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Diese Datei enthält verschiedene kürzere Texte zu Reich, die nicht in direktem Bezug zum LSR-Projekt zu stehen brauchen. Derzeit sind enthalten:

Rezension - Wilhelm Reich: Menschen im Staat (ed. 1995)

Rezension - Jerome Greenfield: USA gegen Wilhelm Reich

Rezension - Mairowitz/Gonzales: Wilhelm Reich kurz und knapp

Leserbrief zu Henryk M. Broder: Orgonon - Reichs letztes Heim

Rezension - Harry Mulisch: Das sexuelle Bollwerk

Leserbrief zu Stefan Blankertz: Wilhelm Reich - fast ein libertärer Märtyrer

Seminário Wilhelm Reich, São Paulo, novembro 2002
Wilhelm Reichs Wirkung - aktuell und potentiell (Überblick)
Efeito de Wilhelm Reich - atual e potencial (sumário)

Wilhelm Reich e a educação de crianças (sumário)
Wilhelm Reich und die Kindererziehung (Überblick)

 

Aus: Dr.med. Mabuse. Zeitschrift im Gesundheitswesen, Nr. 105, Jan./Feb. 1997, S. 56

Wilhelm Reich
Menschen im Staat

Stroemfeld-Nexus, Frankfurt/M 1995, 295 S., 38 DM
Rezension von Bernd A. Laska

Wilhelm Reich (1897-1957) veröffentlichte zu Lebzeiten zwei umfangreichere autobiographische Bücher: 1942 »The Function of the Orgasm« (das 1969 auf deutsch als »Die Funktion des Orgasmus« erschien und nicht mit dem 1927 erschienenen Buch gleichen Titels verwechselt werden sollte) und 1953 »People in Trouble« -- beide, da er im amerikanischen Exil lebte, zuerst in englischer Übersetzung, beide, wie all seine Schriften seit 1933, im eigenen Verlag. »Menschen im Staat« ist -- mit einigen Einschränkungen -- die Originalversion von »People in Trouble«. Das erste Buch ist Reichs wissenschaftliche Autobiographie, das zweite seine politische, nur dass er sie nicht so nannte, da das Wort Politik ihm inzwischen nicht mehr geeignet erschien, um es auf sich und seine Vergangenheit anzuwenden. Beide für einen Text dieser Art recht merkwürdigen Titel -- »Menschen im Staat« und »People in Trouble« -- hat Reich selbst gewählt, aber nirgends erläutert. In ihnen könnte man den Ausdruck einer generellen "anarchistischen" Tendenz seines Werkes vermuten -- die man Reich gelegentlich, wenn auch nur in polemischer Absicht, unterstellt hat, die er aber stets verneinte (vgl. etwa S. 143), weil er keiner der existierenden Richtungen des Anarchismus ideologisch nahestand (die Anarchisten, meinte er, überschätzten die Freiheitssehnsucht und ignorierten die Unfähigkeit zur und die Angst vor der Freiheit der meisten Menschen).

Reich hat »Menschen im Staat« zum grössten Teil in den Jahren 1936/37 geschrieben, zu einer Zeit, als er sich, nach zehnjährigem politischen Engagement in der Arbeiterbewegung, endgültig vom Marxismus löste. Er hat den Text aber bis 1953 mehrmals erweitert, revidiert, redigiert, so dass schliesslich, wie auch bei seiner auf ähnliche Weise überarbeiteten »Massenpsychologie des Faschismus« (1933, 1946), eine passagenweise recht inhomogene Darstellung entstanden ist, der eine Kommentierung gut getan hätte -- die aber die heutigen Inhaber der Rechte an Reichs Werken nicht erlauben.

Die vorliegende Ausgabe unterscheidet sich von den bisher erschienenen (1953 engl., 1976 engl. neu übers., 1982 dt.) vor allem dadurch, dass sie in annähernd "historisch-kritischer'' Weise auf dem Originalmanuskript basiert, also z.B. auch Passagen, die Reich darin gestrichen. hat, als solche gekennzeichnet, enthält und dadurch die fehlende Kommentierung wenigstens teilweise wettmacht. Diesen nicht unerheblichen Vorzug gegenüber der früheren deutschen recht nachlässig edierten Ausgabe (1982) verschweigt der Verlag ebenso wie weiteren editorischen Aufwand: Neuübersetzung der ca. zehn Prozent des Gesamttextes, den Reich in Englisch abgefasst hat und Beseitigung der z.T. massiv sinnentstellenden Transskriptionsfehler. Deshalb sei hier darauf hingewiesen, dass die Anschaffung dieser Edition sich, ein näheres Interesse an Reichs Biographie vorausgesetzt, auch für Besitzer der Ausgabe von 1982 lohnt.

Zum Inhalt: Reich gibt, beginnend mit seiner Politisierung durch den blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstand vom 15. Juli 1927 in Wien, "eine Bilanz seiner Erfahrungen in sozialistischen und psychoanalytischen Bewegungen" aus einer Dekade, in der dort wirklich Entscheidendes geschah. Die Rolle, die Reich und die von ihm initiierte SexPol damals spielte, wurde allerdings bisher -- in der sozialistischen wie in der psychoanalytischen Geschichtsschreibung -- kaum wahrgenommen oder bewusst ignoriert, so dass Reich meist gar nicht erwähnt wurde. Diese Marginalisierung Reichs könnte, zumindest was die Geschichte der Psychoanalyse angeht, bald mit anderen Augen gesehen werden. Denn in letzter Zeit kamen, als Nebenprodukt der um Jahrzehnte verspäteten Erforschung der Politik, die die noch von Freud geführte Psychoanalyse gegenüber dem Nationalsozialismus betrieben hatte, einige lange verborgene Tatsachen ans Licht, die die kanonisierte Darstellung der Ereignisse sehr in Frage stellen und Reichs Position nicht länger zu ignorieren erlauben könnten.

Insofern kommt den Abschnitten von »Menschen im Staat«, in denen Reich seine Auseinandersetzungen mit den Psychoanalytikern und seinen Ausschluss aus deren Organisationen beschreibt, eine über das Biographische hinausgehende Bedeutung zu, wenngleich Reich natürlich die gegen ihn gerichteten geheimpolitischen Winkelzüge nicht im Detail kennen konnte. Hier ist noch viel aufzuklären, insbesondere. wenn man sich nicht damit begnügt, Freuds geheime Anweisung, Reich um jeden Preis auszuschalten, auf Reichs politische Aktivitäten zurückzuführen, sondern den darunterliegenden Konflikt zwischen Freud und Reich, der klar belegbar begann, bevor Reich sich politisch betätigte, nicht weiterhin tabuisiert halten will. Die Austragung dieses für die Psychoanalyse grundsätzlichen Konfliktes wäre, trotz 70-jähriger Verzögerung, gewiss von grösserer Bedeutung als das derzeit vor allem in den USA modische Freud bashing.

Bernd A. Laska

Aus: Dr.med. Mabuse. Zeitschrift im Gesundheitswesen, Nr. 108, Juli/Aug. 1997, S. 80

Jerome Greenfield
USA gegen Wilhelm Reich

Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting, Ango Laina, Karl Heinz Siber
Zweitausendeins, Frankfurt/M 1995, 486 S., 36 DM
Rezension von Bernd A. Laska

Nachdem Reich Anfang 1933 Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte und kurz darauf aus der Kommunistischen Partei und aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen worden war, setzte er seine Arbeit in Skandinavien fort. Doch seine Feinde liessen ihn nicht in Ruhe. Geschürt nicht zuletzt von Kommunisten und Psychoanalytikern, setzte hier bereits 1935 eine "faschistische" Pressekampagne ein, die sich über Jahre erstreckte und mit weit über hundert (!) Artikeln bewirkte, dass Reichs Exil für ihn immer unsicherer wurde.

Die Sorge Reichs um die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung teilte mit ihm, seit dem "Anschluss" Österreichs im März 1938, der deutsche Gesandte in Oslo, wo der bis dahin österreichische Staatsbürger Reich damals lebte. Deshalb bat dieser das Auswärtige Amt in Berlin, die Ausbürgerung des "Juden Reich" beschleunigt zu betreiben, weil die Gefahr bestünde, dass dieser von den Norwegern nach Deutschland abgeschoben werde. Noch vor Abschluss des Verfahrens gelang es jedoch einem amerikanischen Schüler Reichs, dem unerwünschten Immigranten ein Visum für die USA zu besorgen, so dass Reich sich Ende 1939 in New York niederlassen konnte.

Doch auch hier konnte Reich nicht lange unbehelligt arbeiten. Nachdem es ihm schnell gelungen war, in den USA qualifizierte neue Schüler und Mitarbeiter, meist Mediziner, zu gewinnen und sich auch publizistisch zu etablieren, setzten erneut und zunächst aus den gleichen Kreisen wie zuvor offene und versteckte Angriffe gegen ihn ein. Ein prosowjetischer Publizist, ein Wortführer der damals noch zahl- und einflussreichen sog. fellow travellers,  rief 1946 aus Anlass des Erscheinens von Reichs antistalinistischer »Mass Psychology of Fascism« alle progressiven Intellektuellen auf, Reichs "Psychofaschismus" zu bekämpfen.

Daraus entstand jedoch durchaus keine seriöse öffentliche Debatte, die Reich sich ja nur hätte wünschen können. Statt dessen kam, wie gehabt, ein geschickt eingefädelter und komplizierter Prozess in Gang, der schliesslich die beispiellose (? -- Greenfield nennt keine vergleichbaren Fälle) Möglichkeit schuf, dass im "freiesten Land der Welt" alle Schriften Reichs auf Gerichtsbeschluss hin verbrannt wurden und Reich zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde -- während deren Verbüssung er 60-jährig starb.

Der Verlauf dieser Kampagne lässt sich hier nicht gerafft referieren, zumal zu ihrem Verständnis sowohl die Entwicklung von Reichs Arbeit (von der Charakteranalyse zur "Orgonomie" mit all ihren Verzweigungen) als auch Reichs Verhalten gegenüber jenen Angriffen detailliert dargelegt werden müssten. Soweit der Vorgang anhand der Dokumente, die nach Inkrafttreten des Freedom of Information Act  Anfang der siebziger Jahre einsehbar wurden, rekonstruiert werden konnte, hat Jerome Greenfield in seinem im Original 1974 erschienenen Buche gute Arbeit geleistet.

Offenbar sind seither keine weiteren relevanten Quellen zugänglich geworden (insbesondere die Auswertung des Reich-Nachlasses blieb bisher einer einzigen Person vorbehalten, die zu diesem Komplex jedoch nichts publizierte), so dass Greenfield sein Buch nach zwanzig Jahren unverändert erscheinen liess, ein Buch, das jedoch noch immer spannend zu lesen ist und auch demjenigen zu denken geben wird, der der wissenschaftlichen und politischen Entwicklung des späten Reich mit grosser Skepsis begegnet.

Bernd A. Laska

Aus: Dr.med. Mabuse. Zeitschrift im Gesundheitswesen, Nr. 108, Juli/Aug. 1997, S. 70

David Zane Mairowitz / German Gonzales
Wilhelm Reich -- kurz und knapp

Aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori
Zweitausendeins, Frankfurt/M 1995, 167 S., 20 DM
Rezension von Bernd A. Laska

Sogenannte Sachcomics hatten Ende der siebziger Jahre Konjunktur. Marx, Lenin und Mao, Freud und Einstein, Atomkraft und Ökologie, vielerlei wurde damals "für Anfänger" als leichte Kost verkauft, meist allerdings von "Fortgeschrittenen" mit mehr oder weniger Vergnügen konsumiert. Als einer der letzten dieser meist im Original in Englisch verfassten Titel erschien 1986 »Reich for Beginners«. Während seine Vorgänger meist umgehend ins Deutsche übertragen wurden, brauchte er dafür fast ein Jahrzehnt, verdankt er sein Erscheinen wohl überhaupt nur dem Umstand, dass der Verlag Zweitausendeins Mitte der neunziger Jahre begann, Reichs Spätschriften (zur "Orgonomie") herauszubringen.

Der Verlag stellt denn auch ein »Orgonakkumulator-Handbuch« in den Vordergrund seiner Werbung und propagiert sein Reich-Programm mit der FAZ-Schlagzeile »Die zweite Renaissance des Regenmachers«. Dies und die Gestaltung des Umschlags des Buches -- er zeigt Reich in einer "Orgon-Kiste" sitzend -- könnte den Eindruck erwecken, dass in dem hier anzuzeigenden Buch, wie oft in Darstellungen amerikanischer Autoren, Reich in erster Linie als "Entdecker der Orgonenergie", als Pionier des New Age  etc. dargestellt wird. Das jedoch wäre eine bedauerliche Täuschung.

Der Textautor und konzeptuelle Gestalter des Buches, David Zane Mairowitz, ist, anders als die meisten der englischen bzw. amerikanischen Autoren, die bisher über Reich schrieben, mit der deutschen Sprache und, was im Falle Reich sehr wichtig ist, mit der Geschichte und den Problemen der europäischen Arbeiterbewegung gut vertraut. Er war deshalb in der Lage, zusammen mit dem ihm kongenialen Zeichner German Gonzales eine weitgehend chronologisch gehaltene Werkbiographie vorzulegen, die deren wesentliche Stationen prägnant und, soweit dies in diesem Genre möglich ist, korrekt darstellt. Falls ein Leser das Buch tatsächlich als "Anfänger" liest, kann er wirklich gut Lust bekommen, tiefer einzusteigen. Und mancher "Fortgeschrittene" wird neben dem Lesevergnügen hier und da etwas lernen können.

Leider fehlen in der deutschen Ausgabe die sieben Seiten des "Epilogs", in dem Mairowitz einige Schlaglichter auf die Folgen der fehlgegangenen bzw. ausgebliebenen Rezeption Reichs wirft und auf einige nicht weithin bekannte, aber durchaus wichtige Eigentümlichkeiten der Editionspraxis Reichs und seiner Nachlassverwalter hinweist.

Aus: Psychologie heute, Juni 1997, S.6

»Über Reich ernsthaft reden«

(Leserbrief zu Henryk M. Broder: Orgonon -- Reichs letztes Heim, Heft 3/97)


Eine "Reportage", wie die Rubrizierung anzeigt, ist derArtikel von Henryk F. Broder, den Sie zum 100. Geburtstag Wilhelm Reichs abdruckten, gewiss nicht, eher eine als solche maskierte Plauderei, [aber leider auch nur eine, die viel zu gedehnt und zudem zu belanglos geraten ist, um -- wie immer man zu Reich steht -- unterhaltsam zu sein, geschweige denn informativ.]

Dabei hätte der Autor, der nebenbei Reichs Faschismusanalyse immerhin "überzeugend" findet, im Falle Reich durchaus Gelegenheit gehabt, investigativ tätig zu werden.
Beispiele:
1) Broder erwähnt die gerichtlich angeordnete Verbrennung von Reichs Büchern in den USA 1956 wie eine Alltäglichkeit. Es wäre interessant, die Begründung für diese Aktion und ihre Stellung in der US-Rechtspraxis zu erfahren.
2) Broder sieht in Reichs Bibliothek ein Freud-Porträt mit einerAbschiedswidmung Freuds von 1925 und denkt sich nichts dabei. Reich verliess jedoch, was Broder wissen sollte, Freuds Psychoanalytische Vereinigung nicht 1925 und nicht freiwillig; er wurde mittels eines meisterhaften Intrigenspiels, das erst seit kurzem Stück für Stück aus den Archiven ans Licht kommt, schliesslich 1934 ausmanövriert. Dahinter steckte ein nie deutlich explizierter fundamentaler Gegensatz zwischen Freud und Reich, der offenbar tabu war -- und im Grunde noch ist. Zumindest ein Hinweis auf die Problematik, die im Verhältnis Freud/Reich verborgen ist, war hier zu erwarten.
3) Broder spricht mit der Frau, die Reichs Nachlass seit 1959 verwaltet, ist beeindruckt davon, dass sie -- "keine Reichianerin" -- diese Arbeit ehrenamtlich macht, und meint, Reich habe mit ihr "wenigstens posthum Glück gehabt". Hätte er sich etwas mit ihren postumen Reich-Editionen befasst und wenigstens hinter die [vordersten] Kulissen ihrer Nachlasspolitik geschaut, so hätte er auch hier reichlich Material für eine kritische Reportage finden können.

Aber Broder scheint offensichtlich der Auffassung zu sein, als Nicht-Reichianer könne man über Reich nicht ernsthaft reden.  So verlegt er sich auf das wohlfeile Spötteln über Orgon, Ufos , Regenmachen. Da ist mir der präpostmoderne Ernst, mit dem Freud und die "liberalen" Psychoanalytiker Reich zielstrebiger bekämpften als einst die "totalitären" Politiker, doch lieber.

Bernd A. Laska
Nürnberg

 

Aus: Dr.med. Mabuse. Zeitschrift im Gesundheitswesen, Nr. 122, Nov./Dez. 1999, S. 70-71

Harry Mulisch
Das sexuelle Bollwerk
Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich

Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 1999, 200 S., 14,90 DM
Rezension von Bernd A. Laska

Dieses Buch des mittlerweile international berühmten holländischen Autors stammt aus dem Jahre 1973. Es wurde anlässlich des "Wilhelm-Reich-Jahres" 1997 (100. Geburtstag, 40. Todestag) erstmals ins Deutsche übersetzt und von Hanser verlegt. Schon im Februar 1999 folgte die Taschenbuchausgabe, was von gutem Absatz zeugt. Ein Grund dafür lässt sich aus den bisherigen, meist lobenden Rezensionen entnehmen. Katharina Rutschky ist gewiss repräsentativ für ihre Generation -- die damals "in fernen Studententagen [wie ich (=K.R.)] aus damals gegebenen Anlässen ... auch einmal Reichianer waren" -- wenn sie den von ihr rundum bewunderten "Eulenspiegel" Mulisch insbesondere aus zwei Gründen hoch preist: 1) weil er es "dem älteren Leser erspart, sich seiner Jugendtorheiten zu schämen" und 2) weil er es "dem jungen [Leser] von heute erlaubt, das unbezweifelbare Genie, das Reich war, auch in seiner wahnsinnigen Lächerlichkeit zu respektieren." (FR, 19.3.1997)

Mulisch beschreibt in dem Buch recht ausführlich, wie er als 45-jähriger, der zuvor Orientierung bei Ouspensky und bei den Rosenkreuzern gesucht hatte, an einem Schicksalstag, dem 4. November 1972, auf Reich stiess, genauer: auf Reichs Buch »Die Funktion des Orgasmus«. Er beeilt sich zu versichern: "Nicht etwa, dass ich Probleme mit dem Orgasmus hatte und nun ein Heilmittel zu finden hoffte -- wenn ich komme, schlägt der liebe Gott persönlich mir mit einem Eichenbrett den Kopf vom Rumpf... Ich kann auch, je nachdem wie ich möchte, meinen Orgasmus nach einer halben Minute oder erst nach einer Stunde erreichen." (20) Sei's drum, Reichs Buch ist ohnehin kein Traktat über den Orgasmus, schon gar kein Therapeutikum, sondern eine wissenschaftliche Autobiographie, in der Reich seinen intellektuellen Werdegang bis ca. 1940 darstellt. Und dieser faszinierte und irritierte Mulisch offenbar ausserordentlich. Er las von Reich "alles, was ich in die Finger bekommen konnte". (51) Aber erst ein Buch über  Reich, die Biographie, die Reichs dritte Frau Ilse Ollendorff geschrieben hat, lieferte Mulisch dann die erlösende Einsicht in den "Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich".

Was Mulisch aus dieser Biographie entnahm, war vor allem die über weite Strecken spekulative Rekonstruktion von dramatischen Ereignissen aus Reichs Kindheit und Jugend und von deren vermeintlichen Konsequenzen. Jetzt ging es ihm auf, "dass alles, was Reich je gesagt und geschrieben hat, auf diese maximal acht Elemente zurückgeführt werden kann: 1. Der kleine Junge; 2. Das Schlüsselloch; 3. Der Orgasmus der Mutter; 4. Der Hauslehrer; 5. Das Verraten; 6. Der Selbstmord der Mutter; 7. Das Verschwinden des Hauslehrers; 8. Der verzögerte Selbstmord des Vaters im kalten Wasser." (179)

Man staunt, wie schnell Mulisch seine Auseinandersetzung mit Reichs umfangreichem Werk beendet hat. Schon 1973, wenige Monate nach seiner dramatischen Konfrontation mit Reichs »Die Funktion des Orgasmus«, erschien seine Bilanz von "Sinn und Wahnsinn". Man merkt sofort: Es war Reichs Auffassung des Sexuellen, die Mulisch nicht ertragen konnte. Er, der sozusagen als Qualifikationsnachweis -- manche meinen: ironisch -- ein Gerücht referiert, wonach er "mit 2000 Frauen im Bett" (72) gewesen sein soll, mokiert sich denn auch über den "moralistischen, ja prüden Hintergrund von Reichs Denken".(71) Zugleich preist er Reich durchaus als "genialen Psychoanalytiker" (86), durch dessen "Charakteranalyse ... zum ersten Mal 'Menschenkenntnis' zur Wissenschaft wurde." (93) Dennoch: "Reich hat immer fanatisch und undifferenziert monistisch gedacht." (121) An anderer Stelle meint Mulisch wiederum, "dass meine Interpretation von Reichs Werk ... gewisse Ähnlichkeit mit der Methode hat, die Reich anwandte", (178) und spricht von den "zahllosen Parallelen, die es zwischen Reichs und meinem Leben gibt." (185) Reichs "neueste politische Ideen [1940: 'Arbeitsdemokratie'], die unverkennbar einen korporativ-faschistischen Stempel trugen", (161) sind ihm natürlich ebenso "widerlich" wie Reichs »Rede an den Kleinen Mann«. (163) Dieses Hin und Her Mulischs hielten Rezensenten für ein Zeichen distanzierten und souveränen Urteilens.

Mulischs Buch, voller Ambivalenz gegenüber seinem Gegenstand, war indes ersichtlich ein Schnellschuss zur Abwehr nach kurzer Konfrontation. Dass er nicht traf und dass Mulisch persönlich dennoch das unbewältigte Problem Reich leicht verdrängen konnte, blieb unbemerkt, weil er in den folgenden Jahren eine glänzende Karriere als Schriftsteller machte. Als man ihm deshalb 25 Jahre später die Neuauflage jenes längst vergessenen und im Grunde belanglosen Buches antrug, mochte er nicht ablehnen, obwohl er das Thema für antiquiert hielt: "Ich glaube nicht, dass einer jetzt Reich lesen soll, um etwas zu lernen. Was er Vernünftiges gesagt hat, ist längst ins allgemeine Bewusstsein übergegangen." (Profil, Wien, 24.3.1997, S. 100)

Aus welchem Grund aber liest welche Lesergruppe heute dennoch relativ zahlreich und meist mit zustimmender Genugtuung Mulischs eher private Abrechnung mit Reich aus dem Jahre 1973? Es sind wohl vor allem jene "Alt-68er", die mit Mulischs Hilfe das, was sie heute als ihre "Jugendtorheiten" (Rutschky) bezeichnen, noch einmal und noch weiter wegschieben wollen. Sie übersehen bereitwillig Mulischs unsichere Pose, nehmen ihn als zeitgemäss locker, humorvoll, souverän. Harry Mulisch treffe Reich "auf Augenhöhe", schreibt begeistert der psychoanalytische Autor Michael Schröter (taz, 20.3.1997), der auch in der Fachpresse gegen einen -- freilich bloss eingebildeten -- "Mythos Reich" streitet. Tatsächlich ist Mulischs Perspektive aber die, die er Reich unterstellt: durchs Schlüsselloch.

Mulischs Schrift gehört zu jenen Texten, die, obgleich von der Substanz her belanglos, deshalb Interesse verdienen, weil sie trotzdem von vielen Lesern mit einem erstaunlichen Enthusiasmus begrüsst werden. Das Buch und seine aktuelle Rezeption kann einigen Aufschluss geben über das Schicksal der "Ideen von 1968", von denen einige heute vielleicht doch nicht so obsolet sind, wie allenthalben beteuert wird.

Bernd A. Laska


Hinweis: Harry Mulisch über Max Stirner

 

Aus: »eigentümlich frei«, Nr. 10 (2. Quartal 2000), S. 354

Wilhelm Reich - Ein Libertärer? Ein Märtyrer? Fast?

Leserbrief zu Stefan Blankertz: Wilhelm Reich - fast ein libertärer Märtyrer
Artikelreihe »Denker der Freiheit«
in: »eigentümlich frei«, Nr.9 (1. Quartal 2000) S. 316-317


Hermann Kraus' eher beiläufige Erwähnung von Wilhelm Reich in »ef« Nr. 7 (S. 233) nahm der Dichter Doleys zum Anlass für eine wutschnaubende, kaum von Sachkunde getragene Tirade gegen Reich als "das bisher skurrilste Beispiel aus der Sektengeschichte der Grössen-, Erweckungs- und Erlösungsphantasien" in »ef« Nr. 8 (S. 278). Dies rief Stefan Blankertz auf den Plan, der in »ef« Nr. 9 (S. 316), so scheint es, eine Lanze für Reich brechen will, indem er im Titel verkündet, dieser sei "fast ein libertärer Märtyrer" gewesen.

Blankertz scheint deshalb mit Reich zu sympathisieren, weil er meint, dieser sei ein "von der staatlichen Propaganda unterdrückter Autor", und weil Reichs Labor in den USA von "Einheiten der FDA (Food and Drug Administration, eine auch heute noch gefürchteten Terrororganisation des US-amerikanischen Staates)", zerstört worden sei.

Für beide Behauptungen dürfte es Blankertz kaum gelingen, Belege vorzuweisen. Reichs Schriften waren (bald nach der gerichtlich angeordneten Verbrennung 1956 in den USA) in den westlichen Ländern über viele Jahre geradezu Bestseller, und Reichs Labor ist noch heute als Teil des Wilhelm-Reich-Museums in Rangeley/Maine/USA im ursprünglichen Zustand zu besichtigen (zerstört wurden die genannten Orgonakkumulatoren). Entsprechend ungenau oder falsch sind auch die weiteren "Informationen", entsprechend fehlgehend die "Denkanstösse", die Blankertz geben will. Wenn er z.B. behauptet, dass die als Fischer-Taschenbücher erschienenen Titel Reichs - im Gegensatz zu den überarbeiteten Editionen von Kiepenheuer & Witsch - Originaltexte aus den 30er Jahren enthalten, so weckt dies Zweifel, ob er sich je mit Reich im Original befasst hat.

Neben der im Artikel demonstrierten limitierten sachlichen Kompetenz des Autors, die hier nicht im einzelnen vorzuführen ist, fällt seine Ambivalenz gegenüber Reich auf. Einerseits will er Reich als Opfer staatlichen Zwanges und geifernder Angriffe von Leuten wie Doley in Schutz nehmen. Andererseits befindet er pauschal und drastisch, "dass 90% dessen, was in den Büchern von Reich steht, absolut unerträglicher Schwachsinn ist." Welche Teile des Reich'schen Werks Blankertz hier meint, bleibt ungesagt: die, die sich mit seiner Therapiemethode befassen, sind es offenbar nicht, auch nicht die, die sich mit der "Orgonenergie" befassen. Welche 90% bleiben da übrig?

Nun könnte man über Blankertz' mangelnde Kompetenz und seine Ambivalenz in Sachen Reich hinwegsehen, wenn er den im Titel seines Artikels signalisierten und für »ef«-Leser auch hauptsächlich interessanten Aspekt des Reich'schen Werkes referiert hätte. Immerhin fährt er nach dem letzten Zitat fort: "Die restlichen 10% aber sind absolut genial und darüber hinaus unverzichtbar in einer umfassenden libertären Theorie des Menschen." Über diesen so präzise quantifizierten Teil, der den libertären Leser primär interessiert, macht Blankertz aber nicht einmal Andeutungen -- bis auf eine, eher verwirrende: Reich, der "dummerweise" mit Kommunisten zusammengearbeitet habe (tatsächlich war er KP-Mitglied !), habe sich in seinen späten Jahren liberalen Grundüberzeugungen genähert. Das wäre doch eine etwas schwächliche Konversionsbewegung in Richtung des "Wahren, Guten, Richtigen". Und ein solch unsicherer Kantonist soll "absolut geniale", für eine libertäre Theorie "unverzichtbare", also vielleicht gar sonst nirgendwo zu findende Gedanken entwickelt haben?

Was Blankertz über Reichs Bedeutung für eine "libertäre" Anthropologie formal zwar behauptet, die Unverzichtbarkeit, durch seinen Text aber merkwürdigerweise indirekt dementiert, möchte ich hier nachdrücklich unterstreichen. Doch Reich war kein Libertärer im heute (und hier) gebräuchlichen Sinn, und er war kein Märtyrer. Auch nicht "fast". Näher auszuführen ist das in einem Leserbrief freilich nicht. Wer sich für Reichs Erkenntnisse zum Problem der Freiheit(-s/un/fähigkeit) interessiert, sei deshalb auf meinen Artikel »Reich, Wilhelm« im »Lexikon der Anarchie« (Hg. Hans Jürgen Degen, 1993ff) verwiesen und auf diverse einschlägige Texte im Internet (www.lsr-projekt.de/wr.html); einen Gesamtüberblick gibt meine Rowohlt-Monographie »Wilhelm Reich«.

Bernd A. Laska
Nürnberg

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