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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 1, Heft 2 (1934)

 Band 1, Heft 2 (1934) 
89 An alle Antifaschisten
90 E[rnst] Parell [Wilhelm Reich]: Was ist Klassenbewusstsein? (Teil 2)
107 Wolfgang Teschitz [Karl von Motesiczky]: Zur Kritik der kommunistischen Politik in Deutschland
115 Wilhelm Reich: Ein Widerspruch in der Freud'schen Verdrängungslehre
125 Wilhelm Reich: Der Urgegensatz des vegetativen Lebens
142 Der Traum (Auszug aus Kolbenhoff: Untermenschen)
146 E[rnst] Parell [Wilhelm Reich]: Einwände gegen Massenpsychologie und Sexualpolitik (2. Teil)
152 Karl Muster: Theologie - spottet ihrer selbst und weiss nicht wie
153 "Unpolitische" Wissenschaft: Zitat aus der Typenlehre Jaenschs
153 J.H. Leunbach: Ein Pornografie-Prozess in Schweden
157 H.B.: Zusammenkunft skandinavischer Psychoanalytiker in Oslo
159 Marxismus - Ideologie - Psychologie (Marx-Zitate)
159 Anfragen: aus Luxemburg [Judenfrage], Zürich, Paris ["Sexuelle Freiheit" der HJ]
163 "Was hat die Elektrophysiologie des Orgasmus mit der Politik zu tun ?"
164 Ökonomie - Massenpsychologie
165 Redaktionelle Bemerkungen


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ZPPS, Band 1 (1934), Heft 2, S. 157-158


Zusammenkunft skandinavischer Psychoanalytiker in Oslo

Die norwegische psychoanalytische Gruppe hatte eine Zusammenkunft skandinavischer Analytiker angeregt. Am 3. und 4. April d.J. kamen in Oslo zu einer zweitägigen Tagung schwedische, norwegische und dänische Analytiker und Kandidaten zusammen.

Die Tagung wurde eröffnet mit einer Ansprache des Vorsitzenden der norwegischen Gruppe, Prof. Schjelderup. Er weist hin auf die Gefährdung der analytischen Forschung durch die politische Reaktion, die sich in Europa immer mehr ausbreitet. Durch die politischen Verhältnisse sind einige Analytiker gezwungen worden, ihre Tätigkeit nach andern Ländern zu verlegen. Die Zusammenkunft soll Gelegenheit geben zur persönlichen Fühlungnahme der skandinavischen Analytiker, aber auch zur Besinnung auf die ernsten und brennenden Probleme der analytischen Forschung.

Der erste Referent war Otto Fenichel (Oslo), der über die gegenwärtigen Richtungen in der Psychoanalyse sprach. Fenichel gab eine sehr ausführliche Übersicht über die wichtigsten Richtungen und Strömungen innerhalb der gegenwärtigen psychoanalytischen Forschung. Aus seiner Darstellung gewann man den Eindruck, dass in der Psychoanalyse heute über grundlegende Fragen von den einzelnen Forschern und Gruppen abweichende Meinungen vertreten werden. Die Divergenzen betreffen nicht nur Detailfragen, sondern gerade in den entscheidenden, zentralen Positionen ist man nicht einig. In der Diskussion versuchte Reich, die Gründe aufzuzeigen, die zu dieser Uneinigkeit innerhalb der Psychoanalyse geführt haben. Alle Forscher, so führte er aus, die der Freudschen Psychoanalyse abtrünnig geworden sind, sind vor einem bestimmten Punkt zurückgeschreckt, nämlich vor der richtigen Auffassung und Einschätzung der genitalen Sexualität. Auch heute sind die Differenzen innerhalb der Psychoanalyse am ehesten aus der Stellungnahme zu den Fragen der Libidoökonomie zu verstehen. Neurosen sind Folgeerscheinungen der gestörten Sexualität. Neurosen heilen heisst: die Fähigkeit zum gesunden, befriedigenden Sexualleben zu schaffen, oder mit andern Worten, die genitale orgastische Potenz herstellen. Aber diese Erkenntnis führt mitten hinein in die gesellschaftlichen Probleme. Zum Schluss deutete Reich auch an, dass nach seiner Meinung die sozialen Konsequenzen es sind, die die Psychoanalytiker -- vielleicht unbewusst -- daran hindern, die richtigen Ansätze zu der Lösung des Neurosenproblems fortzuführen, und sie stattdessen veranlassen, in mehr oder weniger falsche unklare Annahmen zu flüchten.

Das zweite Referat hielt Wilhelm Reich. Er behandelte die Probleme der aualytischen Therapie. In der Psychoanalyse ist der Zusammenhang zwischen Theorie und Technik doppelseitig. Falsche Technik kann die wirkliche Dynamik der Neurose nicht aufdecken und muss deshalb zu unrichtigen theoretischen Annahmen führen. Andererseits bedingt falsche Theorie technische Fehler. Reich zeigte, dass die Strafbedürfnistheorie nicht zuletzt deshalb eine so grosse Rolle in der analytischen Literatur der letzten Jahre gespielt hat, weil infolge technischer Fehler in den Analysen Reaktionen auftraten, die als Strafbedürfnis imponieren mussten. Im Laufe einer Analyse kommt es regelmässig dazu, dass der Analysand auf den Analytiker die gleichen Gefühle -- wie man in der Psychoanalyse zu sagen pflegt -- überträgt, die auch in allen seinen wichtigen menschlichen Beziehungen vorherrschen. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht nur um freundliche, liebevolle Regungen handeln; der Analytiker erscheint auch als Feind, Störenfried, den man hasst. Die Gründe, warum diese Übertragung in der Analyse auftreten muss, können wir hier nicht ausführen. Aber auch ohne analytische Überlegungen leuchtet es gleich ein, dass, wenn man von einem Menschen Hilfe erwartet, ihm vertraut, für ihn eine starke Zuneigung empfindet, ihn aber gleichzeitig hasst; ferner leuchtet ein, dass eine solche widerspruchsvolle Einstellung zu einem Konflikt führen muss. Dieser Konflikt kann sich so äussern, dass der Analysand von dem Analytiker, wegen seiner bösen Absichten, die er nicht versteht, bestraft werden will. Der technische Fehler, der zur Überschätzung des Strafbedürfnisses bei den Neurosen geführt hat, besteht darin, dass die unbewussten aggressiven Regungen des Analysanden nicht konsequent genug herausgeholt wurden, und diese nicht aufgedeckten unbewussten aggressiven Tendenzen erwecken das Strafbedürfnis. Auch eines der zentralen Probleme der ganzen Neurosenpsychologie, nämlich das Problem der Angst, wird nach Reichs Meinung in der neueren analytischen Theorie nicht richtig gesehen. Auch dafür scheint, wie Reich in seinem Referat zeigen

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konnte, eine fehlerhafte Technik mitverantwortlich zu sein. Nach der ursprünglichen Theorie Freuds ist neurotische Angst letzten Endes immer Ausdruck von gestauter, also durch nicht adäquate Befriedigung erledigter sexueller Erregung. Freud hat diese Annahme durch neue, komplizierte Überlegungen teilweise ergänzt, z.T. aber auch verlassen. Nun konnte aber Reich zeigen, dass jede kunstgerecht durchgeführte Analyse einen neuen Beweis für die Richtigkeit der ursprünglichen Freudschen Annahme liefert. Gegen Ende einer Analyse treten nämlich regelmässig, auch bei Menschen, die bewusst Angst erlebt haben, Angstzustände auf, u. zw. in der charakteristischen Weise der nervösen Angst, nämlich Angstzustände, die sich ohne realen Grund einstellen, mit starker Unruhe, Herzklopfen, Beklemmungsgefühlen einhergehen. Das Bezeichnende und theoretisch Wichtige ist aber dabei, dass solche Angstzustände immer dann auftreten, wenn bei dem Analysanden jene frühkindlichen genitalen Wünsche und Impulse sich melden -- jetzt gegen die Person des Analytikers gerichtet -- die einst in der Kindheit den Eltern galten. Was ist also geschehen? Zunächst ist es der Analyse gelungen, die Libido aus der Verdrängung zu befreien und aus den prägenitalen Fixierungen zu lösen. Nun strömt die sexuelle Energie wieder zum genitalen System; aber zunächst zu den während der Kindheit vorgeformten Phantasien und zu den ersten Objekten jener Leidenschaften. Diese neuerwachte Sexualität stösst aber auf die alten Ängste, auf die damals realen, jetzt nur inneren Gefahren. Deshalb werden in der Analyse bei dem Vorstoss der genitalen sexuellen Regungen auch die kindlichen Ängste wieder belebt. Oder anders gesagt, die Analyse wiederholt das gleiche Geschehen, das in der Kindheit die Grundlagen zu der späteren Neurose gelegt hat: sexuelle Erregung wurde unterdrückt und die gestaute Sexualität schlägt in Angst um. Die Analyse hat also die Beweiskraft eines Experiments. Es gelingt ihr, ein Geschehen, das theoretisch erschlossen werden konnte, künstlich hervorzurufen. Aber, meinte Reich, dieser experimentelle Beweis kann nur durch richtig geführte Analysen erbracht werden. Die Aufgabe einer richtig geführten Analyse ist nach Reich die konsequente Herauskristallisierung der Libido aus ihren Verdrängungen und prägenitalen Fixierungsstellen. Alle die Regeln und Gesichtspunkte, die zu berücksichtigen sind, damit diese wichtigste Aufgabe der analytischen Therapie erfüllt werden kann, konnte Reich in seinem Referat selbstverständlich nicht aufzeigen. Er hat aber gezeigt, dass eine richtige analytische Technik nur möglich ist durch kombinierte Anwendung jener drei Aspekte, aus denen die Psychoanalyse die Gesetze der seelischen Prozesse zu erfassen sucht: d.i. die Topik, Dynamik und Ökonomik des psychischen Geschehens. Das klingt dunkel, meint aber etwas Einfaches. Eine Analyse, die nur deutet, also die unbewussten Inhalte, die der Analytiker aus den Träumen, Assoziationen, Fehlhandlungen der Patienten herauslesen kann, dem Analysanden mitteilt, berücksichtigt nur die topischen Momente. Sie geht nämlich von der Annahme aus, dass es nur darauf ankommt, an weIcher Stelle der seelischen Systeme ein Vorgang abläuft, und glaubt, die Aufgabe der Analyse ist schon erfüllt, wenn Unbewusstes in Bewusstes übersetzt wird. Der Dynamiker weiss schon, dass diese Übersetzungsarbeit nichts nützt, wenn die unterdrückten Affekte nicht in der Analyse wiederbelebt werden. Er spürt schon ein Kräftespiel, ein Gegeneinander von tobenden Leidenschaften, er ahnt hinter der Erstarrung eines affektlahmen Zwangsneurotikers die stürmischen Aggressionen. Aber auch er berücksichtigt nicht das ökonomische Moment, das verlangt, dass der Analytiker genau weiss, an welcher Stelle in der konkreten analytischen Situation das Schwergewicht liegt, was er aus dem Material, das der Analysand ihm bietet, berücksichtigen, angreifen soll, was er zunächst zurückstellen muss.

Die Ausführungen der beiden Referenten Fenichel und Reich sind mit Aufmerksamkeit angehört worden und erweckten fühlbar einen starken Eindruck. Nach beiden Referaten entspann sich eine angeregte Diskussion. Es soll erwähnt werden, dass in der Diskussion ein neuer, bei psychoanalytischen Zusammenkünften völlig ungewohnter Ton den Zuhörer aufhorchen liess. Man sprach über die Probleme der Neurosen nicht so, als wären Neurotiker Menschen, die in einer harmonischen Welt mit den merkwürdigsten Gedanken und Impulsen herumgingen. Sondern man redete von der Sexualnot der Massen, von den gesellschaftlichen Schwierigkeiten, die heute ein gesundes Sexualleben erschweren, man erwog die Lösungsmöglichkeiten durch eine sozialistische Ordnung der Gesellschaft. Mit einem Wort, man fühlte, dass auch der Psychoanalytiker auf seinem engen Gebiet die Stösse zu spüren bekommt, die von mächtigen gesellschaftlichen Strömungen ausgehen.

H. B.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 2, S. 161


[Betr.] Anfrage über das Wesen des Hasses gegen die Juden

Über die Judenfrage wissen wir nicht allzuviel, nur das ist sicher, dass sie ein Teil der allgemeinen sozialen Frage ist und nur mit ihr gelöst werden kann, wie das in Sowjetrussland geschah. Lest das Buch von Otto Heller über die Judenfrage, aber auch die Naziliteratur, um den faschistischen Standpunkt zu durchschauen. Die Juden sind als Nation ebenso in Klassen gespalten wie alle anderen Nationen. Die deutsche Judenfrage dient den Nazis im wesentlichen nur als Ablenkung von der Klassenkampffrage. Es nützt aber nicht viel, wenn man nur dies behauptet. Begreiflich wird die für die Nazis günstige Reaktion der Massen darauf erst dann, wenn man folgendes weiss: Der "Jude" bedeutet für das unbewusste Gefühlsleben zunächst "Kapitalist" oder "Wucherer"; daher ist Judenhass zu einem Teile antikapitalistischer Hass. Dann bedeutet aber in der gleichen Gefühlssphäre "jüdisch" (übrigens ebenso wie für den deutschen auch "französisch" oder für den Amerikaner "schwarz") "geil", "sexuell sinnlich", "schmutzig"; dieser Teil des gefühlsmässigen Antisemitismus entstammt der Sexualangst. Der Jude gilt dem Antisemiten überdies als ein unheimlicher Mensch, weil im Unbewussten "Jude" mit "beschnitten" und "beschneiden" verknüpft ist. Daher die Ritualmordphantasien der Antisemiten. Lest Streichers Blatt «Der Stürmer»; dort findet Ihr die Beweise für diese Auffassung. Der Jude ist der "Schächtjude", der die Arier schlachtet. Wie sich diese Einsichten in antifaschistische Praxis umsetzen lassen, ist noch nicht klar. Sicher ist, dass die propagandistische Klärung der wirtschaftlichen Klassenfrage und der Bedeutung der Sexualangst sowie der Notwendigkeit eines befriedigenden Geschlechtslebens auch die Propaganda gegen den barbarischen Antisemitismus in sich schliesst. Das ist lange nicht alles, was zur Frage zu sagen wäre. Wir wissen aber noch nicht mehr darüber.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 2, S. 161-163


Die "sexuelle Freiheit" der Hitlerjugend

[Anfrage aus Paris:] "Neulich sprach ich eine siebzehnjährige höhere Schülerin aus Berlin, die hier die Ferien verbracht hat. Sie besucht eine Wilmersdorfer Schule und erzählte mir so nebenbei einiges, was für Dich sehr interessant sein dürfte.

Die Jungen und Mädchen der Hi-Jugend und des Bundes deutscher Mädel haben eine ungeahnte Freiheit in Schule und Elternhaus, die sich natürlich auch in geschlechtlicher Betätigung und Freundschaften auswirkt.

Früher hätte es ein Mädel ihrer Klasse und Schule nie gewagt, sich vor der Schule von einem Freund abholen zu lassen. Heute stehen die Jungens (Hi-Jungens meistens) in Scharen vor der Schule, und alle empfinden es als selbstverständlich. Der B.d.M. wird nur «Bubi drück mich» genannt. Die Dahlemer Gruppe des B.d.M. musste aufgelöst werden, weil 6 Mädels (unter 18 Jahren) schwanger wurden.

Es ist doch sehr interessant, wie der Versuch, die Jugend zu organisieren, dazu führt, dass die Fesseln des Elternhauses gelockert werden, denn diese

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Beispiele sind gewiss symptomatisch, was ich inzwischen bestätigt. bekommen habe."

Antwort: Es ist nicht richtig, dass die Jungens und Mädels eine "ungeahnte Freiheit" haben. Wer solches behauptet, sieht die wahren Verhältnisse, Erfordernisse und Widersprüche nicht. Auch früher haben sich die Mädels vor der Schule von den Jungs abholen lassen, wenn auch vielleicht nicht gerade an dieser Schule. Nur im Lichte der Spiessermoral erscheint Schwangerwerden und "Sichabholenlassen" als Zeichen einer "sexuellen Freiheit" der Jugend. Die Freiheiten, die sich die Dahlemer Jugend jetzt erringt, waren in Neukölln längst selbstverständliche Dinge. Es geht aber um das Ganze: Man muss zunächst den riesigen Widerspruch sehen, in dem die Hitlerjugend steckt: einerseits strengste autoritäre militärische Erziehung und Trennung der Geschlechter, andererseits durch die Kollektivierung des Jugendlebens Zerreissung der familiären Bindungen, Erschütterung der familiären Moral bei gleichzeitiger strengster faschistischer Familienideologie. Die deutschen Revolutionäre müssen die Entwicklung derartiger Widersprüche genauestens verfolgen und sie den Betroffenen klarmachen. In diesem Falle ist die Lösung der Jugend von den Elternhäusern zu bejahen, jedoch der Widerspruch dieser Loslösung zu der offiziellen Führer- und Familienideologie klarstens herauszuarbeiten. Es muss auch klar werden, dass die Jugend, die aus den Fesseln des Elternhauses in die Freiheit und Selbstbestimmung strebt, was wir bejahen und erfüllen wollen, in Wirklichkeit in ein anderes autoritäres Verhältnis, nämlich in das des Arbeitsdienstlagers oder des faschistischen Verbandes gerät, wo sie wieder Maul halten muss. Die Widersprüche enthüllen sich am deutlichsten gerade auf sexuellem Gebiet. Das "freiere Benehmen" entspricht den vorwärtsdrängenden Tendenzen in der Hitlerjugend, soweit sie -- wenn auch dumpf, subjektiv -- revolutionär ist; niemals aber würde eine wirklich revolutionäre Gesellschaftsführung einen Mädelbund auflösen, weil einige Mädels schwanger wurden; das bedeutet ja, was der Berichterstatter naiverweise nicht sieht, dass das beschriebene Verhalten der Jugend der Führung der NSDAP gar nicht angenehm ist und ihr gegen den Strich geht. Es widerspricht ihrer gesamten Moralauffassung. Wir müssen diesen Hitlerjungs und -mädels ihr Recht auf volle Selbstbestimmung und auf gesellschaftliche Sorge für ihre Bedürfnisse, in erster Linie auch für die sexuellen, völlig klarmachen. Wenn man in dem heute Gegebenen bereits die sexuelle Freiheit sieht, dann übersieht man zweierlei: Erstens, dass schon dieses wenige genügt, den moralischen Staatsapparat einschreiten zu lassen, zweitens, dass dies die ersten Ansätze sind und von Freiheit nicht gesprochen werden kann:
Solange die gesamte Staats- und Gesellschaftsauffassung dagegen ist.
Solange die Jungs und Mädels keine Wohnungen haben, wenn sie ungestört sein wollen, keine Empfängnisverhütungmittel, um Schwangerschaften zu vermeiden, kein Wissen um die Notwendigkeiten und Schwierigkeiten des Geschlechtslebens überhaupt.
Solange sie derart erzogen werden, dass sie in schwere Konflikte kommen, sobald sie überhaupt geschlechtlich zu leben anfangen.
Solange sie für die Interessen einiger weniger Kapitalbesitzer militärisch gedrillt werden und nicht für die Verteidigung der eigenen Interessen militärisch geschult werden.
Solange Jungs und Mädels in den Verbänden getrennt leben.
Solange sie nicht gemeinsam mit den Lehrern bestimmen können, wie ihre Schulung, ihre Vorbereitung für die Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens beschaffen sein soll.
Solange sie die Zahlen über die Geburts- und Sterbetage der preussischen Könige und nicht die Geschichte der ärmsten und letzten Jungs und Mädels aus den Vororten Berlins, Hamburgs, Jüterbogs, des letzten Bauerndorfs studieren und bewältigen lernen.

Das Ideal der Jugend kann nicht sein, einem Führer kritiklos zu dienen und für als "Vaterlandsinteressen" ausgegebene Kapitalisteninteressen zu sterben, sondern einzig, ihr eigenes Leben zu begreifen und es ihrem eigenen Willen gemäss zu gestalten. Die Jugend kann nur sich selbst verantwortlich sein. Dann und nur dann wird die Kluft zwischen der Gesellschaft und ihrer Jugend verschwinden.

Hat die Jugend einmal die Kluft begriffen, die sie heute von der Gesellschaft trennt, dann erkennt sie sich gleichzeitig als unterdrückt und wird für die soziale Revolution reif. Hat sie die Kluft praktisch aufgehoben, die gesellschaft-

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liche Ordnung ihren Bedürfnissen entsprechend gestaltet, ihrem Freiheitsdrang real, konkret, auch objektiv freie Bahn geschaffen, dann würde sie zum Vollstrecker der sozialen Revolution.

Wir können der Jugend aller Länder und Erdteile die Notwendigkeit der sozialen Revolution nicht theoretisch beweisen, sondern sie nur aus den Nöten und Widersprüchen der Jugend entwickeln. Im Zentrum dieser Nöte und Widersprüche steht die riesenhafte Frage des Geschlechtslebens der Jugend.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 2, S. 163-164


"Was hat die Elektrophysiologie des Orgasmus mit der Politik zu tun ?"

Diese und ähnliche Fragen werden von Kommunisten ebenso wie von Bürgerlichen in mehr oder minder höhnischer Form oft gestellt. Man fürchtet eine Herabzerrung der "hohen Politik" in die peinlichen Gebiete des sexuellen Lebens. Trotzdem oder gerade deshalb verraten derartige Fragen die völlige Ahnungslosigkeit der Fragesteller über primitivste Zusammenhänge. Wir wollen sie daher hier kurz zusammenstellen.

Die rein klinisch-medizinische Orgasmuslehre stellt bestimmte natürliche Gesetze im Ablauf der sexuellen Erregung und Befriedigung fest, wie etwa die Bedingungen der vollkommenen sexuellen Entspannung und ihre Störungen. Wäre sie bürgerliche Forschungsrichtung, sie begnügte sich mit den akademischen Feststellungen, die in wissenschaftlichen Zeitschriften vergraben keinerlei gesellschaftliche Bedeutung bekämen. Der bürgerliche Wissenschaftler würde auch kaum versuchen, nach den Ursachen der beschriebenen Störungen zu forschen, oder er würde sie im Biologischen, in einer mystischen Anlage suchen. Die dialektisch-materialistische Forschung geht anders vor. Zunächst überwindet sie die Scheu vor den "unanständigen" Fragen und bemüht sich, den Orgasmus als eine elementare Erscheinung aller Lebewesen wirklich zu begreifen. Sie findet, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen, die ja auch Lebewesen sind und nicht nur Vaterlandsverteidiger, im besondern die Mehrzahl der Frauen, unfähig ist, diese grundsätzliche Naturfunktion zu erfüllen; sie stellt fest, dass diese Unfähigkeit die Grundlage nicht nur der meisten seelischen Erkrankungen in sexualökonomischer Hinsicht ist, sondern dass der Mangel einer natürlichen Regelung des sexuellen Haushalts auch im Bereiche der körperlichen Gesundheit sich schädlich auswirkt, und zwar massenmässig; sie sieht auch Zusammenhänge zwischen der menschlichen Grausamkeit und den aufgestauten, weil nicht befriedigten sexuellen Energien. Sie braucht dann nur noch nach zwei Richtungen hin weiterzuforschen, um ins Politische zu gelangen. Zunächst liegt die Frage nahe, welche psychischen und sozialen Voraussetzungen erforderlich sind, um die orgastische Funktion zu erfüllen. Die Wirklichkeit zeigt, dass die allerwenigsten Menschen innerlich dazu fähig sind, weil sie von Kindheit an Angst vor der Sexualität eingeflösst bekamen. Das führt zu einer Kritik der gesamten Sexualerziehung. Darüber hinaus erfordert ein sexuell befriedigendes, wie wir sagen sexualökonomisches Leben, bestimmte äussere Bedingungen; so etwa die Möglichkeit, beim Geschlechtsgenuss allein und ungestört zu sein; dadurch rollt sich die Frage der Wohnkultur der Massen auf. Ferner ist notwendig, dass der Geschlechtsgenuss unabhängig wird von der Fortpflanzung; das führt zur Kritik und zum Kampf gegen die Gesetze, die die Empfängnisverhütung mit Strafe bedrohen oder gänzlich unmöglich machen. Die Verbindung von wirtschaftlichen und sexuellen Interessen zerstört von vornherein oder auf die Dauer die Befriedigungsfähigkeit und -möglichkeit; das führt zur Kritik der bürgerlichen Eheinstitution. Ein enthaltsames Leben in den Blütejahren der Sexualität, etwa zwischen dem durchschnittlich 15. und 25. Lebensjahr, schädigt die sexuelle und soziale Leistungsfähigkeit für später; die gesamte bürgerliche Welt fordert aber strenge Askese der Jugend.

Fügt man all dem noch die Frage an, welches Interesse die gegenwärtige Gesellschaft hat, das Geschlechtsleben zu unterdrücken, dann steht man mitten in den Problemen der revolutionären Sexualpolitik. Denn dann folgt die weitere, zunächst nur volkshygienische Frage, welche Einrichtungen notwendig sind, um ein gesundes Geschlechtsleben der breiten Masse zu sichern, und wie man dazu gelangen kann. Es ist kein Zufall, dass die Funktion des Orgasmus von der so fortgeschrittenen Wissenschaft fast völlig übersehen wurde. Es genügt nicht, Kurven zu zeichnen und wohlgemeinte Ratschläge zu geben, wie van de Velde

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dies tut. Wer seinen Film gesehen hat, hat leicht erkennen können, in welchem Widerspruch sich jeder bürgerliche Sexualforscher befindet und weshalb er zu den absurdesten Ratschlägen und Ansichten greifen muss. Die revolutionäre Sexualwissenschaft besteht nicht darin, revolutionäre Parolen zu schmettern, sondern darin,
Die natürlichen Vorgänge restlos und kompromislos aufzudecken.
Sich die Frage nach den Ursachen der Verhinderung lebenswichtiger Funktionen zu stellen.
Sich an die Masse zu wenden und nicht an die schmale reiche Oberschicht oder die wissenschaftliche Welt allein.
Der Masse die Notwendigkeiten des Lebens darzulegen und die Gründe ihrer Behinderung.
Sie dazu zu erziehen, die Menge an sexueller Schundliteratur und falschen "wissenschaftlichen" Erzeugnissen von den richtigen zu unterscheiden.
Jede Hoffnung aufzugeben, dass irgendwer "von oben" ihnen helfen würde.
Ihrem natürlichen Empfinden über sexuelle Dinge freie Bahn zu schaffen.
Sie zu lehren, dass sie das Elend nur beseitigen kann, wenn sie selbst ihre Interessen vertritt. Und schliesslich:
Zu wissen, dass die Einrichtung eines gesunden Geschlechtslebens zunächst die Schaffung der sozialistischen Planwirtschaft zur Voraussetzung hat, was die Kapitalisten nicht zulassen werden, wenn man ihnen nicht die materielle und ideologische Gewalt über die Masse nimmt.
Von den elektrophysiologischen Problemen der sexuellen Spannung und Entspannung führt also eine gerade Linie zur Frage der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft.


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