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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 2, Heft 3 (7) (1935)

 Band 2, Heft 3 (7) (1935) 
145 Wilhelm Reich: Der Kampf um die neue Moral [Kapitel aus R.'s »Die Sexualität im Kulturkampf« (1936); später u.d.T. »Die sexuelle Revolution« (1966, engl. 1945)]
166 Rolf Reventlow: Die Familie, eine wirtschaftliche Institution
175 "Erna": Zur Frage der Sexualaufklärung
178 Julius Epstein: Das Dritte Reich und die Homosexuellen
181 Jørgen Neergaard: Mit Lisa Jensen durch Nord-Schweden
184 Sexpol-Bewegung [eine Zwischenbilanz]
186 Kleine Sexpolnachrichten: Debatte über Scheidungsgesetze in England; Gegen Kulissen-Politiker [Fenichel et al.]; über Reichs "inoffizielle" Schrift »Masse und Staat«; Zur Methode des Kampfes gegen die Nazis
188 Arbeiter-Korrespondenz
189 Der Jude in faschistischem Licht
190 Besprechungen:
Zu einer Kontroverse zwischen Otto Fenichel und Edward Glover
192 Frieda Hauswirth: Schleier vor Indiens Frauengemächern (Roner.)
Heinrich Kogerer: Psychotherapie (M.)
Heinz Liepmann: "Wird mit dem Tode bestraft" (P.)
Alexander Gerassimow: Der Kampf gegen die erste russische Revolution (Sch.)
196 Mitteilungen der Redaktion

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 2 (1935), Heft 3 (7), S.184-186

Sexpol-Bewegung
Einige Fortschritte der Sexpol

Wir hatten bisher nur immer von den Schwierigkeiten verschiedener Art gesprochen, mit denen wir in unserer Arbeit zu kämpfen gaben. Vor allem anderen

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musste man nach der Machtergreifung durch Hitler den deutschen Verlag und die Organisation in der Emigration vollkommen neu und mühsam aufbauen. Im Laufe dieser zwei Jahre, seit Herbst 1933, hat nun die Sexpol einen unerwartet raschen Aufschwung genommen, den wir jedoch auf keinen Fall überschätzen dürfen. Es ist so, wie wenn irgend jemand von Berlin nach New York fahren wollte, sich in den Zug gesetzt hätte und eben erst in Hamburg angekommen wäre. Von Hamburg bis New York ist der Weg noch sehr weit und unter Umständen gefährdet: Krieg !!

Wenn wir nun zum ersten Mal die Fortschritte zusammenstellen, so tun wir dies, um den in den verschiedenen Ländern für die Sexpol wirkenden Freunden und Genossen das Gefühl zu nehmen, dass sie zwar mit einer guten Überzeugung und einer richtigen Theorie, aber vereinsamt dasitzen. Die Arbeit geht international langsam fortschreitend, doch hoffnungsvoll weiter.

1. Die Sexpol verfügt zurzeit über einen gut organisierten Verlag mit teils gleichmässigem, teils steigendem Absatz seiner Literatur. In Holland soll ein Sexpol-Verlag gegründet werden.
(In Deutschland wurden die Sexpolschriften durch ein Rundschreiben im Frühjahr 1935 ausdrücklich verboten.)

2. Es besteht ein Sexpolfond, der teils durch dauernde monatliche Beiträge einzelner Freunde, teils durch grössere Spenden solcher Genossen, die es leisten können, gehalten wird. Er bestreitet die Kosten der Verlagsproduktion und den Lebensunterhalt einiger Genossen, die ihre Arbeit der Sexpol zur Verfügung gestellt haben.

3. Es bestehen internationale Verbindungen zu Genossen und Institutionen in fast allen Ländern (vergl. Kommissionärverzeichnis in der Zeitschrift). Keine Verbindungen bestehen zu Indien, China, Japan, Bulgarien, Italien.

4. Es gelang der Sexpol, bei vollster Wahrung ihres eigenen politischen Standpunktes und ihrer wissenschaftlichen Theorie die Verbindung zu allen revolutionären und linksstehenden Arbeiterorganisationen herzustellen und sehr eng zu gestalten. Diese Verbindungen betreffen insbesondere verschiedene kommunistische Parteien, die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die Organisation der Internationalen Kommunisten (Trotzkisten), die Westeuropäische Freidenkerbewegung, radikale Sozialdemokraten und Anarchosyndikalisten.

5. Von der Sexpolliteratur sind bisher übersetzt oder in Übersetzung begriffen:
«Der sexuelle Kampf der Jugend»: England, Dänemark, C. S. R.
«DialektischerMaterialismus und Psychoanalyse»: Frankreich, Jugoslawien, Ungarn.
«Das Kreidedreieck» und «Wenn dein Kind dich fragt»: Dänemark, Holland. Massenpsychologie des Faschismus: England, Amerika.
«La crise sexuelle»: Frankreich.
Das ist wenig, doch mit Berücksichtigung des reaktionärpolltischen Charakters der letzten zwei Jahre bereits mehr als man 1933 erwartet hatte. Es zeigt sich auch, dass die vielen Versuche, Übersetzungen der Sexpolliteratur unterzubringen, an der Angst der Verleger aller Richtungen vor dem Thema und seinen Konsequenzen scheitern.

6. Sexualpolitische Bewegung:
a) In fünf Ländern haben sich Sexpolgruppen formiert. Wir können über Art und Charakter dieser Gruppen aus politischen Gründen nichts aussagen.
b) Bei der Reichstagswahl 1935 in Dänemark kandidierte zum ersten Male ein Vertreter der Sexpol mit eigenem Programm in Einheitsfront mit der kommunistischen Partei Dänemarks; die Erfahrungen dieses ersten Wahlkampfes werden demnächst verschickt werden.
c) In Holland will das proletarische Kindertheater «Das Kreidedreieck» als sexualpolitisches Stück für Kinder von Kindern gespielt dramatisieren.
d) In Schweden hat sich Lisa Jensen, die praktisch leitende Sexualpolitikerin des dortigen sexualpolitischen Verbandes, der etwa 25.000 Mitglieder aus allen Parteirichtungen und Parteilose zählt, prinzipiell und praktisch zur Zusammenarbeit mit der Sexpol bereit und mit ihrer Auffassung einverstanden erklärt.
e) In Holland fand vom Juni bis Juli 1935 eine lebhafte Diskussion in anarchistischen und kommunistischen Kreisen über die Rolle der Sexualität im Klassenkampf öffentlich statt; ebenso wurde die «Massenpsychologie» von englischen Kommunisten sehr ernst genommen. In Frankreich erschien eine lange Besprechung der «Massenpsychologie» in einer revolutionären Zeitschrift. f) Aus Zuschriften von bekannten revolutionären Schriftstellern geht hervor,

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dass die Einführung des psychologischen Denkens in die revolutionäre Arbeiterbewegung in manchen Schriftstellerkreisen lebhaften Anklang findet. So druckte z.B. die «Weltbühne» unaufgefordert einen Abschnitt aus dem «Einbruch der Sexualmoral» ab.
g) Englische Pädagogen fortschrittlicher Art, die schon lange Zeit sich in der Richtung einer sexualbejahenden Kindererziehung bewegen, sprachen sich grundsätzlich für die Richtigkeit der Sexpolanschauungen aus. Am bedeutsamsten erscheint uns, dass die Rolle der Sexualideologie im Klassenkampf, die noch vor zwei oder drei Jahren nur dem Fachkundigen greifbar war, heute in Deutschland ganz objektiv zutage tritt. Es ist kein Zufall, dass die Julius-Streicher-Propaganda in der letzten Zeit derart zunahm und der letzte Reichstag, ausser dem Flaggengesetz, ausschliesslich sexualreaktionäre Gesetze "annahm". Es wird nicht lange dauern, bis allgemein erkannt werden wird, dass die Hitler'sche Rassenpolitik reaktionäre Sexualpolitik ist und wesentlich mit einer revolutionären Sexualpolitik geschlagen werden muss. Darüber hinaus hören wir aus Deutschland, dass die revolutionären Arbeiter und illegalen Kämpfer sich auf der Suche nach einer brauchbaren Psychologie befinden, die ihnen die merkwürdigen Verhaltungsweisen der Masse und der nationalsozialistischen Funktionäre erklärlich machen könnte. Es besteht berechtigter Grund anzunehmen, dass sich sehr bald dieses Bedürfnis der revolutionären Bewegung entwickeln und mit der Bewegung der Sexpol zusammentreffen wird.
h) Das Anwachsen des Interesses an der Sexpolbewegung zeigt sich ferner im zunehmenden internationalen Briefwechsel; gerade aus Ländern mit reaktionärer Diktatur kommen Briefe von Jugendlichen, in denen Klärung der verworrenen sexualpolitischen Situation in der Jugend gefordert wird.
i) Ein hervorragender sowjetrussischer Filmregisseur setzte sich mit der Sexpol in Verbindung und betonte den Wert der Orgasmustheorie für die filmische Produktion.
k) In Professor Malinowski, London, fand die sexualökonomische Theorie der Entwicklung des Vaterrechts aus dem Mutterrecht und der Wandlung von der Sexualbejahung in die Sexualverneinung einen warmen Freund und Vertreter. Wie er schreibt, hat er sich in Amerika und England bemüht, die sexualökonomischen Probleme in der Ethnologie darzulegen.
l) Es ist besonders zu betonen, dass die rein naturwissenschaftliche Arbeit der Sexpol-Spezialisten trotz der angestrengten sexualpolitischen Arbeit nicht abgenommen hat. Im Gegenteil, es gelang, die praktische Arbeit auf physiologischem und charakteranalytischem Gebiete auszubauen und die Verbindung insbesondere zu deutschen Psychotherapeuten und zu Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in freundschaftlichster und sachlich korrektester Weise weiterzuführen. In Kürze wird-eine charakteranalytisch-klinische Zeitschrift erscheinen.
m) Die in Heft 2/1935 publizierte Erklärung der beiden Präsidenten der Weltliga für Sexualreform zeigt uns an, dass ein grosser und wichtiger Teil der Funktionen der Weltliga, allerdings ins revolutionäre Lager geführt, von der Sexpol übernommen wurde. Die sexuologischen Fachspezialisten der Sexpol wissen genau, was sie der Forschung und der Arbeit Hirschfelds zu danken haben, doch sie wissen auch, welche Unklarheiten und Inkonsequenzen die nunmehr aufgelöste Weltliga für Sexualreform behindert hatten, die internationale Sexualpolltik fruchtbar und erfolgreich durchzuführen. Man darf sagen, dass die Sexpol heute als eine geschlossene sexualpolitische Bewegung ohne internationale Konkurrenz arbeitet.

Überblicken wir diese Erfolge, insbesondere die des letzten Jahres, dann besteht kein Grund, sich vor einer Überschätzung zu fürchten, wenn man sagt: Die Sexpol hat mit geringen Kräften unter allerschwersten äusseren Bedingungen ein Stück Arbeit im Dienste der sozialistischen Weltbewegung geleistet.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 3 (7), S. 187

Gegen Kulissenpolitiker [Fenichel et al.]

Es gibt Psychoanalytiker und analytisch orientierte Pädagogen, die sich Freunde der Sexpol nennen, doch in Wirklichkeit nicht den Mut haben, sich offen mit der Arbeit der Sexpol auseinanderzusetzen. Der Grund hierfür ist hauptsächlich der, dass sie keine geeigneten Argumente gegen die Theorie der Sexualökonomie vorzubringen haben, selbst jedoch keine eigenen Anschauungen entwickelten und sich auf der andern Seite nicht von der Freud'schen Kulturphilosophie laut und deutlich abzugrenzen wagen. Das Resultat dieses Durcheinanders von Einstellungen ist, dass sie sich in Kulissenmanöver der Sexpol gegenüber verstricken. Wir schätzen das Wissen und die subjektive Ehrlichkeit vieler aus dieser Zwischengruppe hoch ein, doch wir können uns bei der Fülle und Kompliziertheit unserer Aufgaben nicht auf raffinierte Gegendiplomatie und Gegenintrigen einlassen. Unsere Stärke ist, dass wir offen vor aller Welt unsern Kampf austragen. Wir haben nichts zu verbergen. Wir ersuchen sie, sich in Angelegenheiten, die die Sexpolarbeit berühren oder betreffen -- und dazu gehört selbstverständlich auch die naturwissenschaftliche Opposition innerhalb der I.P.V., offen an uns zu wenden. Der Zusammenhalt aller Linken in dieser Zeit ist unbedingt notwendig. Doch es muss auch wirklich ein Zusammenhalt sein. Eine Fortsetzung dieser diplomatischen Spielerei würde uns zu Massnahmen zwingen, denen wir gern entgehen möchten.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 3 (7), S. 190-192

Besprechung:
«Über Psychoanalyse, Krieg und Frieden»
[zu einer Kontroverse zwischen Otto Fenichel und Edward Glover]

In Heft Nr. 2-3 des «Internationalen Ärztlichen Bulletins» erschien ein Aufsatz von Otto Fenichel, der ein Buch von Edward Glover (London), «Krieg, Sadismus und Pazifismus», kritisierte. Diese Kritik wurde nun in Heft 5-6 der gleichen Zeitschrift von Glover wie folgt beantwortet:

"In Ihrer Ausgabe vom März 1935 erweisen Sie mir die Ehre, eine längere Kritik von Fenichel über mein Buch «Krieg, Sadismus und Pazifismus» zu veröffentlichen.
Was Fenichels Haupteinwände betrifft, so besteht wenig Interesse, darauf einzugehen. Sie stellen die übliche Antwort des Sozialisten oder Kommunisten auf einen psychologischen Versuch dar, der seine ökonomischen und soziologischen Lieblingstheorien zu bedrohen scheint. Es ist vielleicht auf-

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fällig, dass ein Berufspsychologe von Fenichels Rang weniger psychologische Einsichten zeigt als die meisten sozialistischen oder kommunistischen Theoretiker. Aber das ist schliesslich seine eigene Angelegenheit.
Ich schreibe zunächst, um auf zwei einzelne Punkte zu lenken, die mich persönlich betreffen, und zweitens auf einen Punkt, der die Beziehungen der Psychoanalyse zur Soziologie in vitaler Weise angeht.
Was die einzelnen Punkte betrifft: Fenichel behauptet nicht nur, dass mein Buch eine rücksichtslose Karikatur der von Freud in seinem Buche «Warum Krieg ?» über den Krieg ausgeführten Hauptsätze sei, sondern dass besonnene und orthodoxe Psychoanalytiker die von mir aufgestellten Argumente nicht unterstützen würden. Es ist vielleicht von Interesse festzustellen, dass die im Buch dargestellten Ansichten in Form eines Vortrages in Genf mindestens ein Jahr vor der Arrangierung des Freud-Einstein-Briefwechsels geäussert wurden. Was den zweiten Punkt betrifft, so genügt vielleicht die Mitteilung, dass der Gründer der Psychoanalyse (der wohl als genügend orthodox betrachtet werden kann) sich als 'fast restlos einverstanden' mit den Argumenten erklärt hat, die in meinem Buch dargelegt sind.
Auf jeden Fall ist es wichtiger, folgendes klarzustellen: Die Psychoanalyse, welche die neue Wissenschaft der klinischen Psychologie repräsentiert, gehört zu keinem bestimmten politischen Glaubensbekenntnis. Sie will nicht in einen künstlichen Konflikt zwischen 'Sozialismus' oder irgend einen anderen 'Ismus' hineingezogen werden; sie will auch nicht dazu gezwungen werden, für den Sozialismus die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Soviel ich weiss, haben die wenigen Versuche, die von Analytikern gemacht wurden, die Psychoanalyse zur Stütze eines besonderen politischen Glaubens zu gewinnen, in einer Ablehnung analytischer Grundsätze und Verleugnung analytischer Entdeckungen geendet. Die neueste Bemühung, die Psychoanalyse auf diese Weise auszubeuten, hat ihren Urheber zu den naivsten und äusserst ungenauen Annahmen über den Einfluss später Umgebungsfaktoren auf das Unbewusste geführt, Annahmen, die kein Orthodoxer einen Augenblick verteidigen würde.

Edward Glover"

(Zuletzt ist Reichs Forschung gemeint.)

Hierzu bemerkt Dr. Otto Fenichel:

"Glovers Erwiderung auf meinen Artikel hebt zwei Details heraus, die für ihn persönlich von besonderem Interesse sind, und einen Punkt, der die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Soziologie betrifft. In Bezug auf jene muss ich die Richtigstellung entgegennehmen, dass Glovers Vorlesungen ein Jahr vor dem Freud-Einstein-Briefwechsel gehalten wurden; ferner feststellen, dass ich, wenn Professor Freud sich mit Glovers Buch als 'fast restlos einverstanden' erklärte, an dieser Stelle meinem verehrten Lehrer, Prof. Freud, nicht folgen kann. Wichtiger aber sind die allgemeinen Bemerkungen Glovers, denen zufolge meine Kritik seines Buches ein Einspannen der Psychoanalyse in den Rahmen eines politischen '...ismus' wäre, bei dem für die Wissenschaft nichts Gescheites herauskommen könnte. -- Ich forderte, man möge, ehe man über einen Gegenstand wisssenschaftlich urteilt, erst einmal die wirklichen Tatsachen in ihrer Bedeutung würdigen; man dürfe nicht den Trugschluss ziehen, aus der Erkenntnis der Wirksamkeit unbewusster Triebe, die 'rationalisiert' werden, folgt, alle andere reale Wirklichkeit wäre bedeutungslos und beeinflusst das menschliche Handeln nur insoferne, als es zu Rationalisierungen dient. Wäre Aufstellung und Erfüllung solcher Forderungen 'Einspannen der Wissenschaft in den Dienst unwissenschaftlicher Propaganda' -- dann bekennte ich mich gerne zu dieser 'Unwissenschaftlichkeit'.

Fenichel"

Wir bewundern die taktische Vorsicht dieser Sätze.
Da die Sexpol an derartigen Diskussionen nicht nur interessiert, sondern vielmehr ihr eigentlicher Urheber ist, fühlen wir uns verpflichtet, hierzu unseren Standpunkt kurz darzulegen:

1. Dr. Edward Glover hat mit seiner Behauptung, dass Freud seiner Weltanschauung nach mit der Glover'schen Richtung "fast restlos einverstanden" ist, vollkommen recht. Wir haben von jeher darauf hingewiesen, dass die soziologischen Denkfehler der bürgerlichen Psychoanalytiker sämtlich in den Freud'schen soziologischen und philosophischen Schriften angelegt sind. Freud war nur nie grotesk wie etwa Laforgue oder Glover.

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2. Dr. Otto Fenichel stellt sich naiv, wenn er so tut, als ob ihm diese Einstellung Freuds erst jetzt bekannt geworden wäre. Fenichel ist einer der besten Kenner der psychoanalytischen und gewiss der Freud'schen Literatur; er wusste genau, dass hinter Glover Freud steht. Fenichel wusste auch genau, dass die Diskussion Freuds mit Einstein über «Krieg und Frieden» eine grundsätzlich falsche, nämlich biologistische Anschauung über den Krieg vertrat. Er bleibt in seiner Antwort am Formalen haften und verhüllt dadurch den Kern der Sache. Das Wesentliche, das Glover ebenso wie die meisten anderen bürgerlichen Analytiker übersieht, ist folgendes: Die Analyse hat als ihr ursprüngliches Ziel die Befreiung der Menschen von dem, was ihr Triebleben unterdrückt und knechtet. Wenn sie diese Aufgabe konsequent verfolgt, kommt sie, gewollt oder ungewollt, notwendigerweise auf sehr schwere Hindernisse, die die Umwelt ihr entgegenstellt. Es sei hier nur in Kürze genannt: die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Jugendlichen von den Eltern, die heutige Eheinstitution und Ehemoral etc. Sich diesen Tatbestand klar und nüchtern zu überlegen, hat weder etwas mit "Kastanien aus dem Feuer holen" zu tun, noch bedeutet das "naivste und äusserst ungenaue Annahmen über den Einfluss späterer Umgebungsfaktoren auf das Unbewusste." Wir haben allerdings nicht den Mut, wie Herr Glover, uns über so entscheidende Faktoren des menschlichen Lebens mit derselben Leichtigkeit wie er hinwegzusetzen, sondern wir bekennen uns dazu, in ihnen in der Tat ungeheuer wichtige Umbildungsmöglichkeiten der menschlichen Charaktere in einer veränderten Gesellschaft zu erblicken. Dabei verstehen wir, dass die bürgerlichen Analytiker vor den Folgen konsequenten logischen Denkens zurückweichen und unbewusst gezwungen sind, einen Ausweg in der Richtung idealistischer, metaphysischer Gedankengänge zu suchen. Dass sie dabei die Grundlagen streng naturwissenschaftlicher klinischerArbeit verlassen, ist uns längst klar. Die Sexpol nimmt für sich in Anspruch, den Mut der Konsequenz zu besitzen und andererseits die Motive derjenigen zu durchschauen, die vor ihr zurückweichen.

3. Die Bedeutung der Psychoanalyse (soweit sie naturwissenschaftlich ist) für die Arbeiterbewegung ist in den Sexpol-Schriften eindeutig dargelegt worden. Freud selber hat sich wiederholt streng gegen die revolutionäre Nutzbarmachung seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ausgesprochen. Otto Fenichel kompliziert nun die klargestellte Situation dadurch, dass er der heutigen Psychoanalyse und Freudtheorie Stellungnahmen und Absichten zuschreibt, die die offizielle Organisation der Psychoanalyse ablehnt. Dadurch wirkt er nur verwirrend. Wir durften von Fenichel auf Grund seiner psychologischen Kenntnisse erwarten, dass er die Tragweite der unbeirrbar durchgeführten analytischen Arbeit erkennt. Er kann entweder kämpfend dafür eintreten oder sich abwartend verhalten. Auf jeden Fall aber muss eine Diskussion mit Menschen wie Glover, wenn man sich überhaupt darauf einlassen will, so geführt werden, dass die wesentlichen Abweichungen klar und deutlich herausgestellt werden. Die Sache ist ernst und zu wichtig, um mit diesem Bekenntnis der "Unwissenschaftlichkeit" abgetan zu werden. Es kommt auf ganz andere Dinge an als nur darauf, in akademischer Weise "nicht den Trugschluss zu ziehen, aus der Erkenntnis der Wirksamkeit unbewusster Triebe, die 'rationalisiert' werden, folge, alle andere reale Wirklichkeit wäre bedeutungslos und beeinflusst das menschliche Handeln nur insofern, als es zu Rationalisierungen dient."

Dieses andere ist die Befreiung der Menschheit vom Joche der Sexualanterdrückung. Ihr dient die Freud'sche naturwissenschaftliche Psychologie in bestimmten Grenzen und in einer ganz bestimmten Weise, gleichgültig ob Freud selber es wünscht oder ablehnt.

Die Psychologie greift immer mehr in das Geschehen unserer Zeit ein. Der Kampf um die korrekteste Anwendung der Psychologie im Ringen um die Befreiung der Menschheit von Irrsinn, Krieg, Verdummung, Unterdrückung erfordert höchste Klarheit, Mut, Ehrlichkeit oder bescheidene Zurückhaltung, wenn diese Eigenschaften nicht gegeben sind.


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