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Der folgende Artikel erscheint gleichzeitig in:
Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 4 (16), 3. November 2001, S. 15-17

 
"Tertiärverdrängung"

in der aktuellen Rezeption von Max Stirner

Eine Erwiderung auf Christian Berners' »Laskas Gespenster«

von Bernd A. Laska


Ich kann in Christian Berners' Kritik meiner Arbeit zur Stirner-Nietzsche-Frage (1) -- in der es um die Reaktion Nietzsches auf Stirner ("Primärverdrängung") und die Reaktion der Nietzscheforschung auf Nietzsches Reaktion auf Stirner ("Sekundärverdrängung") ging -- nur wenig sachliche Substanz erkennen. Dennoch meine ich, dass sie eine sachliche Erwiderung verdient, allerdings eine von besonderer Art; denn Berners' Text eignet sich gut als Beispiel, an dem ich einen allgemein nicht gebräuchlichen Begriff erläutern kann, den ich zur Charakterisierung des Hintergrunds bestimmter Reaktionen auf meine Arbeiten -- insbesondere jener zur Wirkungsgeschichte Stirners -- erstmals in einer Replik auf Hoevels in dieser Zeitschrift (2) einführte: die Tertiärverdrängung.

Im genannten Fall ging es darum, dass Hoevels meine Thesen zur Reaktion von Marx auf Stirner ("Primärverdrängung") und zur Reaktion der Marxforschung auf Marx' Reaktion auf Stirner ("Sekundärverdrängung") genau kannte, in seinem Artikel »Stirner, Psychoanalyse und Marxismus« (3) jedoch konsequent an ihnen vorbeigeschrieben und deshalb auf seinem ureigenen Fachgebiet einen ausgesprochen unzulänglichen Text produziert hatte.

Berners erging es ähnlich. Er versucht zwar zu Beginn, meine Auffassung der Stirner-Nietzsche-Frage [Okt. 2002: vgl. hierzu Nietzsches initiale Krise], meine "Absicht" (4), in einem Satz zu resümieren, beschweigt sie dann aber bis zum Ende. Berners versäumt es also gänzlich, gerade meine beiden wesentlichen Thesen (s.u.) zu kritisieren; er blendet sie - wie Hoevels - konsequent aus und schwadroniert stattdessen in lockeren Assoziationsketten. Da Berners eingangs ausdrücklich angibt, meine Arbeit aufmerksam gelesen zu haben, besteht aller Grund zu der Annahme, dass diese Thesen zwar Anlass für seine engagierte Stellungnahme waren, dass er sie aber gleich nach dem ersten Satz "motiviert vergessen", d.h. aus seinem Bewusstsein verdrängt hat. Dieses intellektuelle Manko versucht Berners zu kompensieren, indem er mit starken Worten auftrumpft -- "Laskas Gespenster", Laska führt "mit verbissenem Ernst einen ideologischen Kampf", "Unsinnigkeit von Laskas Betrachtungen", "Heilsbringer", "Weltbeglückungsversuche" usw. -- was freilich über die Substanzlosigkeit seiner Kritik nicht hinwegtäuschen kann.

Die Vermutung, dass auch in diesem Falle eine "Tertiärverdrängung" meiner ihn verunsichernden Thesen vorliegt, wird weiterhin dadurch gestützt, dass Berners als Ergebnis seiner Ausführungen nichts anderes als eine "Erkenntnis" zu bieten hat und "festzuhalten" rät, die ohnehin seit je unangezweifeltes Allgemeingut war: dass Stirner auf Nietzsche, falls dieser ihn denn überhaupt kannte, allenfalls einen ganz unmassgeblichen Einfluss gehabt habe.

*

Die beiden Thesen, die in meiner Sicht der Stirner-Nietzsche-Frage wesentlich sind, von Berners aber in seiner Kritik stillschweigend übergangen wurden, lauten in hier noch einmal komprimierter Fassung:

1) Nietzsche lernte Stirners »Einzigen« in der ersten Hälfte des Oktobers 1865 kennen, als er für ca. zwei Wochen im Hause der Eltern seines Studienfreundes Hermann Mushacke in Berlin zu Gast war, und zwar über Eduard Mushacke, den Vater Hermanns, der -- was die sonst sehr gründliche Nietzsche-Biographik bisher übersehen hat -- in den 1840er Jahren zum Kreis der "Freien" gehörte und mit Stirner befreundet gewesen war. Stirners »Einziger« war, so meine Folgerung, der Grund für die schwere geistige Krise, in die der junge Nietzsche Mitte Oktober 1865 geriet, und die er zunächst dadurch zu bewältigen suchte, dass er sich auf die Philosophie Schopenhauers geradezu stürzte und zugleich in ausgedehnte philologische Studien floh -- beides freilich nur ein Durchgangsstadium zum eigenständigen Philosophieren. Stirners »Einziger«, d.h. dessen in jenen zwei Berliner Wochen von Nietzsche wohl intuitiv richtig erfasste Kernidee, war Initialzündung und blieb dauerhaft wichtigster unbewusster Antrieb seines lebenslangen Philosophierens -- das letztlich eine doppelte Funktion hatte: privatissime als Abwehr und ideengeschichtlich als Verschüttung jener Stirner'schen Kernidee ("Primärverdrängung").

Hier hätte Berners, da meine konzise Darstellung keine detaillierten Belege für diese These mitlieferte, genügend Gelegenheit gehabt, einzuhaken, Skepsis zu zeigen, kritische Fragen zu stellen und Belege einzufordern, auch meine Interpretation argumentativ anzugreifen. Aber -- er wollte es offensichtlich gar nicht genauer wissen, und deshalb übergeht er diese These geflissentlich und plaudert stattdessen über dies und das, über Nietzsche und Wagner und Hegel und Herzen und...

2) Der Verdacht, dass Nietzsche Stirners »Einzigen« gekannt habe, wurde geäussert, sobald Nietzsche -- kurz nach seinem sog. Zusammenbruch Anfang 1889 -- weithin bekannt und berühmt geworden war. Er basierte jedoch meist auf bloss formalen Ähnlichkeiten von Einzelaussagen beider Denker. Von vornherein zogen jedoch die Meisten, auch Nietzsches Gegner, Nietzsche als hochkultivierten Autor dem Mädchenschullehrer oder "wildgewordenen Kleinbürger" Stirner vor. Somit stand weithin fest, dass beide Autoren im Grunde inkompatibel seien und, vor allem, dass Nietzsche, falls überhaupt, nur marginal von Stirner beeinflusst gewesen sei. (5) Der überwiegende Teil meiner Arbeit ist den von dieser Prämisse ausgehenden (unter diesem "Bann" stehenden) Darstellungen bzw. Abfertigungen der Stirner-Nietzsche-Frage gewidmet und weist auf die Dürftigkeit der Stirner-Kenntnisse, die Fadenscheinigkeit der Argumentationen und die Klischeehaftigkeit der Resultate der Wenigen hin, die sich überhaupt herbeiliessen, auf die offenbar der Salonfähigkeit entzogene Frage einzugehen. Kein Autor, kein Nietzsche-Feind (wie Eduard von Hartmann) und kein Stirner-Freund (wie John Henry Mackay), erwog auch nur die Möglichkeit dessen, was ich als Nietzsches (Primär-)Verdrängung der Stirner'schen Kernidee bezeichne. (6) So unterschiedlich ihre Absichten gewesen sein mögen: sie alle erlagen Nietzsches eindruckstechnisch kaum zu übertreffenden Schriften und nutzten sie unbewusst als Mittel, um eben dieser Interpretation auszuweichen ("Sekundärverdrängung"). Erst nachdem Nietzsche entdeckt worden war, ist es möglich geworden, Stirner (wieder) zu entdecken (die zweite Auflage des »Einzigen« 1882 war noch ohne jede Resonanz geblieben). Der fast fünf Jahrzehnte alte, plumpe Bann gegen Stirner mittels Unterdrückung und Sekretion konnte nun durch den eleganten, bis heute bestehenden, ersetzt werden, wo man sich seiner als "banausischen Vorläufer", meist als völlig unmassgebliche Figur entledigt.

Auch hier hätte Berners leicht Ansatzpunkte für skeptische Intervention, für eine sachliche Kritik bzw. für die Forderung nach detaillierten Belegen finden können, auch hier hätte er eine andere Interpretation der aufgezeigten Reaktionen anbieten, ggf. Gegenbeispiele präsentieren können. Aber -- auch hier wollte Berners es offenbar lieber gar nicht genauer wissen. Er entledigte sich des Themas mit einer saloppen Fussnote (Nr. 2), in der er kundtut, er wolle darüber -- über eine meiner offenkundig "unsinnigen" Betrachtungen -- lieber "erst gar nicht reden."

*

Die "primären" Verdränger Stirners (vor allem Marx (7) und Nietzsche) haben in lebenslang anhaltender Anstrengung grosse "Philosophien" in die Welt gesetzt (freilich strikt unter Vermeidung einer offenen Auseinandersetzung mit Stirner). Diese Philosophien waren keineswegs "unzeitgemäss"; sie schlossen vielmehr an populäre Trends an, erwiesen sich als ausserordentlich massenattraktiv und avancierten in kurzer Zeit zu den vorherrschenden Weltanschauungen in Europa. Und offenbar erst unter ihrer Hegemonie war -- paradoxerweise ? -- die Wiederentdeckung des ein halbes Jahrhundert lang "verschollen" gewesenen Stirner möglich, und zwar, weil er vom Talmiglanz der "Grossen" überstrahlt wurde und nun weithin als primitiv, "kleinbürgerlich" usw. abgestempelt werden, jedenfalls als ideengeschichtlich marginal und antiquiert gelten konnte.

Die "sekundären" Verdränger Stirners waren äusserst zahlreich; sie fühlten sich sicher im "mainstream" und konnten deshalb den neu entdeckten, aber sogleich segregierten Stirner ohne weiteres ignorieren. Sie brauchten nicht mehr "Stirner" zu verdrängen, wohl aber die "Stirner-Krise" in der Biographie ihrer Helden, die Startimpuls und Motor von deren Karrieren als Grossdenker war. Nachdem heute der ausserordentliche Nimbus, den Marx und Nietzsche als Aufklärer hatten, an Glanz verloren hat, ist zu hoffen, dass die Chancen für einen philosophiegeschichtlichen Revisionismus -- mit dem Ziel einer Neubelebung der Aufklärung -- gestiegen sind.

Die "tertiären" Verdränger Stirners traten erst auf den Plan, nachdem ich die primären und sekundären als solche exponiert hatte. Es sind freilich noch sehr wenige, und von denen wiederum nur wenige, die aufgrund ihrer Publikationen als solche kenntlich sind (8), denn die meisten, die mit diesen Thesen konfrontiert wurden, schweigen -- ratlos, kopfschüttelnd, vielleicht nachdenklich -- oder zucken bloss mit den Achseln. Deshalb möchte ich abschliessend, ganz ohne jede Ironie, Christian Berners für seine immerhin freimütigen Äusserungen herzlich danken.


Anmerkungen:

(1) Christian Berners: Laskas Gespenster oder: Warum sich Nietzsche so sehr beim EINZIGEN gelangweilt haben könnte!? In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Heft 4 (16), 3. November 2001, S. 11-14.
Berners bezieht sich auf meinen Artikel:
Bernd A. Laska: Den Bann brechen! Stirner redivivus. Wider Marx, Nietzsche et al. Betrachtungen anlässlich zweier Neuerscheinungen - Teil 2 [Nietzsche, Nietzscheforschung]. In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Heft 4 (12), 3. November 2000, S. 17-23

(2) Bernd A. Laska: Max Stirner - ein Verächter der "Praxis" ? Eine Replik auf Fritz Erik Hoevels' "Stirner, Psychoanalyse und Marxismus". In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Heft 1/2 (13/14), 3. Februar / 3. Mai 2001, S. 22-30 (28-29)

(3) Fritz-Erik Hoevels: Stirner, Psychoanalyse und Marxismus. In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Heft 1/2 (13/14), 3. Februar / 3. Mai 2001, S. 15-22

(4) Meine Absicht konnte und kann es freilich nicht sein, "letzte Zweifel an der Vermutung auszuräumen, dass Nietzsche...[...]"; denn unanfechtbare "Beweise" (Belege) dafür fand man bisher nicht und wird man wohl nie finden. Meine Absicht ist deshalb, die Plausibilität meiner Vermutung beleggestützt zu stärken und, vor allem, ihren immensen heuristischen Wert für uns Heutige deutlich zu machen -- dies im Kontext der sonstigen Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners und weiterhin des "LSR-Projekts".
[Okt. 2002: vgl. hierzu Nietzsches initiale Krise]

(5) Zu Eduard von Hartmann, der Nietzsche als schlechten Plagiator Stirners hinzustellen versuchte, vgl. Bernd A. Laska: Den Bann brechen ..., a.a.O. und Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners "Einziger". Eine kurze Wirkungsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1996. S. 32f (u.a.)

(6) Einzig Franz Overbeck, Nietzsches langjähriger Freund, nähert sich vorsichtig meiner Verdrängungsthese, wenn er in etwas gewundenen Worten schreibt: "Es unterliegt keinem Zweifel, dass Nietzsche sich bei Stirner eigentümlich verhalten hat. Wenn er aber seine grosse habituelle Mitteilsamkeit bei ihm nicht ungehemmt hat walten lassen, so ist freilich das ganz gewiss nicht geschehen, um irgendeinen Einfluss auf ihn zu sekretieren (der im genauen Sinne gar nicht vorhanden ist), sondern weil er von Stirner einen Eindruck empfangen hat, mit dem er im allgemeinen für sich allein fertig zu werden vorziehen mochte."
Zit.n. Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs 1908. S. I/136

(7) vgl. Bernd A. Laska: Den Bann brechen! Stirner redivivus. Wider Marx, Nietzsche et al. Betrachtungen anlässlich zweier Neuerscheinungen - Teil 1 [Marx, Marxforschung]. In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Heft 3 (11), 3. August 2000, S. 17-24. Berners' angestrengte "Tertiärverdrängung" liess es selbstverständlich nicht zu, diesen 1. Teil des von ihm kritisierten Artikels mit in Betracht zu ziehen, geschweige denn den weiteren Kontext meiner Arbeit (die Buchreihe »Stirner-Studien« und das »LSR-Projekt«)

(8) Prominent Rüdiger Safranski; vgl. den Abschnitt »Mit Stirner und über ihn hinaus« in seinem Buch »Nietzsche« (München: Hanser-Verlag 2000, S. 122-129); abgedruckt in diesem Heft, S. 23-27, sowie dazu den Absatz 2.5 in Bernd A. Laska: Den Bann brechen..., Teil 2..., a.a.O., S. 22-23


Postscriptum von Christian Berners

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