Der folgende Text erschien zuerst in:
Der Einzige, Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr, 3 (15), 3. August 2001, S. 23-31;
er wird, mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers, auf den LSR-Seiten zur Verfügung gestellt, weil er Teil einer Kontroverse ist (Entgegnung auf Bernd A. Laska: Max Stirner - ein Verächter der "Praxis" ?).


Fritz-Erik Hoevels
Stirner, Psychoanalyse und Marxismus - II
Replik auf Bernd A. Laska's Beitrag »Max Stirner -- ein Verächter der "Praxis" ?«


Es ist nicht schön, wenn in einer kleinen und teuren Zeitschrift für ein paar aussenseiterische Intellektuelle zwei halbwegs aufgeklärte und gutartige Menschen in die Arena herabsteigen und sich dort zur Gaudi aller Kräfte der Finsternis einen Gladiatorenkampf der Feder liefern. Ich werde mich daher mit meinem Kritiker Laska nicht herzhaft kloppen, ihm keine ätzenden Ironien um die Ohren hauen und keine hochtrabenden Tiraden gegen ihn führen, sondern nur seine offenkundigsten Missverständnisse meiner Ausführungen richtigstellen. Danach werde ich möglichst kurz ein paar Mutmassungen darüber anstellen, aber nicht deutlicher als nötig, was ihn denn an meiner Position so heftig ärgern mag.

Dass ich meine Gedanken zu Stirner nicht "ausführlich" dargestellt habe, gestehe ich gern; wie teuer selbstbedrucktes Papier ist, weiss ich gut genug, und deshalb hielt ich mich an die Umfangsvorgabe. Ob meine aus diesem Grunde äusserst komprimierten und bisweilen elliptischen Ausführungen auf diesem Wege auch nicht mehr "adäquat und hinlänglich klar" geworden sind, wie Laskas Vorwurf lautet, muss der sorgfältige Leser selbst beurteilen; an einen anderen hatte ich freilich auch nicht gedacht.

Nun möchte Laska an meinem solcherart verdichteten Text eine sprachliche Analyse vornehmen. Gleich zu Anfang macht er allerdings einen mittelschweren Fehler: meine Aufzählung von Kant, Rosenberg und Popper (bzw. Kant, Plato, jedem Religiösen, jedem klassischen Faschisten) ist nur ein Asyndeton und keine Klimax, wie er wortgestisch ("ogott! -- ogottogott!") andeutet und gewagte Schlussfolgerungen auf diesem missratenen Fundament aufbaut: die dämliche Faschismuskeule, mit der heute alles erschlagen werden soll, was Hitler und Mussolini nicht gefallen hätte, liegt mir fern. Es ging mir nur darum -- die Reihenfolge ist primär durch die Zeitfolge bestimmt, Idealist Plato ist eine Art Fussnote zum Idealisten Kant --, anhand als verschieden geltender und jedenfalls zu ihrer Zeit lokal hochangesehener Philosophen eine Gemeinsamkeit derselben herauszustellen, welche sie von Stirner unterscheidet: ihre Gedanken basieren auf einem logischen Bruch, der hinterher schrecklich breit ausgewalzt wird und deshalb entsteht, weil er -- mit Ausnahme der Faschisten, die dadurch fast schon erträglicher wirken, stets als Entlastungsangriff zugunsten der von der Wissenschaft bedrängten Religion -- das Herrschen erleichtert (durch Störung der geistigen Klarheit und/ oder Ablenkung oppositioneller Impulse in praktische oder theoretische Sackgassen). Bei Kant ist dieser Denkfehler der simple Anschluss eines Satzes mit "denn" (oder "daraus folgt" u.ä.) an einen anderen, aus welchem jener Folgesatz mitnichten hervorgeht; der ungeduldig gemachte Leser soll diesen überhüpfen und in der proreligiösen Falle landen (konkret: nicht bemerken, dass es im Gegensatz zu Kants Behauptung keineswegs zwei Erkenntnisvermögen gibt, sondern nur ein einziges, welches ausschliesslich aus dem Vergleich, primär demjenigen gespeicherter Sinnesdaten, hervorgeht, der durch Kombination und Subtraktion -- "Wegdenken" -- erweitert werden kann). Der -- biologischer Unbildung, wie sie heute sogar schon an Biologen zu beobachten ist, zu seiner Zeit aber noch nicht, geschuldete -- Denkfehler Hitlers (in »Mein Kampf«) und sekundär seines Sympathisanten und Philosophen Rosenberg ist die Verwechslung von Rasse und Art. Der Denkfehler des keineswegs harmlosen, sondern als maskierter Wissenschaftsfeind und Hirnvergifter maximal bösartigen und ge-

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fährlichen Popper, jenes gelifteten Kants unserer Tage, ist die Induktionsleugnung sowie sein daraus abzweigendes Induktivismustabu; buchstäblich alle seine auch nur minimal relevanten Ausführungen, wenn man von ein paar als Köder am Bucheingang ausgelegten Gemeinplätzen für Dreiviertelaufgeklärte absieht (durch die der Harmlosigkeitseindruck zustande gekommen sein mag und natürlich auch sollte), bauen auf diesem breitgewalzten Denkfehler auf (also der Leugnung, dass einem irgend etwas auffallen und dadurch Überlegungen und Überprüfungen anregen kann). Die Gemeinsamkeit der drei oder vier genannten "Geistesgrössen", in Wahrheit Geisteszwerge -- für den Ausgang des 2. Weltkriegs bin ich nicht zuständig, aber ich verachte Leute, die ihre intellektuellen Rangvergaben von Kriegsausgängen oder sonstigen Gewalttaten abhängig machen -- besteht also in der herrschaftserleichternden Auswalzung weniger Denkfehler ("Philosophie"), während Stirner keinen Denkfehler macht; das erklärt ihre unterschiedliche öffentliche Wertschätzung und Bezahlung (eine mir durch Marx und Engels, nicht jedoch Stirner, ermöglichte Einsicht), und nichts anderes wollte ich mit dem als angepasst beargwöhnten Satze sagen.

Dass de Sade und Nietzsche, deren Ambivalenzen mir nicht entgangen sind, bei mir verhältnismässig gut wegkommen, hat, anders als Laska orakelt, nichts mit meinem eventuellen "postmodernen" (besser: neo-mittelalterlichen, so nannte ich aus guten Gründen diese Variante des antiliberal-antimarxistischen Geistesverfalls schon vor jener finsteren Wortprägung) Sympathien zu tun -- wer meine Verteidigung Bretons gegen den typisch "postmodernen" Polizzotti, einen linientreuen Schüler des erz-"ostmodernen" Baudrillard, kennt (es lohnt sich!), der bemerkt die Abwegigkeit dieser Unterstellung. Dass aber beide den Fetischcharakter der Moral erkannt haben, de Sade mittels zeittypischer Vernunftkritik (und daher ähnlich wie Stirner), Nietzsche zumindest recht weitgehend durch die Zergliederung ihrer Entstehung, ist nun einmal eine Stirner-Parallele; dass ich die beiden teils aufgrund ihrer mutigen Phantastik (egal, wo diese sich mangels historisch unmöglicher biologischer oder gar psychoanalytischer Kenntnis im persönlich-biographisch bedingten Gestrüpp verheddern musste), teils aufgrund ihrer thematischen Vielfalt als geistig-moralische Anreger mehr als Stirner schätze, mag man mir als Geschmackssache durchgehen lassen. (Freud hatte zumindest zu Nietzsche etwa dasselbe Verhältnis.) Dass de Sade de La Mettries Antipode sein soll, bleibt "Eigentum" des Gegensätze gern verabsolutierenden Laska; in einem, wenn nicht dem Herzstück ihrer Argumentation, nämlich ihrer Religionskritik, senden sie genau auf der gleichen Wellenlänge wie alle entschlossenen Aufklärer -- so ist etwa die recht lange (und treffende) Religionskritik, die de Sade ziemlich zu Anfang seiner »Justine« einer "libertinen" Nebenfigur in den Mund legt, von derjenigen des "tugendhaften" Meslier kaum zu unterscheiden, wahrscheinlich sogar indirekt von ihm abhängig, und de La Mettries Argumente gegen das Schuldgefühl, Laska mag da trennen, wie er will, überschneiden sich, da auf der gleichen logischen Grundlage aufgebaut, auf sehr weite Strecken mit denjenigen de Sades. Dass die restlichen namhaften Aufklärer mit beiden nichts zu tun haben wollten, erklärt sich taktisch, nicht inhaltlich, und ist in dieser Hinsicht wirklich strukturgleich mit Marx' und Engels' ziemlich phobischer Distanz zu Stirner (und Malthus!) sowie derjenigen Freuds zum Kommunisten Reich (und zu den Symbolisten/Surrealisten von Baudelaire bis Breton). Ich habe mich zu diesem Punkt andernorts schon eingehender geäussert (1) und kann das deshalb hier unterlassen. Jedenfalls sollten wir Nachgeborenen, die nicht dieselben Rücksichten wie die Aufklärer/Marx & Engels/Freud zu nehmen haben bzw. nicht genau in deren Situation stecken,

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allerdings auch nicht mehr ihre Chancen haben, uns weniger für diese von den historischen Umständen nahegelegten Einschränkungen bedeutender Personen interessieren als für deren eigentliche, auch von uns verwertbare Leistung, und diese an meiner Darstellung zu beobachtende Haltung macht mir Laska bitterlich zum Vorwurf, weshalb er alle die von mir elliptisch zusammengedrängten Geschichten wieder ausgräbt und nacherzählt. Nun, so erfährt sie immerhin der Leser am Ende doch, wenn er sie noch nicht kennt.

Es ist Laska gelungen, eine reaktionäre Sottise des sterbenden Freud zu präsentieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Echo von Freuds schäbigem bis widerwärtigem Verhalten gegen Reich gewesen ist; inzwischen lässt sich in meinem Reich-Buch die ganze Affäre auch aus meiner Sicht nachlesen, und Laska wird zugeben müssen, dass ich Freuds wahrhaft hässliche Seiten dort weder verschwiegen noch beschönigt habe; ich gestehe aber, dass es mir nicht angenehm war, den Entdecker des Unbewussten und damit auch des Überichs in so düsterem Lichte präsentieren zu müssen. Sottisen finden sich bei Freud, besonders, wenn man seine Privatbriefe hinzuzieht, in noch grösserer Zahl, und sein biologisches Verständnis war, wegen mitgeschlepptem Lamarckismus, unter jeder Sau; das hat auf die Dauer auch seiner Lehre sehr geschadet. (Psychotiker des paranoischen Formenkreises könnten mir jetzt eine Gleichsetzung Hitler-Freud andichten, weil der doch ... aber Rasse und Art konnte Freud immer leidlich auseinanderhalten, auch wenn ihm die grundlegende Bedeutung des Panmixie-Konzeptes bzw. der sexuellen Auslöser sicherlich unklar geblieben ist. Ausserdem waren Hitler und Leonardo da Vinci beide Vegetarier ... aber lassen wir den Unsinn.) Aber es berührt doch schmerzlich zu sehen, zu welch persönlich üblem Verhalten sich der Entdecker unbewusster Motive durch Hitlers drohende Österreich-Annexion hat hinreissen lassen; gewiss war die Richtung seiner fatalen Reaktion schon eine Dekade früher angelegt, aber ohne diesen historischen Hintergrund ("den Faschismus", raunt Laska etwas undeutlich) hätte sie nicht diese krude und krasse Form angenommen.

Richtig ist, dass Freud sich bezüglich der Überich-Frage stets zweideutig und taktisch ausgedrückt hat; wer je in seiner Situation war, werfe den ersten Stein! (Es gab auch deutlichere Stimmen, den zeitweiligen Vorsitzenden der englischen Sektion Eder zum Beispiel, nicht nur Ferenczi, aber die Mehrheit drückte sich auf den Spuren des Meisters und wandelte in diesen oft noch viel weiter nach rechts -- dass die Psychoanalyse bald nach Freuds Tod fast nur noch aus impotent priesterlichen Worthülsen bestand, plapperig, betulich, sachlich falsch und lächerlich zugleich, hatte sich lange angebahnt.) Aber man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: wenn, wie Freud treffend sagt, im Zustande der Gesundheit Ich und Es (= abgespaltene und dadurch der Wahrnehmung entzogene Ich-Teile) identisch sind, welches Agens ausser dem Überich soll denn, in drei Teufels Namen, ihre Trennung bewirkt, den ungesunden Zustand also herbeigeführt bzw. stabilisiert haben, wessen Beseitigung sonst soll denn noch das Therapieziel sein? Wie anders als durch Überich-Abbau soll denn "Ich" werden können, wo "Es" war, also Teile der Person der Wahrnehmung durch eine Blockade entzogen waren? Obwohl sich Freud zugegebenermassen nur indirekt ausdrückt, kann diese Konsequenz höchstens verleugnet, nicht aber vermieden werden. Reich hat die Psychoanalyse nur ein wenig verfeinert und gegen ab 1923 einsickernde Entstellungen und Verunreinigungen verteidigt; zu ihrer Erfindung und den dadurch ermöglichten psychologischen Entdeckungen wäre er nicht in der Lage gewesen, und deshalb blieb er Freud mit Recht lebenslänglich dankbar. Er war sein Schüler und Fortsetzer, nicht sein

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Antipode; auch für jeden Spätergeborenen kann der Weg zu Reich nur über Freud führen, nicht anders als der Weg zu Marx und Engels nur über die Aufklärung (in letzter Instanz sogar, aber das sprengt unseren Rahmen, nur über den Nominalismus: wer diese Erkenntnisstufe, die höchste des 12. Jahrhunderts und die Zier des Abendlands, nicht erreicht hat, lasse Finger und Hirnzellen von jeder Wissenschaft und weiteren Überlegung). Ach ja: zu Stirner, dem extremen Exponenten des von der Aufklärung abgeleiteten Liberalismus, natürlich auch.

Ein Missverständnis muss ich freilich doch noch aufklären, bevor ich zur versteckten Hauptsache kommen kann: meiner Ansicht nach sei eine Theorie ohne Praxis keinen Pfifferling wert. Nun, für eine politische Theorie mag das vielleicht zutreffen -- zu diesem heissen Eisen später --, für eine jegliche Theorie aber nicht. Die durch und durch praxislose Atomtheorie von Epikur und Lukrez, letztlich Demokrit und Leukipp -- weder technische noch gesellschaftliche Anwendungen waren vorgesehen -- ist nicht nur ganz viele Pfifferlinge wert, sondern eher ein paar Lastwagen voll bester Trüffeln. Was von ihr die Zeit der Finsternis überlebte, bildete den Grundstock und das Fundament der Aufklärung -- man merkt das schon sehr deutlich beim Lesen des ältesten und zugleich konsequentesten Aufklärers, Jean Meslier, und noch heute wird die ganze Quantentheologie eines Bohr und des hl. Heisenberg gegen sie aufgefahren, um sie wieder in den historischen Orkus zu bomben. (2) Denn sie gibt dem Individuum, das sie begriffen hat, den unverzichtbaren intellektuellen Halt gegen die Drohungen und Suggestionen der Religion, also gegen jene meist dominierenden bewussten Überich-Derivate (sie werden zwar gesellschaftlich standardisiert und versprüht, wären aber ohne -- unbewusste -- individuelle ödipale Basis viel weniger wirksam), die sowohl die individuelle Deformation noch einmal kräftig festigen wie auch die Lenkbarkeit ihres Trägers im Sinne der Machthaber erheblich verbessern. Die grundsätzliche persönliche Entlastung, die intellektuelle und seelische Befreiung, die der Nachvollzug der lukrezischen Argumentation, d.h. der -- mittlerweile, aber nicht hastig, modernisierbare -- Erwerb der naturwissenschaftlichen Basiserkenntnisse mit sich bringt, die dadurch und nur dadurch spezifisch ermöglichte Ichstärkung sensu Freud also, kann in ihrer heilsamen Wirkung kaum überschätzt werden. (Was das Individuum dann anfängt, wird eine neue Geschichte ...)

Und nun lässt sich en passant ein weiteres kurioses Missverständnis ausräumen, das Laska nur deshalb unterlaufen konnte, weil er im Gegensatz zu mir wohl "psychoanalytisch gebildet", aber nun einmal kein praktizierender Psychoanalytiker ist (peinlich, dass ich diesen Sinn meiner höflichen Wortwahl vom "psychoanalytisch gebildeten Leser" jetzt verraten muss, aber etliche Missdeutungen, auch an anderen Stellen von Laskas Kritik, zwingen mich dazu). Sonst hätte er sich nämlich tausendfach von der geradezu routinemässigen Wahrheit des Satzes überzeugen können: "Auf jeden Ich-Vorstoss folgt ein Überich-roll-back." Dieser Ich-Vorstoss kann aus Handlungen des Individuums bestehen -- es verhält sich z. B. erstmals geschickt in einer Situation, in der es zuvor aus Überichgründen immer tappig oder anderweitig selbstbestraferisch handelte --, er kann aber auch intellektuellen Charakter tragen und etwa Einsichten in reale Zusammenhänge an die Stelle von Theologemen, also gesellschaftlich überformten Überichderivaten setzen (oder deren logische Haltlosigkeit herausfinden). Tritt dies ein, so kann man 1000:1 wetten, dass der Patient demnächst etwas Dummes anstellen oder ein neues Symptom entwickeln wird -- mit irgendeiner Selbstbestrafung, also der Überrumpelung durch einen Überich-Impuls, ist so sicher zu rechnen wie mit dem Amen in der Kirche.

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Nichts anderes vermutete ich als Hintergrund der auf mittlere Sicht ziemlich selbstschädigenden Praxis-Abstinenz Stirners, nachdem ihm mit intellektuellen Mitteln, also blossen Ichleistungen und nicht psychoanalytischen, sozusagen psychogenetischen, Einsichten die Erkenntnis vom Fetischcharakter der Moral gelungen war, eine Erkenntnis, die ihn, was auch immer Laska einwenden mag, mit de Sade vereinigt. Statt dessen steht mein Kritiker blind vor diesem einfachen Gedanken und staunt nur vorwurfsvoll: "Man beachte die Logik: Nach Befreiung vom Überich bestraft dieses dafür." Sancta simplicitas!

Und nun endlich erreichen wir den heiklen Punkt, wo der quietistisch-säkularbuddhistische Hase im Pfeffer liegt: die sogenannte Praxis bzw. Laskas "Praxisfetisch". Diesen gibt es (oder gab es in linken Randkreisen) durchaus; ich habe ihn "Sozialarbeiterei" genannt (nicht identisch mit dem etwas erträglicheren, weil von der Idee der Machtübernahme nicht absolut getrennten, von Lenin als "Handwerkelei" getadelten Phänomen), fand ihn immer sehr dämlich und abstossend und bin bis heute sehr stolz darauf, dass mir ein Lehrer in der Schule einmal zornig attestierte: "Du hast überhaupt kein soziales Empfinden!" In der Tat hoffe ich, von diesem Laster, genau demjenigen des "jungen Genossen" in Brechts geistig-moralisch so klarer und darum vielgeschmähter "Massnahme", so frei zu sein wie Marx und Lenin; dass ich "eine Art leninistisches Programm" empfehle, stimmt nicht ganz, ich empfehle ohne jede Einschränkung Lenins Programm, wie es vor allem in seiner unersetzlichen und wegweisenden Schrift "Was tun?" leicht verständlich niedergelegt ist. Natürlich muss man es zu jeder Zeit modernisieren, die Strukturen statt der Namen wiedererkennen, auch die oft extrem veränderten Kräfteverhältnisse berücksichtigen; niemals darf man sich, eine nominalistische Erkenntnis, von Namen irreführen lassen -- was unter den letzten Zaren "Schwarzhunderter" hiess, nannte sich zwischen den Weltkriegen bzw. bis zum Ende des letzten "Faschisten" oder "Nazis", und heute entsprechen ihm ziemlich genau die Grünen, der SA ganz exakt -- als intellektuell primitive, wirrköpfig brodelnde, das unfehlbare Wohlwollen des Staates und seiner Gerichte aber mit grösster Präzision spürende Schlägertruppe gegen jede aufgeklärte, antiimperialistische und sogar antiasketische Opposition -- witzigerweise die sogenannten "Antifaschisten" ("Schwarzer Block") (3), keineswegs dagegen die schwächlichen, eher den mit beschränkter Perspektive gegen Lohndrücker- und Streikbrecherimport kämpfenden englischen Dock- und Bergarbeitern der 60er-70er Jahre oder spätmittelalterlichen Zünftlern, die Industrialisierung oder Absolutismus abwehren wollten, gleichenden "Neonazis" (oder "Neuen Rechten" im weitesten Sinne -- diese überschneiden sich in einigen Sektoren sogar mit den -- unvergleichlich bedeutenderen -- Narodniki).

Diese Analyse gehört kaum hierher; sie soll nur einen kleinen Teil der Aktualität, Vitalität und Brisanz der Lenin'schen Theorie mit einem Schlaglicht streifen. Lächerlich, läppisch oder kindisch scheint sie mir jedenfalls nicht zu sein, auch nicht ihre sonstigen, hier aus Platzgründen nicht vorgeführten Teile.

Aber ein wunder Punkt ist es, wenn ein machtloser Literat -- dieses Etikett passt tatsächlich -- zu einem Zeitpunkt auf ihre Gültigkeit und mögliche, mehr leider noch nicht, praktische Nützlichkeit hinweist, wo die Arbeiterbewegung, ja alle authentischen Reste des Liberalismus und der Aufklärung, also alles, was Hitler nicht mochte, weltweit kollabiert ist, in einer Zeit also, die am ehesten der Spätantike zu vergleichen ist, in welcher Vernunft und Freiheitswillen aus den Köpfen schwanden, während sich allerhand Irrationalismen in ihnen ausbreiteten, von denen der bestorganisierte und übelste, nämlich das vernunft-, genuss-, wissens- und bildungsfeindliche Christentum, dann den Zuschlag bekam. (Man vergleiche einmal die Schriften

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der Kirchenväter mit den Äusserungen und Empfindungsschwerpunkten der heutigen Grünen oder der klassischen Nazis -- es lohnt sich!) Die Zeit, welche da seit einigen Jahrzehnten düster emporsteigt, ist also am ehesten einem Neuen oder Zweiten Mittelalter zu vergleichen, horrorhafterweise diesmal einem technisierten, und überhaupt nicht dem, was sich Marx oder Lenin unter Kommunismus vorgestellt haben, oder auch nur der bürgerlichen Demokratie sensu Rousseau (oder der alten Schweiz).

Da lässt es sich über jeden, der da im Untergrund die Keime eines Gegengewichts wachsen lassen will, z.Zt. noch weniger wert als der "Bund der Gerechten", lange und unabsehbar lange noch nicht einmal auf der Stufe der immerhin auch sehr schwachen und wirkungsarmen "1. Internationalen", aus quietistischer Sicht trefflich spotten, einer Sicht, deren jeder politischen angeblich so überlegene "Praxis" als der Weisheit höchsten Schluss auf eine Art lathe biosas hinausläuft, eine Weisheit, die schon bei dem an anderer Stelle so unübertrefflichen Epikur nur ganz wenige Pfifferlinge wert war (und die übrigens auch bei Ferenczi nachklingt, der an dieser Stelle bedeutend naiver und beschränkter ist als Freud).

Nun, auch Lenin war die längste Zeit seines Lebens nur ein "machtloser Literat", und nur die Zeitumstände neben seiner mit mir im wesentlichen geteilten politischen Methodik und Zielsetzung haben ihm ermöglicht, der Menschheit, wenn auch nur kurz und bald danach verraten, bedeutend wirkungsvoller zu dienen -- bitte jetzt kein Gezänk über die Begriffe "Menschheit" und "Dienen", ich meine einfach die Grundlegung und Ermöglichung massenhaft bedeutend angenehmerer Verhältnisse, so dass die statistische Aussicht, selber zu deren Nutzniessern zu zählen statt zu den Opfern der entgegengesetzten, extrem erhöht wird --, während ich aufgrund tausendmal chancenärmerer Zeitumstände mit Sicherheit genauso wie Marx, Stirner und natürlich auch Laska als "machtloser Literat" sterben werde, selbst bei bedeutend robusterer Konstitution, als die Natur sie mir verliehen hat. Ob mein politisch-organisatorisches Werk einen Anknüpfungspunkt für spätere Generationen bieten wird, der den Sturz der bestehenden und die Errichtung einer rationalen und humanen Gesellschaftsordnung erlaubt bzw. erleichtert, ist gar nicht sehr wahrscheinlich, aber ich wüsste nicht, wer es mit Sicherheit ausschliessen kann. Ein besserer Organisator als Marx (und schlechterer als Lenin) bin ich jedenfalls gewesen, und besser als er gelebt habe ich, allen manchmal mörderischen Widerständen zum Trotz, auch. Aber alle ästhetischen, sexuellen, kulinarischen, touristischen und geistigen Annehmlichkeiten, die ich zwar mit viel Einsatz und Kalkül, aber durch die vorübergehend besseren Zeitumstände in viel grösserem Masse als Marx oder auch Freud entgegen dem, was für einen Nichterben vorgesehen ist, erreichen konnte, hätten mir als Quietist und damit Stiefelabtreter der Behörden und Mülleimer der Presse (eine Glotze ersparte ich mir immer) nur einen schalen Dreck bedeutet -- ohne erfolgsorientierte, maximal realistisch kalkulierte organisierte Gegenwehr, auch bei äusserst geringen Chancen, aber stets ohne Verschenken, scheint mir entweder die Menschenwürde oder die psychische Gesundheit oder beides flötenzugehen -- das ist wohl das tiefste Geheimnis eines schöpferischen und rationalen Leninismus, und da ich in dieser Frage ebenso Partei bin wie Laska, sollten wir vielleicht beide das Urteil über Kindischkeit oder Läppischkeit dieser Haltung späteren Generationen überlassen.

Nun aber etwas, das leichter entschieden werden kann. Man wird bemerkt haben, dass mindestens die Hälfte meiner Überlegungen auf dem basiert, was Marx und Engels etwas unglücklich den "historischen Materialismus" nennen, etwas unglücklich deshalb, weil bei dem Wort "Materialismus" der erste

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Gedanke "Physik vs. Religion" lautet, der hier nichts zu suchen hat; ich habe als Ersatz (und natürlich auch als Parallele zu Freuds Lebenswerk) "Ökoanalyse" vorgeschlagen, und gemeint ist damit vor allem die Erkenntnis, dass der Untersucher anderer Epochen (oder Völker) nicht bei der Untersuchung deren Illusionen übernehmen darf; er wird dann zu dem Ergebnis kommen, dass letztlich die Produktionsverhältnisse über die Herrschaftsverhältnisse entscheiden und diese wiederum über Entstehung und Verbreitung der Ideen (ich habe diese Theorie, die meines Erachtens nichts Geringeres als den Schlüssel zu jeglicher Geschichte enthält, welche ohne sie überhaupt nicht verständlich wäre, durch Einfügung einer Selektionstheorie dessen verfeinert, was Dawkins nach mir in seiner wesentlich rudimentäreren Theorie "Meme" nennen sollte). Darin sehe ich die grösste theoretische Leistung von Marx und Engels, welcher bei Stirner (und selbstverständlich auch de Sade, de La Mettrie und sämtlichen anderen Aufklärern) überhaupt nichts auch nur annähernd qualitativ Vergleichbares zur Seite zu stellen ist -- auf dieser Waage steht ein Hirschkäfer einem Elefanten gegenüber, und es ist dabei auch nicht wirklich wichtig, ob im Sinne irgendeiner Fabel der Hirschkäfer dem Elefanten einmal nützlich gewesen sein sollte, über das Embryonalstadium hinauszukommen -- man spotte über den Vergleich, wie man will, er soll nur die Bedeutungsverhältnisse verbildlichen. Dass "das Sein das Bewusstsein bestimmt", scheint mir mehr eine Selbstverständlichkeit als etwas "Mirakulöses" zu sein; dass z. B. Verhältnisse (das ist das "Sein"), in welchen kluges und zielstrebiges Verhalten durchschnittlich häufig zum persönlichen Erfolg führt, Intelligenz und psychische Gesundheit fördern (und diese demgemäss in der dazugehörigen Epoche und Gesellschaft, z. B. der klassischen Antike, der frühbürgerlichen Städte oder der konkurrenzkapitalistischen Gesellschaft um 1789 herum, weit verbreitet sind), während eine entsprechende Hoffnungslosigkeit, in der höchstens hin und wieder Arschkriecherei und Wieseligkeit, nie aber Tüchtigkeit die persönliche ökonomische Lage verbessern können, Irrationalität und unsolidarisches Verhalten hervorruft ("Du musst ein Schwein sein" -- aber was hilft selbst das, wenn die Schweine Schlange stehen?), wie es eben in Spätantike und Frühmittelalter der Fall war (und eben auch in unserem globalen Monoimperialismus), scheint mir so schwer zu bestreiten zu sein, dass, falls das doch eintritt, eine Art Lebenslüge gefährdet worden sein muss. Dass das "Sein" in einer Gesellschaft, die durch Wirtschaftsplanung und Arbeitszeitverkürzung Sicherheit vor Erniedrigung auf Almosenstatus, durch Geburtenkontrolle Luft und Ressourcenverfügbarkeit schafft, auf das intellektuelle Niveau und mentale Befinden der überwiegenden Menschenmehrheit die tiefgreifendsten Auswirkungen hat, ist doch weit mehr als wahrscheinlich (ich lege diesen Schlussfolgerungen, sogar im Gegensatz zu den hier traditionelleren, unmittelbar an der Aufklärung anknüpfenden ["traditionell-utopischen"] Marx, Engels und Lenin, die aus der Biologie bzw. Tierpsychologie u.ä. gewonnene "Lerntheorie" zugrunde, doch dies zu erläutern sprengt unseren Rahmen -- der Gedanke selbst findet sich aber lange vor mir illustriert in Brechts »Gutem Menschen von Sezuan«). Diese freilich ihre Zeit brauchende "Praxis" einer Erziehungsdiktatur -- die nach einigen Generationen leidlich ungestörten, nicht durch "Totrüstung" verelendeten Bestandes sogar zur Selbstregulierung der politischen und ökonomischen Probleme der grössten Mehrheit, also einer Art fundamentaler, diesmal klassenlosen, Demokratie führen könnte -- hat noch niemanden "desillusionieren" können, aus dem einfachen Grunde, weil sie erstens Zeit braucht, zweitens nicht in einer belagerten Festung gedeihen kann, in der es an dem Nötigsten fehlt, und drittens als Ziel-

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setzung der sowjetischen Führung sehr bald nach Lenins Tod verlorenging -- Gorbatschow war Stalins allerlegitimster Erbe und heimlicher End-Willensvollstrecker. Oder glaubt Laska gar, leninistische Zielsetzungen in Stalin zu entdecken, so, wie sie ihm die Propaganda beider Seiten aus naheliegenden Gründen (um den Marxismus schlechtzumachen/um Stalins und seiner matten Epigonen Herrschaft zu rechtfertigen) gegen alle Realität unterstellt hat und noch lange (auf der einzig überlebenden Seite natürlich) unterstellen wird, weil das nun einmal propagandistisch so bequem ist? Zuzutrauen wäre es ihm leider schon. Aber an den Früchten erkennt man den Baum, und daher an den Handlungen, nicht den Worten, die Ziele eines Menschen.

Denn das allerbilligste Ideologem, das das allerdümmste Studienrätchen aus seiner Gebetsmühle schnurren lässt, gegen Gehalt aus unseren Steuergeldern natürlich, dasjenige von einer Art mechanisch-mystischem Optimismus als tiefstem oder gar einzigem Gehalt des Marx/Engels'schen "historischen Materialismus", hirnlos vor- und nachgebetet in mittlerweile allen Schulklassen und Glotzen dieser Welt, ist er sich nicht zu schade ebenfalls in den Mund zu nehmen -- traurig. Natürlich haben Marx und Engels sich zu einem -- auch von der Aufklärung geerbten, aber ist das in einer allgemeinen Aufstiegszeit derart unverzeihlich? -- voreiligen Optimismus hinreissen lassen und diesen mit ihrer Analyse der Geschichte und Gesellschaft unglücklich vermischt, gerade so wie Freud seinen auch nicht ganz so realistischen Pessimismus mit seiner Lehre, was ihm aus durchsichtigen Gründen weniger verübelt wird, und aus dieser Voreiligkeit kauen die kleinsten Geister und die grössten Reaktionäre unermüdlich und schadenfroh ihren Zucker -- aber muss ein Laska, sonst nicht gerade gleichgeschaltet, bei dieser dämlichen Niedrigkeit mitmachen? Traurig! Denn der Schlüssel zu allen historischen Phänomenen -- tausend statt den zweien dieses Aufsatzes könnte ich mühelos demonstrieren, bei grösserem historischen Wissen leicht zehntausend -- ist doch ein bisschen etwas anderes als das knarrend dürftige Dogma, das die Lehrerlein und Zeitungsfritzen wiederkäuend aus ihm machen.

In Wahrheit hat Marx bei allem optimistischen Überschwang, der so schädlich und ausnutzbar in den Vordergrund trat, an die entgegengesetzte Möglichkeit -- wenn in den Industriestaaten die proletarische Revolution, bevor der technische Fortschritt die Streikwaffe stumpf macht, eben nicht klappt -- durchaus auch gedacht, wenngleich etwas leise: "Dann fängt die ganze Scheisse von vorne an." (4) Danach sieht leider wirklich alles aus, das Zweite Mittelalter klopft an die Tür, alles Freie, Kluge und Leuchtende, für das lange die Arbeiterbewegung stand so wie vorher die kommunale Bewegung, scheint vernichtet. Um so wichtiger, sich auf dem unvermeidlichen Gang in die Katakomben nicht mit überflüssigem Quietismus/Individualismus zu belasten -- und bei den Vorarbeiten zu einem möglichen Neuanfang einer irgendwann einmal vielleicht doch siegreichen rationalen Opposition das nötige geistige Gepäck nicht zu vergessen. Lukrez, Darwin, Marx, Freud und Lenin gehören dazu. Reich und erst recht Stirner sind nur nützliche Ergänzungen. Der einzige Vorteil dieses furchtbar mühsamen Neuanfanges besteht ausschliesslich darin, dass dieses geistige Gepäck mehr und "heimtückischere" Waffen enthält als jedes vorher.


Anmerkungen:

(1) F. E. H., Marxismus, Psychoanalyse, Politik (Freiburg 1983), p. 221sq.

(2) Siehe dazu B. Zweistein, Quanten sind anders, Ketzerbriefe 99, Freiburg 2001, p. 34-56.

(3) Die Schlägerfäustchen sassen ihnen, wer sie nicht beobachtet, merkt es nicht, sehr locker gegen die zumindest moralischen Verteidiger des von imperialistischen Truppen angegriffenen Iraks und Serbiens sowie gegen die Befürworter der Fristenlösung, wie die DDR sie schon besass; sie werden ihnen auch zur Verteidigung jeder ernsten lohn- und lebensstandardsenkenden Massnahme locker sitzen, Kanonen statt Butter, Serbentöten statt Rind-

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fleischessen, und möglichst viel Inflation und Gebären bei gleichbleibenden Löhnen! So sehr sie also mentalitäts- und tendenzmässig Hitlers Stürmern gleichen, so unterscheiden sie sich allerdings von ihm und diesen politisch dadurch, dass sie in letzter Instanz auswärtigen Herren dienen.

(4) Siehe dazu und zu der ganzen Fragestellung: Leo Trotzki, Die verratene Revolution, cap. III, subcap.: Die "verallgemeinerte Not" und der Gendarm (dt. Originalausg. 1936, p. 58sqq., zahlreiche Reprints).


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Bernd A. Laska: Karl Marx -- ein lärmender Quietist