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ein paraphilosophisches Projekt nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit |
"La Mettrie, Julien Offray de (23. November 1709 Saint Malo - 11. November 1751 Berlin), La Mettrie, über dessen Herkunft und Jugend wenig bekannt ist, studierte zunächst Philosophie und Naturwissenschaften, dann Medizin. Nach seiner Promotion (Rennes, 1736 (2)) ging er aus Unzufriedenheit mit dem Stand der Medizin in Frankreich nach Leiden/Holland, wo der damals in Europa führende Mediziner Hermann Boerhaave lehrte. Dort begann La Mettrie seine schriftstellerische Tätigkeit, indem er zunächst medizinische Schriften Boerhaaves ins Französische übersetzte und mit Kommentaren versah, bald aber auch eigene medizinische Abhandlungen verfasste. Nach zwei Jahren in Leiden kehrte er in seine Geburtstadt Saint Malo zurück, liess sich als Arzt nieder, heiratete und wurde 1741 Vater einer Tochter. Als La Mettrie in Potsdam eintraf, stand er dort in bestem Ruf. Er wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und Friedrich ernannte ihn zu seinem Leibarzt und persönlichen Vorleser bzw. Gesellschafter. Bei Friedrichs Tafelrunde berühmter Freigeister auf Schloss »Sanssouci« war er ständiger Gast. Vor allem eines verstand sich hier von selbst: Der verfolgte Autor von »La Volupté« und »L'homme machine« sollte unter dem Schutz Friedrichs seine philosophischen Gedanken frei und ohne jede Zensur publizieren können. Doch es kam schnell ganz anders. Friedrich sah sich bald ausser Stande, sein Versprechen aufrecht zu erhalten. La Mettries Attacken auf die Geldgier der unfähigen Ärzte und die Vorurteile des bornierten Klerus hatten Friedrichs Beifall gefunden. Auf Sanssouci aber, im Rahmen der Konversation bei Hofe, konnte La Mettrie offenbar nicht an sich halten, auch die Vorurteile der Freigeister, freilich in mild-ironischer Form, aufs Korn zu nehmen. (3) Damit ist er dann schnell an die Grenze auch der friderizianischen Toleranz gestossen. Friedrich beauftragte Maupertuis, den Präsidenten der Akademie, La Mettrie dringend nahezulegen, dass er sich selbst verpflichte, keine eigenen Werke mehr zu publizieren, sondern seine literarische Aktivität auf Übersetzungen zu beschränken. Erklärte Absicht war, La Mettrie vor sich selbst, vor unbedachten Exzessen seiner "gefährlichen Einbildungskraft" zu schützen. (4) La Mettrie, dem kein weiteres Asyl mehr offen stand, musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber er liess sich nicht einschüchtern und fand einen Weg, unter Wahrung der Form seine unwillkommenen Gedanken über die Vorurteile der Aufgeklärten zu publizieren. Er übersetzte weisungsgemäss eine unverdächtige klassische Schrift: Senecas »De beata vita«; aber er schrieb dazu, da ihm das nicht ausdrücklich untersagt worden war, eine "Einleitung". Diese Einleitung gestaltete La Mettrie zu dem Werk, das er dann selbst als sein Hauptwerk betrachtete: »Discours sur le bonheur«. Es gelang ihm, trotz der permanenten Kontrolle durch den täglichen Umgang mit Friedrich und anderen "Aufpassern", den Seneca samt Einleitung ohne Vorzensur drucken zu lassen. Der Eklat war perfekt, freilich ein sehr leiser Eklat; denn La Mettries Asylherr, der sich auf seine Toleranz in geistigen Dingen viel zugute hielt, konnte ihm kaum Ausdruck zu geben. Friedrich, der wütend einige Exemplare dieses Werkes ins Feuer geworfen haben soll - wie der junge Lessing, darüber hoch erfreut, an seinen Vater schrieb (5)- , konnte ja schwerlich offen als Zensor eines Philosophen auftreten, den er vor kurzem noch gepriesen und vor Verfolgung gerettet hatte. Deshalb blieben seine Massnahmen eher unauffällig. La Mettrie behielt seinen offiziellen Status bei Hofe und in der Akademie, aber er wurde jetzt gedrängt, seine »uvres philosophiques« - aber ohne sein Hauptwerk - herauszugeben: gleichsam als Abschluss seiner nur erst fünfjährigen philosophischen Laufbahn, als geistiges Testament des gerade 40-jährigen mit stillschweigendem Widerruf der ihm wichtigsten Ideen. Über La Mettries persönliche Situation am Hofe sind kaum Zeugnisse von ihm selbst überliefert; berichtet wurde von verschiedener Seite, dass er dort so etwas wie ein Hofnarr war - offenbar eine Rolle, in die er geflüchtet war, um die Lage zu entspannen. Als "lachender Demokrit" wurde er damals auch in Kupfer gestochen. In dieser Rolle verfasste er einige kleinere, aufgrund ihrer vertrackten Ironie oft missdeutete Schriften. Freilich konnte La Mettrie diesem gekünstelten Frieden nicht trauen; er, der einzige konsequente Atheist am Hofe, sah sich in seinem letzten Asyl zunehmend von heimlichen Feinden umgeben, die ihn trotz seiner Hofnarren- und Spassmacherrolle durchaus ernst nahmen, so sehr, dass er fürchtete, dass "eines Tages der Schierlingsbecher der Lohn meines philosophischen Mutes sein würde." (6) In einer kleinen, wiederum zum Selbstschutz hochironischen Schrift (»Le petit homme à longue queue« (7)) wiederholte er, ganz nebenbei, seine Befürchtung, dass er der "Wut der Frommen" zum Opfer fallen werde. Dies war seine letzte Schrift. Wenige Wochen später starb der bis dahin Kerngesunde: dem Gerücht nach als Folge massloser Völlerei; in Wahrheit blieb die Todesursache ungeklärt. *** La Mettries Befürchtungen über seine Gefährdung sowie seine zwischen den Zeilen zu lesende und in Ironie verpackte Einschätzung, dass auch die meisten seiner aufklärerischen Zeitgenossen zu jenen "Frommen" zu zählen sind, erwiesen sich als durchaus realistisch. Das ist auch durch überlieferte Zeugnisse der Reaktionen einiger prominenter Aufklärer auf seinen Tod belegbar. Voltaire zum Beispiel hatte La Mettrie schon zuvor in Briefen, die zur Publikation bestimmt waren, als Narr und Trinker verleumdet. Jetzt begrüsste er - selbst hochgradig hypochondrisch und zeitlebens kränkelnd - den Tod "dieser strotzenden Gesundheit" mit unverhohlener Genugtuung. Der Kirchenfeind ("écrasez l'infâme!") - der sich jedoch im Alter aus Sorge um seinen Leichnam die Beichte abnehmen liess - scheute sich nicht, seine sarkastische Freude darüber zu Papier zu bringen, dass La Mettrie, "aufgedunsen und dick wie ein Fass", gegen seinen ausdrücklichen Willen "an der katholischen Kirche beerdigt wurde." (8) Und Diderot, ebenfalls ein grosser Verfechter der Ideen von Toleranz und Humanität, hasste den ihm persönlich unbekannten La Mettrie mit solcher Inbrunst, dass er nach Jahrzehnten eisernen Totschweigens doch noch die Contenance verlor: "La Mettrie ist so gestorben, wie er sterben musste: als Opfer seiner Masslosigkeit und seines Wahnsinns. Aus Unfähigkeit in der Kunst seines Berufes tötete er sich selbst. Dieses Urteil ist streng, aber gerecht." Der führende Kopf der philosophes sah sich deshalb ermächtigt und offenbar auch verpflichtet, "einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen aus der Gemeinde der Philosophen auszuschliessen." (9) Noch als Autor des »L'homme machine« hatte sich La Mettrie bei den Freisinnigen der Zeit bester Reputation erfreuen können. Friedrich hatte förmlich um ihn geworben, und Maupertuis, damals führender Naturwissenschaftler und Präsident der preussischen Akademie, sprach in den höchsten Tönen von ihm. Dies änderte sich schlagartig, als sein »Discours sur le bonheur« ruchbar wurde, zudem ergänzt durch eine neue Version seiner Schrift über die Wollust, »L'art de jouir«. Seitdem galt La Mettrie als Narr: den einen als ein Schreibwütiger, der nicht recht wusste, was er anrichtete, den anderen als gefährlicher literarischer Sittenstrolch. Lessing nannte ihn einen "Porneuten" und seinen »Discours« eine Abscheulichkeit; Friedrich, der zu La Mettries Tod eine ambivalente Eloge auf ihn verfasste, sprach später von ihm als einem Verrückten. Die Aufklärer jeglicher Richtung waren sich jedenfalls, ohne Absprache, in einem zentralen Punkte einig: La Mettrie ist als Unperson zu behandeln. Ein Jahrhundert nach La Mettries Tod versuchte Friedrich Albert Lange, in seiner einflussreichen »Geschichte des Materialismus« (1866) den fast verschollenen, nur noch gelegentlich als "Prügeljunge des Materialismus" herbeizitierten Philosophen zu rehabilitieren. Lange betonte die solide wissenschaftliche Bildung La Mettries und den zeitlichen Vorrang vieler seiner Ideen vor denen höher geschätzter Zeitgenossen wie Holbach, Helvétius oder Diderot; und er sah in seiner Person eine "edlere Natur als Voltaire oder Rousseau". Doch ausgerechnet die Schriften, die La Mettrie als seine wichtigsten ansah, bezeichnete Lange als "verwerflich" (»Discours sur le bonheur«) und sogar als "besonders widerwärtig" (»L'art de jouir«). (10) Seit dieser fragwürdigen Ehrenrettung La Mettries, die in Frankreich und anderen europäischen Ländern ähnlich verlief, erschien von La Mettrie fast nur noch ein Buch: »L'homme machine«, in die wichtigsten Sprachen übersetzt. Autorname, Buchtitel und philosophische Aussage verschmolzen zu einem populären Klischee. La Mettries Hauptwerk indes blieb selbst Experten für die französische Aufklärung meist unbekannt. Die Entdeckung des anderen, authentischen La Mettrie, der von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als Unperson behandelt und als "Paria des Geistes" verfemt worden war, des La Mettrie, der von seinen späteren Fürsprechern als peinlich empfunden wurde, diese Entdeckung begann erst vor zwei bis drei Jahrzehnten. Man deutet nun das Vorgehen der Aufklärer als taktisch-politische Klugheit im Kampf mit den etablierten Mächten ("Bauernopfer") und die moralischen Bewertungen Langes und anderer als Ausdruck zeitbedingter Befangenheit; und man kann in La Mettries "Lehre vom Schuldgefühl" und in seiner Auffassung vom Wesen sexueller Lust weder etwas sittlich Anstössiges noch eine theoretische Herausforderung erkennen. Damit schliesst man - ebenfalls durchaus in zeitbedingter Befangenheit - an die durchgängige Praxis an, La Mettries Hauptwerk zu bagatellisieren oder ganz zu übergehen. *** La Mettrie bezeichnete den »Discours sur le bonheur« deshalb als sein Hauptwerk, weil diese Schrift seine théorie des remords (Lehre vom Schuldgefühl / Über-Ich) enthält, die er für seine einzige originäre philosophische Leistung hielt. (11) Da diese Theorie eng mit seiner Auffassung vom Sexuellen verwoben ist, kann La Mettries Schrift »L'art de jouir« sozusagen als zweiter Band des Hauptwerks gelten. Diese beiden Bücher sind auch die einzigen, deren Übersetzung ins Deutsche La Mettrie selbst veranlasst hat. Sie erschienen 1751, kurz vor seinem Tod, unter den Titeln »Das höchste Gut oder Gedanken über die Glückseligkeit« und »Die Kunst, Wollust zu empfinden«, waren aber aufgrund sofortiger zensorischer Repression jahrhundertelang verschollen. Die Kernidee von La Mettries Theorie lässt sich treffend unter den Titel »Negation des irrationalen Über-Ichs« (12) bringen, weil der (erst 1923 von Freud eingeführte) Begriff des Über-Ichs, auch wenn er hier vage bleiben muss, sich bestens eignet, heute eine Vorstellung von La Mettries mit Begriffen seiner Zeit beschriebenen Auffassung zu vermitteln. La Mettrie ging von der Beobachtung aus, dass es nur sehr wenigen Menschen gelingt, "die Vorurteile der Kindheit abzulegen und die Seele mit der Fackel der Vernunft zu reinigen." (13) Er sprach das Offenkundige aus: dass dies nicht an mangelnder Intelligenz oder bösem Willen liege und die Resistenz gegen Aufklärung tiefer im Organismus verankert sei - "denn man entledigt sich nicht auf blosse Lektüre hin jener Prinzipien, die einem so selbstverständlich sind, dass man sie für natürliche hält." Im Gegenteil, der scharfe Intellekt fungiere oft als virtuose Abwehr von vernünftigen Einsichten, wenn diese den Seelenfrieden des in Vorurteilen Befangenen bedrohen. (14) Wenn aber jemand die Vernunft abwehrt, weil sie sein Wohlbefinden stört, ist seine Seele früh entsprechend "gebeugt" worden. Hier, in der Erziehung, in der schon mit der Geburt einsetzenden Enkulturation des Menschen, sah La Mettrie die Wurzel des Übels der Aufklärungsresistenz. (15) Enkulturation und Erziehung sind, wie La Mettrie natürlich wusste, für den Menschen so lebensnotwendig wie unvermeidbar. Aber gerade das, was allgemein als ihr wichtigster Effekt angesehen wird, die weitgehend "unbewusst und ungeprüft" erfolgende Weitergabe von Wert- und Charakterhaltungen - also die Errichtung eines Über-Ichs, welche das werdende Ich als innere Instanz "über sich" bereits vorfindet, wenn es sich zu entfalten beginnt - bezeichnet La Mettrie als "unheilvollste Mitgift", als "Unkraut im Kornfeld des Lebens", als "grausames Gift", das dem Menschen "das Leben vergällt". Warum? Weil es in aller Regel ihm die Fähigkeit zu authentischem Glückserleben beeinträchtigt und ihm den Weg versperrt, die "Kunst, Wollust zu empfinden" auszubilden. La Mettries Fazit: "Den ärgsten seiner Feinde trägt der Mensch also in seinem Inneren." (16) Es liegt auf der Hand, dass es bei dem Prozess der Enkulturation zunächst gar nicht um die Einpflanzung von bestimmten, konkreten Wertvorstellungen geht; es geht um die psycho-physiologische Modifikation des Organismus ("eingeprägt wie ein Petschaft in weiches Wachs"), um die Zurichtung und "Beugung der Seele" zwecks Einpassung in die bestehende Kultur, die wahrer Wollust (s.u.) ebenso feindselig gegenüber steht wie wahrer Vernunft. (17) Das Fatale: die auf diese - präkognitive, irrationale - Weise erfolgende Errichtung eines Über-Ichs erzeuge sogar, als Nebenwirkung, erst viele jener "Triebe", zu deren Niederhaltung das irrationale Über-Ich (mittels Schuldgefühl, remords) offenkundig später oft gar nicht in der Lage ist. Diese seit Urzeiten "normale" Schädigung der Individuen hat natürlich soziale Konsequenzen. Deshalb meinte La Mettrie auch, "dass die Welt niemals glücklich sein wird, solange sie nicht atheistisch ist", letzteres verstanden im Sinne von "ohne irrationales Über-Ich" (denn die Frage nach der Existenz "Gottes" war für La Mettrie sinnlos). In diesem Sinne ist auch seine Forderung zu verstehen, dass "die Religion samt allen ihren [säkularen] Ablegern vernichtet und mit der Wurzel ausgerottet" werde, damit die Menschen "allein der spontanen Stimme ihres authentischen Ichs folgen." (18) Unbehindert durch ein irrationales Über-Ich wären sie in der Lage, einem rationalen Über-Ich, einer vernünftigen Ethik, gemäss zu leben. Der nicht gebeugten Seele erschlösse sich "eine ganz andersartige Quelle der Tugend, die ... innere Stärke." (19) La Mettrie hielt es für grundfalsch, zu glauben, dass der Menschen "Sinn für Ehrlichkeit, Redlichkeit und Gerechtigkeit nur noch an einem dünnen Faden hinge, wenn sie von den Ketten des Aberglaubens befreit wären." (20) Im Gegenteil: erst dann kämen diese Tugenden voll zur Geltung. "In einer vernünftigen Seele vereinigen sich Pflichtbewusstsein und Sensibilität für Lust so vorzüglich, dass sie, weit davon entfernt, einander zu beeinträchtigen, sich gegenseitig verstärken." (21) Die "Sensibilität für Lust" steht in La Mettries Anthropologie an zentraler Stelle; sie ist die materielle Entsprechung zur Freiheit von einem irrationalen Über-Ich und Garant für ein rationales. La Mettrie schrieb sein Buch »Die Kunst, Wollust zu empfinden« nicht, wie man vom Titel her vermuten könnte, als eine ars amandi der damals verbreiteten Art - er spricht im Gegenteil mit Geringschätzung vom "Lebemann" und seinen "Techniken des Vergnügens" (22) - sondern als einen Text, in dem er explizit auf das Sexuelle, ein "in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Thema", eingeht und eine für seine Philosophie unabdingbare Unterscheidung deutlich machen will. (23) La Mettrie sagt hier noch einmal mit grossem Nachdruck, dass der Wollüstige (voluptueux) und der Wüstling (débauché) in Bezug auf die Art ihres Lustempfindens als Gegensätze zu betrachten sind. Wenn La Mettrie von Wollust spricht, dann meint er - und dies zeigt den unversöhnlichen Gegensatz, in dem Sade zu ihm steht - Wollust als "eine wahrhaftige Ekstase ... die nur der Wollüstige, nicht der Wüstling, erleben kann." (24) Er meint hier einen qualitativen, keinen bloss graduellen Unterschied im Lusterleben. Der Wüstling hat, wie jeder "Normale", die repressive Moral seiner Gesellschaft verinnerlicht, nur dass er zwanghaft ihre Regeln verletzt. Das Lusterleben des Wüstlings ist, da seine Seele "gebeugt" wurde, tatsächlich "wüst", d.h. öde, und von den Normen jener Moral, die auch ihm im Grunde heilig ist, insofern abhängig und bestimmt, als es sich primär aus deren Schändung speist. Die Lust des Wüstlings ist eine andere als die des Wollüstigen; sie ist, so könnte man formulieren, nicht Wo(h)l-Lust, sondern Wüst-Lust oder, wegen ihrer negativen Fixierung auf die geltende Moral, Bös-Lust. Der Wüstling ist ihr verfallen, ist nach ihr süchtig. Seine "Begierden, die einer übersteigerten Phantasie entspringen", (25) sind unersättlich, unbefriedigbar. Der Wollüstige hingegen ist, da seelisch unversehrt, auch in seiner Fähigkeit zum Lusterleben unversehrt und deshalb befriedigbar. Der soeben aufgewiesene fundamentale Gegensatz zwischen La Mettrie und Sade muss abschliessend noch einmal besonders hervorgehoben werden, und zwar, weil in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflussreiche Autoren Sade als Philosophen entdeckt haben, um ihn als "Kronzeugen" für ihre These aufzurufen, dass die Aufklärung, konsequent durchdacht, auf "moralischen Nihilismus" hinauslaufe. (26) In dieser Auffassung sind sich Philosophen sonst sehr unterschiedlicher Richtung einig: der katholische Professor Arno Baruzzi, der Privatgelehrte Panajotis Kondylis, der eine "deskriptiv-dezisionistische" Position vertritt und Max Horkheimer, der in den 1930er Jahren zu den ambitioniertesten Theoretikern einer aktualisierten Aufklärung zählte, bald aber zum wirkungsmächtigsten Denunzianten von Aufklärung überhaupt wurde. (27) In La Mettrie sehen sie bloss einen mehr oder weniger bedeutsamen Vorläufer Sades, denn sie sind oder stellen sich blind für jenen fundamentalen Gegensatz. Andere reagierten darauf, indem sie La Mettrie als den humanitären "frechen und fröhlichen Verteidiger der Libido" zu Sade als dem Perversion und Verbrechen verherrlichenden "Antipoden der Aufklärung" (28) kontrastierten. Den anderen, weitaus interessanteren Gegensatz, in dem sich ausnahmslos alle anderen Aufklärer zu La Mettrie sahen, bagatellisieren sie, und La Mettries Verfemung durch sie stellen sie als bloss politisch-taktische Massnahme hin. (29) Auf diese Weise mag es gelingen, La Mettrie zu "rehabilitieren", d.h. dieser oder jener Strömung des Zeitgeistes erfolgreich als Ahnherrn anzuempfehlen (z.B. Ursula Pia Jauch: "Statt Aufklärung: Wiederverzauberung der Welt"); (30) das ideengeschichtliche Potential, das im Werk La Mettries liegt, blieb damit weiterhin verborgen. Dieses Potential soll im Rahmen des LSR-Projekts freigelegt und für eine Wiederbelebung der seit Jahrzehnten paralysierten europäischen Aufklärung genutzt werden. Anmerkungen:(1) La Mettries philosophische Werke erschienen erstmals in den Jahren 1745-1751, danach bis Ende des 18. Jahrhunderts mehrmals in unterschiedlich zusammengestellten Sammelbänden, dann neu ediert erst wieder 1987 als »uvres philosophiques« bei Fayard in Paris (vgl. dazu Bernd A. Laska: Missglückte Repatriierung). Eine deutsche Werkausgabe, für die alle Schriften ausser »L'homme machine« erstmals übersetzt wurden, erschien 1985-1987 im LSR-Verlag, Nürnberg. Sie wird in dieser Arbeit benutzt:Band 1: Der Mensch als Maschine (enthält »L'homme machine«), im folgenden abgekürzt MM; Band 2: Über das Glück oder Anti-Seneca (enthält »Discours sur le bonheur«, nach der kritischen Edition der drei Versionen), im folgenden abgekürzt AS; Band 3: Philosophie und Politik (enthält den »Discours préliminaire« zur ersten Ausgabe der »uvres philosophiques« und eine Auswahl aus »Système d'Épicure«), im folgenden abgekürzt PP; Band 4: Die Kunst, Wollust zu empfinden (enthält »La Volupté« und »L'art de jouir« zusammengefasst sowie einen Auszug aus »Le petit homme à longue queue« und einen Briefwechsel zwischen von Haller und Maupertuis), im folgenden abgekürzt KW. (2) Die Dissertation wurde erst kürzlich aufgefunden:Stoddard, Roger E.: Julien Offray de La Mettrie. A bibliographical inventory. Together with a facsimile reprint of La Mettrie's long-lost thesis, Epistolaris de vertigine dissertatio (Rennes, 1736) . Köln: Dinter 2000, 82 S. (3) AS, S. 63: "In meiner kleinen Schrift ›Der Mensch als Maschine‹ ... habe ich [noch] nicht gewagt, gegen alle Vorurteile auf einmal anzutreten."(4) Maupertuis, in KW, S. 119(5) vgl. Einl. AS, S. ix(6) AS, S. 93(7) KW, S. 89-99(8) Brief Voltaire an Marie Louise Denis, 14. Nov.1751In: Voltaire's Correspondence, ed. Theodore Besterman, Genève 1953ff, vol. 20, p. 80f (letter 4011) (9) Denis Diderot: Essai sur les règnes de Claude et de Néron et sur la vie et les écrites de Sénèque pour servir d'introduction à la lecture de ce philosophe (1778, 1782), II, 6. Zit. n. der deutschen Ausgabe von Theodor Lücke: Denis Diderot, Philosophische Schriften, Band II, Berlin/DDR 1961, S. 428-430(10) Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus (1866). Frankfurt/M: Suhrkamp 1974, Band 1, S. 344-376(11) AS, S. 11(12) vgl. Bernd A. Laska: Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie(13) AS, S. 22(14) PP, S. 27f(15) AS, passim, S. 21, 70(16) AS, S. 53-63(17) ebd.(18) MM, S. 66(19) AS, S. 72(20) PP, S. 75(21) AS, S. 103(22) AS, S. 111(23) AS, S. 105ff(24) KW, S. 61(25) AS, S. 106(26) vgl. Bernd A. Laska: Einleitung zu AS, S. xvii-xxiii;Winfried Schröder: Moralischer Nihilismus. Stuttgart: Frommann-Holzboog 2002, S. 125-156 (zum "Kronzeugen" S. 129-137) (27) Arno Baruzzi: Einleitung, Kap. »La Mettrie«, »Sade«. In: ders. (Hg.): Aufklärung und Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts. München: List 1968Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta 1981 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido 1947 (zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen) (28) Winfried Schröder: Moralischer Nihilismus. a.a.O., S. 138, 156;Vgl. z.B. Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. München: Hanser 1998, S. 348, Fn. 13: "Es ist mir unverständlich, wie noch 1981 Panajotis Kondylis Sadesche und La Mettriesche Positionen denkerisch parallelisieren und in einen werterelativierenden Nihilismus aufgehen lassen konnte." (29) Als repräsentativ können Schröder und Jauch gelten (Anm. 28). Vgl. dazu:Winfried Schröder über La Mettrie Ursula Pia Jauch über La Mettrie (30) Ursula Pia Jauch schliesst ihr 600-seitiges La-Mettrie-Buch mit einem so betitelten Kapitel. (Jauch, a.a.O., S. 564-568)
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