil erworbenen Erkenntnissen der folgenden anderthalb Jahrhunderte noch einmal auf Stirner zurückzublicken, der zu seiner hervorragend verallgemeinerbaren Selbstverteidigung gegen die allgegenwärtige Zumutung "höherer" Entitäten, d.h. ideologischer Fetische im Sinne eben jener beschworenen Hypostasierung vorgefundener Kollektive, nur das armselige Arsenal planen und konventionellen Vernunftgebrauchs zur Verfügung hatte; der poetische Schwung und die psychologische Intuition Nietzsches, die unbeirrbare und unheimlich konsequente Sexualphantastik de Sades hätten sein Werk nur literarisch wertvoller und thematisch reicher, nicht aber in seiner Grundaussage fundierter machen können. Eine gewisse Affinität scheint es zur Psychoanalyse aufzuweisen; diese zeigt nämlich mit wissenschaftlichen Mitteln, wie aus den schlechten Erfahrungen des Kindes mit seinen übermächtigen Eltern ein unbewusster, aber höchst bösartiger und wirksamer Fremdkörper im Ich des heranreifenden Kindes entsteht, jenes von ihr so bezeichnete "Überich", dessen bewusste Abkömmlinge sich genau jener zahlreichen ge-

[17: Werbung für Ahriman-Verlag]

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sellschaftlich vorgestanzten Ideologeme als Stützen und Vehikel bedienen, welche wir bei Stirner aus der individuell erinnerlichen Seite des Vorgangs als "Gespenster", "fixe Ideen" und "Sparren" wiederfinden; solange die Psychoanalyse noch nicht von selbstzerfressendem Anpassungswillen durchseucht ist, besteht sie natürlich darauf, dieses maligne Introjekt -- durch Bewusstmachung seiner individuellen Genese -- möglichst restlos zu zerstören und abzubauen: "Eine wirkliche Charakteranalyse", sagt Ferenczi Jahre vor Erscheinen des auf seinen Arbeiten fussenden berühmten Buches von Reich, "hat mit jeder Art von Über-Ich, also auch mit dem des Analytikers, aufzuräumen. Schliesslich muss ja der Patient von aller gefühlsmässigen Bindung, soweit sie über die Vernunft und die eigenen libidinösen Tendenzen hinausgeht, frei werden. Nur diese Art Abbau des Über-Ichs überhaupt kann eine radikale Heilung herbeiführen." (2) Und auch Freud besteht -- in der "Frage der Laienanalyse" -- darauf: "Es besteht ja keine natürliche Gegnerschaft zwischen Ich und Es, sie gehören zusammen und sind im Falle der Gesundheit praktisch nicht voneinander zu scheiden" (GW XIV 229); aber jeder psychoanalytisch Gebildete weiss natürlich, dass das Einzige, was einen Teil vom Ich abspalten und ihm fremd werden lässt, die Trennungsschicht zwischen Ich und Es sozusagen, nichts anderes als das Überich ist, welches folglich im gesunden Zustand der Person nichts zu suchen hat und keinen Platz findet. Klingt diese durch und durch humane und aufgeklärte Zielsetzung der unverfälschten, unbestochenen, unprostituierten Psychoanalyse nicht fast wie ein Echo dieser Ausführung Stirners: "Der Unterschied ist also der, ob mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize ich mich auf, hege sie in mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewusster oder unbewusster gemerkt, dass unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in uns zu erzeugen, d. h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. Hören wir den Namen Gottes, so sollen wir Gottesfurcht empfinden, hören wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören wir den der Moral, so sollen wir etwas Unverletzliches zu hören meinen (...) usw. (...). So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden 'mündiggesprochen'. (...) Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten" (op. cit. p. 64sq.).

In der Tat, dem Menschen- und Freiheitsfreund klingt das sympathisch -- freilich mag Stirner das Wort "Menschenfreund" ungern gehört haben, da ihm das Wort "Mensch" als Abstraktion mit den ihm verhasstesten ideologischen Konnotationen belastet war, aber meine modernen Leser und speziell diejenigen meiner Schrift über »Das Dilemma einer menschenfreundlichen Religion [Bhagwan]« verstehen mich gewiss nicht falsch --; diese Sympathie ist ganz berechtigt, und wenn Stirner die bestmögliche Gesellschaft, meiner Ansicht nach also die Essenz des Kommunismus sensu Marx und Lenin, als "Verein von Egoisten" definiert (op. cit. p. 173), so sollte er den ungeteilten Beifall aller Aufgeklärten finden. Ein Kommunist, der nicht uneingeschränkt hinter dieser Definition steht -- nicht anders als hinter dem zu maximierenden "Reich der Freiheit", aus welchem die Arbeit herausgedrängt werden konnte, sensu Marx, oder der überraschenderweise ganz unübertrefflichen Analyse Oscar Wildes über den "Sozialismus und die Seele des Menschen" --, der ist als Kommunist, gar Marxist gänzlich verfehlt und pervertiert, kein Befreier, sondern eher eine Gefahr für die Menschheit. (3)

Werden hier Marx und Stirner, im Leben bekanntlich verfeindet, etwa voreilig harmonisiert -- und das, obwohl eine gar nicht ganz winzige Zahl von Menschen ihre Lebenslüge auf einer Übertreibung bis Verabsolutierung ihres Gegensatzes aufzubauen scheint?! -- An dieser Stelle noch nicht. Denn wenngleich Marx, dessen praktisches Ideal der "freien Assoziation freier Produzenten" oder des "Vereins freier Menschen" (MEW XXIII 92) ohne

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weiteres als "Verein konsequenter Egoisten" gesehen werden kann (d. h. von Leuten, denen es um ihren langfristig und durchschnittlich grössten erwartbaren persönlichen Vorteil geht (4)), sich hinsichtlich des letzten Sinnes des Sozialismus manchmal ganz unangenehm unglücklich ausdrückt in einer Weise, die eine entgegengesetzte Interpretation ermöglicht bis suggeriert (ein Mangel, der das Ankleben seiner religiösen Eierschalen verrät), so ist diese irrationale Interpretation für die Gesamtlehre in keiner Weise naheliegend, nötig oder gar zwingend, auch niemals explizit, während die von mir in den Vordergrund geschobene nicht nur bestens mit ihr harmoniert, sondern sie überhaupt erst sinnvoll und widerspruchsfrei macht.

Überhaupt ist an richtunggebenden Stellen die Übereinstimmung von Marx und Stirner -- besonders auf dem Boden der "Fetisch"- bzw. "Gespenster"-Lehre, bzw. der Lehre von der "Ideologie" und dem "Sparren" -- so gross, dass eine Anregung der jüngeren durch die ältere, mehr aufgrund gemeinsamer Diskussionen als durch Lektüre von Stirners Buch, recht wahrscheinlich wirkt. Wenn Marx in seinem eigenen Hauptwerk anmerkt: "Es ist mit solchen Reflexionsbestimmungen überhaupt ein eigenes Ding. Dieser Mensch ist z. B. nur König, weil sich andere Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist" (5), so ist das derselbe Gedanke, dem Stirner die Form verleiht: "Wer, um zu bestehen, auf die Willenlosigkeit anderer rechnen muss, der ist ein Machwerk dieser anderen, wie der Herr ein Machwerk des Dieners ist. Hörte die Unterwürfigkeit auf, so wär's um die Herrschaft geschehen" (op. cit. p. 189). Freilich, für die Analyse des Fetischs oder Sparrens gilt das gewiss, aber, ganz anders als für Marx, wie wir noch sehen werden, ist es für Stirner typisch, dass er nicht den mindesten Gedanken an die praktische Seite des Problems verwendet: denn wenn der einzelne Beherrschte den Fetisch erkennt und nicht gehorchen will, so nützt ihm das gar nichts, weil die anderen Beherrschten dem Befehl des Herrschers folgen und ihn schlagen, einsperren oder töten werden. Selbst wenn unwahrscheinlicherweise alle Beherrschten zu der besagten Einsicht gelangt wären und den Gehorsam verweigern wollten, so nützte ihnen auch das nichts, da sie sich über diesen Zustand erst noch gegenseitig informieren müssten; die dazu notwendige Kommunikation wird der Herrscher aber zu unterdrücken suchen, und dies meistens erfolgreich, indem er die ersten Beherrschten, die er im Verdacht hat, derlei Kommunikation einzuleiten, von anderen Beherrschten beseitigen lässt. Herrschaft ist nicht nur ein Fetisch, das ist sie nur in den Köpfen ihrer "politisch korrekten" Objekte, aus denen die meist ausreichend zahlreichen Häscher und Denunzianten genommen werden, aber für alle ist sie etwas Technisches, nicht nur Eingebildetes, nämlich ein Verzögerungseffekt im Ungehorsam durch Behinderung horizontaler Kommunikation, und nur eine Technik zu deren Unterlaufung, aus naheliegenden Gründen ab den geringsten Erfolgen stets lebensgefährlich, nämlich die unabdingbare Herstellung einer Führung der Beherrschten zwecks Koordination ihres "Ungehorsams" (und Elimination des gefährlichen gehorchenden Restes), kann irgend jemanden auf ihre Beseitigung hoffen lassen. Bruno Bettelheim hat die Struktur sehr eindrucksvoll an der Situation in den KZ's beschrieben, deren Insassen gewiss nicht in erster Linie von Herrschaftsfetischen (der SS) beeinträchtigt waren, und nur Bernard Goldstein, der Führer des Warschauer Ghettoaufstands, hat ein praktisches Beispiel der Koordination des Ungehorsams unter diesen Laboratoriumsbedingungen des Stirner'schen Gedankenexperiments hinterlassen, wozu auch keineswegs die "Aufklärung" des "gehorsamen" Judenrats gehörte, sondern dessen blitzschnelle Ausschaltung. Doch KZ und Internierungslager bilden nur Extrem-Modelle für die praktischen Probleme jeder Vernichtung unerwünschter Herrschaft, die Struktur ist gleich, und das praktische Problem daher auch. Wo Gespenster im Wege stehen, ist deren Durchschauung gewiss ein erster Schritt, genauso wie die von der Psychoanalyse im günstigen Fall induzierte bzw. ermöglichte "Revolution im eigenen Kopf" (nämlich gegen das Überich, den "inneren Polizisten"),

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aber mehr nicht; die gefährliche Koordinationsaufgabe steht ja noch aus.

Wie gesagt: so radikal ist Stirner nicht, dass er sich auch noch darüber Gedanken machen würde; vielleicht hätte er sich eingeredet, dass er dafür zu radikal sei, aber das ist am Ende ein ungerechter Spott ... Auf jeden Fall verraten sich Stirners religiöse Eierschalen in seinem unpraktischen Rechtsbegriff, er will diesem nämlich partout jeden Sinn nehmen, nur weil er ganz richtig herausgefunden hat, dass er, mangels Existenz einer solchen überhaupt, keine metaphysische Substanz haben kann, (6) während er doch pragmatisch von der freiwilligen Vereinbarung vernünftiger Egoisten abgeleitet werden könnte; damit erschwert bis untergräbt er aber die Funktionsfähigkeit seines "Vereins von Egoisten", für den psychoanalytisch geschulten Beobachter erkennbar als unbewusste Selbstbestrafung für seine erfolgreich überichfeindliche Befreiung von den eingetrichterten hypostatischen "Sparren", und das hat bis auf den heutigen Tag seinen Feinden, d. h. ganz gewöhnlichen verkappten oder bekennenden Reaktionären, erlaubt, die Ansicht zu verkünden, "völlig aufgeklärte Menschen könnten keine Gesellschaft bilden". (7) Wäre das so, müsste die Aufklärung also ewig ohne reale Früchte bleiben, was wäre sie dann wert -- und welch innerer Reichsparteitag wäre das für alle Reaktionäre und Dunkelmänner und -frauen dieser Welt, von den ersten konterrevolutionären französischen Emigranten bis zu, sagen wir, Annemarie Schimmel und Khatami! (Auf das bisschen narzisstische Gratifikation, das sich die solcherart unbewusst selbstbestraferisch "Aufgeklärten" dann aus der hohlen Hand saugen mögen, ist wahrlich geschissen.) In Wahrheit gedeiht eine Gesellschaft mit dem zäh verfolgten Ziel des grössten Vorteils des grössten Prozentsatzes nur als "Verein von denkenden Egoisten", (8) leidlich gut nur mit mindestens einer möglichst aufgeklärten Mehrheit, und auch der Weg dorthin ist nur unter einer radikal aufgeklärten und sehr entschlossenen Führung möglich.

Nun, diese muss man erst einmal erringen, vorher sind die schönsten und klügsten, renitentesten und aufgeklärtesten Gedanken für die Katz', und die Macht bleibt, aller Kritik und Durchschauerei zum Trotz, in bewährten Händen, dirigiert von mässigen (aber instinktsicheren) Hirnen. Das kann jedenfalls nicht besser sein, als sie diesen unter vertretbaren, aber notgedrungen substantiellen Opfern listig und unnachgiebig kämpferisch -- denn im Krieg bestimmt die Spielregel der Feind -- zu entreissen und in jedenfalls bessere, und sei es nur halb so gute, Hände zu legen. Danach kann man immer noch weiter sehen. Aber dieses Problem, dieses gigantische technisch-praktische Problem, durch das jeder gesellschaftskritische Gedanke, wenn man nicht gerade an der reformistischen Illusion erkrankt ist, überhaupt erst den geringsten Sinn erhält -- das kümmert Stirner herzlich wenig, geradezu kindisch wenig.

Überhaupt hat er, dieser persönlich so grenzenlos stille, friedliche und unpolitische Mensch -- Politik kann nur bedeuten: "Den Willen seiner syn-politeis in Richtung seiner eigenen Ziele beeinflussen", nicht etwa, diesen zu analysieren oder zu kommentieren -- mit den echten Terroristen, den durch und durch moralisch motivierten Desperados um Andreas Baader und Ulrike Meinhof herum, gemeinsam, dass er die moralische Lösung eines gesellschaftlichen Problems (ein solches ist etwa: ob es erlaubt sei, tätige Arisierer und Nazis der ersten Runde zu töten, etwa zwecks Freipressung Gefangener) schon für gleichbedeutend mit seiner praktischen Lösung hält -- und so ist die Konsequenz im einen Fall ein hundertprozentig absurdes Martyrium, im anderen Fall eine hundertprozentige organisatorische Abstinenz, in beiden Fällen das absolute Ausbleiben auch nur des mikroskopischsten Schritts einer Gefährdung der kritisierten Gesellschaftsordnung, gar ihrer Veränderung in die gewünschte Richtung. Und genau an dieser Stelle liegt der entscheidende Unterschied zwischen Stirner und Marx, die Ursache für Marx' (und Engels') Fähigkeit zur auf breiter empirischer Basis ruhenden historisch-wissenschaftlichen statt kurzatmig philosophischen Analyse, zu welcher seine Lehre rasch nach ihren hegelnden Anfängen emporwuchs, egal wie kleine oder grosse philosophische Eierschalen-

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reste man ihm bzw. beiden Gründern der Ökoanalyse, um sie so zu nennen, noch nachweisen kann, und hier endlich zeigt sich der Unterschied im Gewicht der geistigen Leistung beider, ziemlich genau zwischen einer Nadel und einer Interkontinentalrakete liegend.

Denn hat man, egal ob richtig oder falsch, eine Gesellschaftsordnung als wünschenswerter als die bestehende erkannt, wobei diese freilich durch den Verbleib der Macht in den vorliegenden Händen auf unabsehbar lange Zeit bis tendenziell ewig vor dem Ersatz durch jene gesichert ist, dann gilt vor allem und jedem: "Haben ein Gewehr!" Und wenn die vorhandene Armee einem nun einmal nicht gehorcht, so hat man zu deren Neutralisierung bis Überwindung nur eine Chance, wenn man es schafft, in prozentual erheblichen bis ausschlaggebenden Teilen der Gesellschaft eine verlässliche Gegenloyalität zu der von den Machtträgern geförderten aufzubauen und zum geeigneten Zeitpunkt einzusetzen -- was Lenin später dann ja auch tatsächlich gelungen ist (und, strukturell ähnlich, aber zu einem weitaus schlechteren Zweck, in unserer Lebenszeit Khomeini). Hat man derart Gigantisches und zugleich Praktisches (aber im Gelingensfall unendlich Wertvolles) vor, dann kann die ausführlichste Kenntnisnahme und Auswertung der historisch und aktuell vorliegenden Empirie nicht zu viel sein; denn zu verschenken gibt es in dem grausamen und harten Kampf, auf den sich der die Höhe der Theorie einmal erklommen habende Organisator dann einstellen muss, wahrlich nichts.

Die letzte Feuerbachthese hat Marx sicherlich in erster Linie im Gedenken an Stirner geschrieben, etwas weniger als an Feuerbach selbst, welchen Stirner so unnachgiebig, aber eben schon wieder philosophisch kritisiert hatte. Mehr wäre über seine Kräfte gegangen.

Aber er wurde abgelöst, und wer, was in Wahrheit so selten vorkommt, sein Niveau nicht erreicht, sollte um noch umfassendere Ansprüche besser einen Bogen machen. Seine Erkenntnisstufe bleibt der unverzichtbare Ausgangspunkt für jede theoretische und selbständig-praktische, egal ob man sie mit seiner Hilfe oder derjenigen seiner grösseren Brüder (oder späteren poetischen Vettern wie vor allem den Surrealisten) erreicht. Wer ein "Gemeinwohl" oder gar eine "Menschheit" (die ja nicht zusätzlich zu den Individuen existieren kann, aus denen sie besteht) hypostasiert, bleibt als Kommunist ebenso verdächtig und beeinträchtigt wie ein Biologe, der uns etwas von einem "Trieb zur Arterhaltung" erzählt. Die Wissenschaft zeigt, dass es diesen nicht gibt, die Logik erträgt keine Hypostasen.

Eine davon konnte Stirner zerstören.


Anmerkungen:

(1) Der Einzige und sein Eigentum, Bottrop 1986, p. 5sq.

(2) In: Bausteine der Psychoanalyse III, Wien/Leipzig 1938, p. 394sq.

(3) Wie nötig das Gegengift Stirner gegen die metaphysisch kryptoreligiöse Entartung des Marxismus war -- und bleibt --, belegt diese Tagebucheintragung Wilhelm Reichs: "Max Stirner, der Gott, der 1844 sah, was wir 1921 nicht sehen! Irgendwie greift in mir die Überzeugung feste Wurzel, dass eine wirtschaftlich-kommunistische Ordnung ohne offenes Bekenntnis zum Egoismus unmöglich ist" (Wilhelm Reich, Leidenschaft der Jugend, Köln 1994, KiWi 348, p. 191).

(4) Nur solche sind echte Egoisten -- wer, wie der Bauer bei der Fee, eigene Vorteile opfert, um dadurch andere Personen noch stärker zu schädigen, verfolgt ja gerade keinen eigenen Nutzen, sondern zerstört ihn sogar zugunsten eines anderen Zieles. (Der Bauer hatte überraschenderweise von einer Fee einen Wunsch freigestellt bekommen, aber unter der Bedingung, dass sein Nachbar automatisch das Doppelte bekäme; er wünschte sich, auf einem Auge blind zu werden.)

(5) MEW XXIII 72, Anm. 21 -- das "Königtum" als Beispiel für ein gesellschaftliches Verhältnis, das zeigt der Kontext, wird also für eine Natur oder Substanz gehalten, und eben dies bedeutet in Marx' Terminologie der "Fetisch".

(6) Vgl.: "Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel" (op. cit. p. 208); "Strafe hat nur dann einen Sinn, wenn sie die Sühne für die Verletzung eines Heiligen gewähren soll" (ibid. p. 232); "Nur gegen ein Heiliges gibt es Verbrecher: du gegen mich kannst nie ein Verbrecher sein, sondern nur ein Gegner" (ibid. p. 197).

(7) So ein gewisser Panajotis Kondylis, der dabei ganz aufgeklärt-professoral tut und doch mit dem knallharten Klerikalen Baruzzi ins gleiche Horn trompetet [man muss beide nicht kennen; ich zitiere sie nach Bernd A. Laska, einem Stirner-Anhänger unserer Zeit, aus dessen Vorwort zu J. O. de la Mettrie, Über das Glück (»Anti-Seneca«),

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Nürnberg (LSR-Verlag) 1985, bes. p. XX.]

(8) Vielleicht sind hier ein paar Worte aus biologischer Sicht sinnvoll. Leider, leider sind die Menschen von Natur aus durchaus keine Egoisten -- wären sie es, wäre mit ihnen weitaus leichter zu verhandeln, der Appell an ihren Eigennutz verliehe ihrer Vernunft Flügel. In Wahrheit sind sie ohne erhebliche Verstandesanstrengung (die in die Parole münden muss: "Für den egoistischen Körper -- gegen das egoistische Genom!") nur dann und nur so weit Egoisten, als der (metaphorische, denn es sind ja keine Subjekte, sondern nur Chemikalien) "Egoismus" ihrer Gene, welche sie als Hülle und Werkzeug hervorgebracht haben, ihnen dieses aufgibt. Ihre natürlichen Triebe nötigen ihnen viel "Verwandtenhilfe" mit der nötigen irrationalen, d. h. eben nicht-egoistischen, Parteilichkeit auf, dito Unterwerfungsreflexe in Rangkämpfen und -geflechten u. v. a., und lassen sie sogar noch dazu unfreundlicherweise altern und sterben. Nur ein umfassender "Verein von Egoisten", der sich mit den notwendigen Mitteln an die Stelle der vorhandenen Herrschenden gesetzt hat, könnte sie, diesen Stand kann die Technik erreichen, mittels der von eben jenen Herrschenden, die für egoistische Körper statt Genome gar nichts übrig haben, kreischend verschrieenen Genmanipulation Mores lehren.


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