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ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter


Buchbesprechungen

Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/81:
Wilhelm Reich & Alexander S. Neill: Record of a Friendship
Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Klaus-M. Meyer-Abich & Dieter Birnbacher:
Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein?
Simon Moser, Günter Ropohl & Walther Ch. Zimmerli (Hg.):
Die "wahren" Befürfnisse


Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/82:
Stephan Lackner: Die friedfertige Natur
Otto Mainzer: Die sexuelle Zwangswirtschaft
Richard Sterba: Reminiscences of a Viennese Psychoanalyst
Franz Jung: Bausteine für einen Neuen Menschen
Wilhelm Reich: Menschen im Staat
Dieter Duhm: Aufbruch zur neuen Kultur
Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik
Hubertus von Schoenebeck: Unterstützen statt Erziehen


Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/81

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Wilhelm Reich & Alexander S. Neill
RECORD OF A FRIENDSHIP

The Correspondence between Wilhelm Reich and A.S.Neill (1936-1957)
Edited, and with an Introduction, by Beverley Placzek
Farrar, Straus and Giroux, New York, N.Y., 1981
XVIII+429 pp, 20.00 $

Seit 1968, als unter dem Titel "Reich Speaks of Freud" das Protokoll eines längeren Interviews des Psychoanalytikers Kurt R. Eissler mit Reich plus einem dokumentarischen Anhang erschien, ist dies die erste Publikation von Materialien aus dem schriftlichen Nachlass Reichs, der ja bekanntlich nur der Treuhänderin zugänglich ist.

Die Herausgeberin schreibt in einer Vorbemerkung: "Bei der Aufbereitung einer derartigen Menge von Briefen für eine Veröffentlichung waren einige Kürzungen unumgänglich. Wenn manche Briefe also stellenweise zusammenhanglos erscheinen mögen, so liegt der Grund darin. Gestrichen habe ich Wiederholungen, Weitschweifigkeiten und beiläufige Erwähnungen von Leuten, die in der Geschichte insgesamt keine Rolle spielen... Andererseits habe ich keinen einzigen Satz gestrichen, der Licht auf irgendeinen Aspekt des Lebens, des Denkens oder der Persönlichkeit eines der beiden Männer werfen könnte." Die Streichungen sind im Text nicht markiert, abgesehen von einigen Stellen, wo längere, eher technische Passagen von der Herausgeberin in ein paar Sätzen zusammengefasst werden.

Die gerichtliche Klärung von Reichs umstrittenen Testamentsklauseln bezüglich seines schriftlichen Nachlasses, die auf Initiative seiner Tochter Eva 1975 begann und im November 1980 abgeschlossen wurde, hat also offenbar weder negative noch positive Auswirkungen auf die editorische Politik der Treuhänderin ge-

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habt, d.h.: es werden zwar weiterhin dokumentarische Texte aus dem Nachlass Reichs veröffentlicht werden können, aber die Möglichkeit einer Überprüfung von deren Übereinstimmung mit den Originalen bleibt nach wie vor ausgeschlossen.

Der Inhalt der Korrespondenz ist zu vielgestaltig, als dass er sich referieren oder in wenigen Worten charakterisieren liesse. Ausgesprochen Sensationelles enthält sie zwar nicht, wohl aber eine Menge von Informationen für den, der an den Menschen Reich und Neill und ihrem Verhältnis zueinander interessiert ist.

Noch anzumerken wäre, dass das Buch z.Z. ins Deutsche übersetzt wird und demnächst im Verlag Kiepenheuer und Witsch erscheint.

B.A.L.

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Jean Liedloff
AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN GLÜCK

Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit
("The Continuum Concept", aus dem Englischen von Eva Schlottmann und Rainer Taëni)
C.H.Beck, München 1980
(Beck'sche Schwarze Reihe 224) 221 S., 19.80 DM

Das erste Mal habe ich von diesem Buch erfahren, als ich Eva Reichs Beitrag für die WRB 2/80 (S.102) bearbeitete. Später las ich eine Besprechung, in der es als Schlüsseltext der sog. Antipädagogik bezeichnet wurde (neben den Büchern von Braunmühl und Alice Miller). Da Reich, obwohl von den heute tonangebenden Antipädagogen nicht sonderlich geschätzt, selbst so etwas wie ein Antipädagoge war, scheint mir dieses Buch für eine Besprechung in den WRB von Interesse zu sein.

Es schliesst mit dem Appell: "Unserer Gesellschaft muss dabei geholfen werden, den Ernst des Kleinkindern angetanen Verbrechens zu erkennen, das heutzutage als normale Behandlung gilt. Selbst in einer Kultur wie der unsrigen ... ist mit einem Verständnis des menschlichen Kontinuums die Möglichkeit gegeben, in jeder kleinsten sich von Tag zu Tag ergebenden Angelegenheit unsere Chancen zu verbessern und unsere Irrtümer zu verringern. Ohne erst auf Gelegenheit zu grösserer Gesellschaftsveränderung zu warten, können wir uns unseren Kindern gegenüber angemessen verhalten und ihnen eine gesunde persönliche Grundlage vermitteln, von der aus sie mit jeder ihnen begegnenden Situation fertigzuwerden vermögen." (S.208)

Konkreter: "Wenn eine Mutter dafür sorgt, dass ihr Baby die ersten sechs bis acht Monate hindurch ständig herumgetragen wird, so wird dies sein Selbstvertrauen si-

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chern und die Grundlage dafür schaffen, dass es während der folgenden fünfzehn oder zwanzig Jahre, in denen es zu Hause lebt, sozial, anspruchslos und ausgesprochen hilfsbereit sein wird." (S. 203) Mit "ständig herumtragen" ist durchaus "ununterbrochener Körperkontakt rund um die Uhr" gemeint, also ausser dem Schlafen in einem Bett auch das permanente Tragen (in einer Schlaufe) bei allen Verrichtungen.

Die Begründung dafür sieht die Autorin darin gegeben, dass diese Lebensweise dem "Kontinuum" der menschlichen Gattung gemäss ist, d.h. über Jahrmillionen der Evolution hinweg galt, in "99.99% ihrer Geschichte hindurch selbstverständlich war". Der Bruch dieses Kontinuums, der darin besteht, dass man diese biologisch tiefst verankerte Erwartung des Babys enttäuscht, indem man es von der Mutter isoliert und damit sensorisch weitgehend depriviert, sei der Hauptgrund für die Glücksunfähigkeit der so geschädigten Menschen.

Diese Hypothese ist nicht Produkt blossen Räsonnierens. Ihre Entstehungsgeschichte wird in groben Zügen mitgeteilt: Jean Liedloff, die einer wohlhabenden Familie New Yorks entstammt, in der viktorianische Tugenden und liberale Ansichten hochgehalten wurden, brach noch vor Abschluss der höheren Schule mit ihrem Elternhaus und ging nach Europa.

In Paris, so berichtet sie, sei ihr eine Stelle als Mannequin bei Dior angeboten worden, die sie aber ablehnte. Auch von der Modezeitschrift "Vogue" habe sie sich, "ausser für vorübergehende Jobs als Modell", nicht einspannen lassen und sei weitergezogen.

Nach einem Aufenthalt in einem lombardischen Landhaus habe sie in Florenz zwei junge Italiener getroffen, die sie zu einer Expedition in den venezolanischen Urwald einluden, wo sie Diamanten zu finden hofften. "Es war eine Einladung in letzter Minute, und mir blieben zwanzig Minuten, um mich zu entscheiden, zum Hotel zu stürzen, zu packen, zum Bahnhof zu rasen und auf die gerade anfahrende Bahn zu springen." (S.11)

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Bei der Expedition empfand sie nach einiger Zeit eine "wildromantische Liebe und Ehrfurcht (!) für den grossen, gleichgültigen Wald" (S.18); und ein naturmystisches Erlebnis, das sie als Achtjährige bei einer Wanderung durch die Wälder von Maine gehabt hatte und das in ihrer Erinnerung mehr und mehr verblasst war, erneuerte sich hier endlich.

Von ihrem Kontakt mit den dort lebenden Indianerstämmen war sie so beeindruckt, dass sie anschliessend an diese erste Expedition noch vier weitere unternahm, die letzten beiden als deren Leiterin. Bis zur vierten aber sei sie "ohne Theorie" gewesen und habe sich "ohne Scheuklappen" umgesehen. Die fünfte habe sie durchgeführt, nachdem ein New Yorker Verleger, aufgrund eines von der New York Times zitierten Ausspruchs von ihr, sie gebeten hatte, darüber Ausführlicheres zu schreiben.

Deshalb also fuhr sie diesmal zu den Yequana-Indianern -- dem Stamm, dessen Kinder die Phase des Getragenwerdens nicht entbehren müssen, der also noch ganz im "Kontinuum" lebt und sie auf den vorigen Reisen so sehr beeindruckt hatte -- nicht "nur aus Neugier" zurück, sondern vorbereitet durch eine Theorie (über Scheuklappen schweigt sie an dieser Stelle).

Demonstrative und unqualifizierte Theoriefeindschaft durchzieht übrigens das ganze Buch. Mit ihrer Annahme, ohne Theorie auch ohne Scheuklappen zu sein, und mit ihren Angriffen gegen den Intellekt, der angeblich unser modernes Leben beherrscht, liegt sie zwar voll in einem gewissen "alternativen" Trend; für die Qualität ihres Buches aber und vor allem für die Stützung ihrer eingangs zitierten Hauptthese wirkt sich diese Haltung nicht gerade positiv aus.

Die "Theorie", die sie dann doch selbst treibt, ist in langen Passagen eher ein Schwadronieren über Wolfskinder und Hellseher, Heroïnsüchtige und Gurus, etc.pp.; alles zwar auch voll im Trend, aber...

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Lesenswert sind natürlich ihre Beobachtungen bei den Yequana, deren Kinder tatsächlich schon in sehr frühem Alter eine hier unvorstellbare Selbständigkeit zu haben scheinen. Die vielen geschilderten Beispiele dafür sind sehr interessant. Was aber auffälligerweise fast ganz fehlt, sind Angaben über das Sexualleben sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen, über Familienorganisation, Pubertätsriten usw.

Viele Fragen, die beim Leser in Verbindung mit dem "Kontinuum-Konzept" eigentlich sofort auftauchen, werden nur unzulänglich oder gar nicht erörtert. Ein Beispiel: Im Kontinuum zu leben bedeutet ja, im Einklang mit der Kultur zu leben, in die man geboren ist; so ist bei Liedloff der Mensch als "soziales Tier" definiert. Ist der soziale Mensch also einfach das, was man heute als Konformist bezeichnet? Sicher nicht, denn das ganze Buch wendet sich ja gegen einen fundamentalen Bestandteil der Kultur, in der es entstanden ist. Konformist evtl. nur in Kulturen, die im Kontinuum leben? Kriterien? Reicht Tragephase?

Dazu findet man nur verschwommene Angaben. Es sei so, "dass eine Gesellschaft sozial motivierter Einzelner dem Diktat ihrer Kultur folgt und man sich hierauf verlassen kann. Ein antisozialer bzw. krimineller Charakter entwickelt sich nicht in Menschen, deren Kontinuum-Erwartungen nicht enttäuscht worden sind. Gerade so, wie ein Mörder aus dem Hinterhalt eine gegen die Gesellschaft gerichtete Tat begeht, ein Soldat mit dem Töten eines Feindes jedoch nicht, zählt das Motiv und nicht die Tat selbst bei der Beurteilung, ob der Handelnde sich sozial verhält oder nicht." (S.185)

An anderer Stelle hören wir über einen den Yequana benachbarten Stamm: "Die Sanema-Indianer, deren Kultur von der der Yequana enorm abweicht, halten es zum Beispiel für richtig, das Dorf einer anderen Sanema-Sippe zu überfallen und so viele junge Frauen zu stehlen und so viele Männer umzubringen wie möglich. Wann und wieso dieser Teil ihrer Kultur entstanden ist ... entzieht

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sich jeder Kenntnis." (S. 184f)

Die vom Kontinuum-Konzept her entscheidende Frage, ob die Sanema ihre Kinder tragen wie die Yequana, übergeht die Autorin geflissentlich -- wahrscheinlich, weil sie's tun, wie so viele Primitive, deren soziales Leben uns keineswegs vorbildlich erscheint, und weil zumindest der unkritische Leser nicht verwirrt werden soll.

Was eigentlich, so liesse sich fragen, hält die Autorin am Leben unserer Kultur für Indikatoren des Bruchs mit dem Kontinuum? Die Existenz von "Asozialen", z.B. von Leuten, die nicht Soldat werden wollen, oder von Dissidenten, wie sie selbst einer ist? Keine Frage, keine Antwort.

Dafür aber ein verborgener Rückzieher: "Die Tatsache, dass wir so ausnahmslos der Überzeugung sind, der Zustand der Glückseligkeit sei uns verlorengegangen, lässt sich nicht einzig mit dem frühkindlichen Verlust unseres Platzes innerhalb eines (!,BAL) Kontinuums von angemessener Behandlung und Umgebung erklären. Selbst Menschen wie die entspannten und fröhlichen Yequana, die ihrer erwarteten Erfahrungen nicht beraubt wurden, besitzen eine Mythologie, die einen Verlust der Gnade und die Vorstellung, sie lebten ausserhalb jenes verlorenen Zustandes, einschliesst. Sie bietet auch die Hoffnung eines Weges zurück zur Glückseligkeit mittels Ritualen, Brauchtums, und eines Lebens nach dem Tode." (S.168)

Um aus diesem Dilemma, das allen Menschen eigen ist und daran liegt, dass alle einen Intellekt haben, zu entweichen, empfiehlt die Autorin, das zu tun, was die "Menschen des Ostens, die im allgemeinen weniger geschädigt sind als der westliche Durchschnittsmensch", (S.170) tun: Meditieren.

Worin besteht nun der Rückzieher? Aus dem Kontinuum, das aufgrund von Jahrmillionen Evolution allen Menschen gemäss sein soll, wird unter der Hand ein Konti-

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nuum, für jede Kultur ein eigenes (nur nicht für unsere); aus einem naturalistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass prinzipiell bestimmbar ist, was einem bestimmten Organismus adäquat bzw. inadäquat ist, wird ein kulturistischer, der vorgibt, toleranterweise jedem seinen "Blödsinn" zu lassen; aus einer (fast) ewigen biologischen Wahrheit wird eine beliebige Konvention. Kulturkritik dieser inkonsequenten bzw. standpunktlosen Art ist meist nicht mehr als wissenschaftlich kaschiertes Lamentieren (auch wenn dies, wie hier, wiederum durch modische Wissenschaftsfeindlichkeit kaschiert ist).

Schade! Denn aus dem Ansatz hätte sich mehr machen lassen, wenn die Autorin genauere Studien getrieben hätte, vor allem über das Sexualleben, die Tabus usw. Ob die Hypothese von der Bedeutung der Tragephase für die spätere Entwicklung haltbar ist, müsste sich allerdings durch einfaches Literaturstudium entscheiden lassen, denn ein so auffälliges Charakteristikum des Stammeslebens wird wohl kaum einem Beobachter entgangen sein. Als jemand, der allein von der gelegentlichen Betrachtung von Filmberichten her weiss, dass Eingeborenenfrauen ihre Kinder sehr häufig bei der Arbeit in ein Tuch gewickelt bei sich am Körper tragen, habe ich allerdings meine Bedenken.

Das jedoch scheint mir nur eine sekundäre Schwachstelle des Buches zu sein, die sich dadurch beseitigen liesse, dass man zunächst einmal offen lässt bzw. herauszufinden versucht, welches denn nun wirklich die optimale Umgangsform von Eltern mit ihren Kleinkindern ist, um deren Glücksfähigkeit nicht zu zerstören oder zu schädigen.

Primäre Schwachstelle scheint mir zu sein, dass als Kriterium gelungener Erziehung ohne wenn und aber ganz schlicht "soziales Verhalten" genannt wird, d.h. Verhalten im Einklang mit der Kultur, in die der jeweilige Mensch hineingeboren ist.

Ich habe das oben als Umkippen von einem naturalisti-

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schen Ansatz in einen kulturistischen bezeichnet, wobei natürlich nicht einmal die Frage aufgeworfen wird, wie denn eine Kultur in etwa beschaffen sein müsste, die mit dem "evolutionärem Kontinuum" noch verträglich ist.

Dass es die der Yequana -- auch im Erleben der Yequana -- nicht ist, wird beiläufig berichtet; Konsequenzen daraus werden nicht gezogen. Der Titel "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" ist deshalb auch irreführend, denn das Glück, das wir suchen -- und das auch die Yequana suchen --, hat es in der Vergangenheit nie gegeben. Es ist, wenn überhaupt noch, in der Zukunft anzusiedeln.

Um in diesem Zusammenhang auf Reich zu sprechen zu kommen: Er beendete sein Buch "Christusmord" mit den hoffnungsvollen Worten: "Bis jetzt gab es weder Kultur noch Zivilisation. Beide sind gerade dabei, in das gesellschaftliche Leben einzudringen."

Reichs Vision war also keineswegs eine Kultur mit Yequana- oder Trobrianderglück, natürlich auch kein Schlaraffenland dauerglücklicher Zombies, sondern eine Kultur der Glücksfähigen, die ohne einen heiliggehaltenen Satz von Irrationalismen -- das einigende Band ausnahmslos aller bisheriger Kulturen -- auskommt.

Die reale Grundlage dafür sah er in der natürlichen Ausstattung jedes Neugeborenen gegeben, in dem gleichen evolutionären Kontinuum wie Liedloff also, das jedoch bisher bei jedem Einzelmenschen zugunsten des kulturhistorischen so oder so gebrochen wird -- auch bei den Yequana.

Bei aller Kritik, die dieses Buch verdient, kann eines jedoch nicht deutlich genug betont werden: Die Kernthese des Buches, die im deutschen Untertitel sehr treffend ausgedrückt ist, scheint ein Tabu unserer "wissenschaftlichen" Kultur, die sich tabufrei wähnt, zu berühren, eine unerlaubte Fragestellung aufzuwerfen -- und das allein ist ein Verdienst!

(Vgl. hierzu die folgende Besprechung)

B.A.L.

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Klaus-Michael Meyer-Abich & Dieter Birnbacher (Hg.)
WAS BRAUCHT DER MENSCH, UM GLÜCKLICH ZU SEIN

Bedürfnisforschung und Konsumkritik
C.H.Beck, München 1979
(Beck'sche Schwarze Reihe 204) 200 S., 16.80 DM

Simon Moser, Günter Ropohl & Walther Ch. Zimmerli (Hg.)
DIE "WAHREN" BEDÜRFNISSE oder: Wissen wir, was wir brauchen?
Schwabe & Co. AG, Basel/Stuttgart 1978
Reihe Philosophie aktuell Nr.11, 190 S., 18.50 DM

Wer sich, vielleicht aufgrund der Lektüre von Jean Liedloffs Buch (vgl. Besprechung in diesem Heft), darüber informieren möchte, was anderweitig über das Thema "Glück" bzw. "Unglück" gedacht wird, der kann u.a. zu diesen Sammelbänden greifen und/oder zu den folgenden relativ preiswerten Taschenbüchern:

Was ist Glück? Ein Symposion, dtv 1134, 6.80 DM
Wolf Schneider: Glück - was ist das? rororo 7392, 9.80 DM
Bertrand Russell: Eroberung des Glücks, st 389, 7.00 DM
Gorgon Rattray Taylor: Das Experiment Glück, Fischer-tb 2006, 8.80 DM
Ludwig Marcuse: Philosophie des Glücks, diogenes-tb 21/1, 9.80 DM

Obwohl ich nur vorhatte, die beiden erstgenannten Bücher zu besprechen, habe ich diese fünf weiteren mit einbezogen, weil ich mich auf eine Merkwürdigkeit konzentrieren will, die allen gemein ist. Diese ist um so auffälliger, als in den Bänden das Thema "Glück" und sein Umfeld aus den Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Weltanschauungen betrachtet wird.

Offenbar jedoch ist sie nur "eigentlich" auffällig, denn die Autoren und Herausgeber, meist Leute von gar nicht geringer Reputation, scheinen sie bei allem

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raffiniertestem Argumentieren und elaboriertestem Formulieren selbst nicht bemerkt zu haben.

Die gemeinte Merkwürdigkeit ist ein blinder Fleck, der, was manch einen verblüffen mag, trotz der pluralistischen Vielfalt der verschiedenen Standpunkte, die in den Bänden repräsentiert sind, allen einheitlich eigen ist. Sie besteht darin, dass die These von der "Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit" (Liedloff) -- ignoriert wird.

Ich möchte an dieser Stelle die Vermutung aussprechen, dass diese These -- in verallgemeinerter Form: die Zerstörung der individuellen Autonomie durch Sozialisation bzw. Kulturanpassung -- bisher auch in (fast) all den endlosen Diskussionen über das Wertproblem, also über Ethik, Moral, Deontik, Gerechtigkeit, Glück usw., ausgespart wurde. Reichs Wort von der Tendenz des Kulturmenschen, dem Wesentlichen stets auszuweichen, wäre hier wohl am Platze.

Das betrifft keineswegs nur "unkritische" Autoren. Kritisch zu sein, auch mit Marx und Freud, braucht heute niemand mehr zu scheuen. "Das System" bzw. dessen Bewahrer fühlen sich dadurch nicht mehr bedroht, und zwar zu Recht. Längst hat sich gezeigt, dass die ökonomische Revolution keinen "Neuen Menschen" hervorbringt, also keineswegs das Ende der von Marx so genannten Vorgeschichte der Menschheit eingeläutet hat. Längst auch weiss man, dass Freuds Lehre kulturbejahend im althergebrachten Sinne ist; er selbst hatte ja gesagt, "die Absicht, dass der Mensch 'glücklich' sei, ist im Plan der 'Schöpfung' nicht enthalten."

Marx und Freud, das müsste heute eigentlich klar sein, sind für eine ernsthafte kritische Theorie der Gesellschaft nur sehr bedingt zu gebrauchen. Stirner und Reich hingegen, ihre schulenlos und der Wissenschaft bis heute unverdaulich gebliebenen Rivalen, werden vielleicht einmal als jene erkannt werden, deren Gesellschafts- und Kulturkritik tatsächlich radikal war und ist, wirklich "an die Wurzel" geht.

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Erstmals von Stirner, später dann auch von Reich, wurde die Auffassung vertreten, dass die Sozialisation jedes einzelnen Menschen bisher in allen Kulturen stets mit einer Schädigung bzw. Zerstörung seiner Autonomie (bei Reich ausdrücklich auch als Glücks- und Befriedigungsfähigkeit gemeint) verbunden war und dass dies nicht quasi naturgesetzlich so sein müsse; dass echte Sozialität und echte Autonomie der Individuen einer Gesellschaft sich nicht nur nicht ausschliessen, sondern sogar einander bedingen. Es versteht sich, dass mit Sozialität hier nicht mehr bloss das reibungslose Funktionieren in einer Herrschaftsgesellschaft gemeint ist, auch nicht die Ehrfurcht vor irgendwelchen geheiligten Irrationalismen, die in allen bisherigen Kulturen das einigende Band war.

Diese Sichtweise ist allen Autoren, die in den sieben Bänden über Glück, wahre und falsche Bedürfnisse, Befriedigung usw. diskutieren, fremd.

In ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftler sind ihnen prinzipiell nur zwei Möglichkeiten denkbar, wie sie ihr Geschäft erledigen können: als wertfreie oder als parteiliche Wissenschaft.

Das Konzept der wertfreien Wissenschaft geht von dem Dogma aus, das Werten könne prinzipiell nicht Aufgabe der Wissenschaft sein. Es ist deshalb gezwungen, jedem mündigen Menschen grundsätzlich Autonomie im Werten zuzusprechen. Das Paradoxe an dieser Position ist, dass Autonomie erst dem "Mündigen" zugestanden wird, also gerade demjenigen, der in einem Anpassungsprozess seine Autonomie eingebüsst hat, während dem wahrhaft autonomen Neugeborenen Autonomie abgesprochen wird.

Das Konzept der parteilichen Wissenschaft hat wenigstens die Heuchelei nicht nötig, mit der jedem noch so offensichtlich "manipulierten" Menschen Autonomie zugesprochen werden soll. Ihr Problem ist jedoch, wofür man überhaupt auf wissenschaftlicher Basis Partei ergreifen kann. Die einflussreichste parteiliche Wissenschaft ist heute "der Marxismus". Aufgrund der von

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Marx begründeten Geschichts- und Wirtschaftstheorie ergreift er Partei "für das Proletariat". Welch dubiose Basis das ist, kann und brauche ich wohl hier nicht darzulegen.

Das Verhältnis des Stirner/Reich'schen Konzepts zu diesen beiden Alternativen -- ich fasse mich hier im Vertrauen auf das Vorverständnis der Leser einer Reich-Zeitschrift extrem kurz -- wäre eines des "weder-noch" oder des "sowohl-als-auch". Es bestünde im Kern aus der theoriegestützten praktischen Aufgabe, die Autonomie und Glücksfähigkeit der heranwachsenden Menschen in einem Generationen übergreifenden Prozess in immer geringerem Masse zu zerstören. Es geht dabei um die sukzessive Herausbildung einer völlig andersartigen Kultur, über deren Beschaffenheit die Heutigen nichts Inhaltliches auszusagen haben.

Das meinte Stirner 1844, als er schrieb, "dass unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen." (Der Einzige..., Reclam-UB 3057-62, S.70)
[Anm. 1998: vgl. dazu Bernd A. Laska: Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner (Max Stirner als "pädagogischer" "Anarchist") (1991)]

Das meinte auch Reich, als er ziemlich genau 100 Jahre später schrieb: "Die kommenden Generationen der Neugeborenen müssen unter allen Umständen und mit allen Mitteln vor der Beeinflussung durch die biologische Versteifung der alten Generation bewahrt werden... Es hat wenig Sinn, hier in Details zu gehen. Jede Einzelmassnahme wird sich spontan ergeben, wenn nur der Grundsatz der Sexualbejahung und des gesellschaftlichen Schutzes der kindlichen und jugendlichen Sexualität festgehalten wird." (zit.n. Bernd A. Laska: Wilhelm Reich, romono 298, S.84)
[Anm. 1998: vgl. dazu Bernd A. Laska: Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich (Wilhelm Reich als "pädagogischer" "Anarchist") (1991)]

Der Skeptiker wird jetzt mit Recht nach genauerer Erläuterung fragen, danach, was denn das nun mit Wissenschaft zu tun habe, inwiefern es eine Antwort auf die behaupteten Unzulänglichkeiten der Konzepte von wertfreier und parteilicher Wissenschaft sei usw. Ich kann weder hier weiter darauf eingehen noch auf andere Li-

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teratur verweisen als die von Stirner oder Reich verfassten Schriften, in denen diese Problematik jedoch nicht ausdrücklich behandelt wird.

An dieser Stelle -- und damit möchte ich den Zusammenhang mit dem nur scheinbar ausser Sicht geratenen Thema der sieben Bücher wieder herstellen -- kann ich nur auf die Tatsache des eingangs erwähnten blinden Flecks verweisen, die mir interessant genug scheint, um zu dem Versuch zu motivieren, das Thema auf Grundlage der hier ganz grob skizzierten Gedanken zu durchdenken.

Dieser blinde Fleck, den so viele brillante Autoren mit den unterschiedlichsten Standpunkten gleichermassen haben, scheint mir ein deutliches Indiz dafür zu sein, dass sie sich in einem Labyrinth verirrt haben, aus dem nicht einmal theoretisch herauszukommen ist; womit ohnehin nicht viel gewonnen wäre, denn das eigentliche Problem ist, was schon Marx erkannte, ein praktisches.

Eine solche Praxis in der oben angedeuteten Richtung ist, ohne den genannten theoretischen Hintergrund mit Stirner und Reich bzw. der Quintessenz aus deren Lehren, [Anm. 1998: die zu eruieren das LSR-Projekt begründet wurde] in verschiedenen westlichen Ländern seit einiger Zeit im Gange, was allerdings nur mit einem etwas optimistischen Blick erkennbar ist. Vielleicht werden in einigen hundert Jahren einmal -- (manch einer wird hier fragen: wie kann man nur bei der gegenwärtigen politischen Situation so etwas schreiben?) -- glücksfähige und autonome Menschen mit Verständnislosigkeit die Texte lesen, die heute von glücksunfähigen Experten über das Glück, von konditionierten Kultursklaven über persönliche Autonomie geschrieben werden

B.A.L.

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/82

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Stephan Lackner

Stephan Lackner, Jahrgang 1910, hat in Deutschland Philosophie studiert und ist 1933, kurz nach Fertigstellung seiner Dissertation bei Ernst von Aster in Giessen, nach Paris emigriert. Aus der Zeit seines französischen Exils stammt seine Arbeit über Reich, "Ein moderner Ketzer", die in Heft 2/81 der WRB neu abgedruckt worden ist. 1939 ging Lackner nach Kalifornien, wo er bis heute lebt. In seinem "Alterswerk" --

Stephan Lackner
DIE FRIEDFERTIGE NATUR

Symbiose statt Kampf
176 S., kart., 26.80 DM
Kösel-Verlag, München 1982

propagiert der Autor keineswegs eine Lehre, nach der es in der Natur nur "friedlich" zuginge; er behauptet aber, gegen eine verbreitete Meinung, dass es friedlich zugehen könnte, ohne dass daraus ein Schaden für die Evolution der Lebewesen durch Degeneration, fehlende Zuchtwahl etc. entstünde. 95% der Tierpopulationen stürben ohnehin eines nicht gewaltsamen, sozusagen "natürlichen" Todes, d.h. würden nicht gefressen: Raubtiere seien keineswegs "notwendig", eher überflüssig.

Lackners Angriffe gelten dem "Theoriegespinst vom Überleben der Tüchtigsten" bzw. einer damit verquickten Ideologie, die er bei den meisten Biologen wirksam sieht (und bei vielen Nicht-Biologen), nach der "aggressive Selektion" und "Kampf ums Überleben" der eigentliche Motor der Evolution seien. Ihr stellt er die "ästhetische Selektion" zur Seite: "Die Liebe ist in der Natur ebenso entscheidend wie die Angriffslust, Eros und Aggression halten sich ungefähr die Waage."

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Neben Mimikry gibt es in der Natur offenbar auch auffallenden Prunk. "Warum sind wir", fragt Lackner, "nicht sämtlich stachlige, in Khaki getarnte, giftige Stinktiere geworden?" Weil, so seine Antwort, die Evolution an zwei Punkten des individuellen Lebens wirksam werden könne: bei der Zeugung und beim Tod. "Der unnatürlich frühe Tod trifft vorzugsweise ... die Nichtangeglichenen. Die Grauen und Verkrochenen haben bei der gewaltsamen Selektion den Vorteil." Das zwar, aber: "Das genaue Gegenteil ist beim Beginn, beim Schaffen neuer Existenzen, der Fall... Die Auffälligsten haben die beste Chance, von einem oder auch mehreren Geschlechtspartnern gewählt zu werden..."

Die Formel "survival of the fittest", das wurde oft bemerkt, ist tautologisch: Der, der überlebt hat, war eben, rückblickend, "the fittest". Dennoch wird und wurde sie oft zur Propagierung von Rücksichtslosigkeit, Rassenhass etc. erfolgreich angewendet. Lackner will, indem er neben den Satz "Leben ist Kampf" den Satz "Leben ist auch Kooperation" stellt, die Pazifisten davon befreien, sich "unnatürlich" vorzukommen: "Die Biosophie zeigt, dass der Mensch nicht 'natürlich' handelt, wenn er den Krieg als Grundgesetz des Daseins proklamiert... Immerhin hoffe ich, dass dieses Buch es der aktuellen Friedensbewegung ermöglichen wird, sich selbst nicht mehr als schwer durchsetzbare Ausnahme zu empfinden." Entsprechend schliesst es mit einer Zusammenfassung, die mit "Optimistisches Manifest" überschrieben ist.

So willkürlich wie diese Überschrift ist leider auch der Optimismus, den Lackner mühsam als einen "begründeten" zu vermitteln sucht. "Der Mensch muss sich endlich der ... Natur einordnen!" ist wahrlich keine originelle Forderung und zudem, auch wenn man Lackners Biologie folgt, in ihren Konsequenzen vieldeutig. Dieser Satz ist, was logische Struktur und ideologische Funktion angeht,

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nichts weiter als das pazifistische Pendant zum "survival of the fittest" der Kriegsbereiten.

Lackners Optimismus erscheint mir keineswegs besonders "begründet", eher künstlich und gequält, weder überzeugend noch begeisternd, obwohl das Buch neben der These von der "ästhetischen Selektion" eine Reihe anregender Gedanken enthält.

Die "Menschengeschichte" betrachtet der Autor in einem Kapitel "Unsinn der Geschichte". Darin sieht er "die geschichtlichen Phänomene als unvernünftige Manifestationen des Lebens". Mensch, werde "vernünftig"!; Mensch, ordne dich in die Natur ein! Das sind doch eher hohle Phrasen, in denen aufklärerisches Denken seit langem seinen Geist aufgegeben hat. Dass Lackner sich einst intensiv mit Reich auseinandergesetzt hat, habe ich, trotz diesbezüglicher Aufmerksamkeit, nicht aus dem Text herauslesen können. Er scheint ihn "vergessen" zu haben -- anders kann ich mir diese naiv-aufklärerische Sicht von "Vernunft" und "Natur" nicht erklären. (Anm.: Ich meine hier nicht den marxistischen Reich).

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Otto Mainzer

Otto Mainzer, Jahrgang 1903, war Anwalt in Deutschland, floh 1933 vor den Nazis nach Paris und verfasste dort in den Jahren 1935-37 ein Manuskript mit dem Titel "Die Eroberung des Geschlechts". Dieses schickte er an Reich in der Hoffnung, es könne in dessen Osloer Sexpol-Verlag als Buch erscheinen. Am 23.7.1937 erhielt er von Reich folgende Antwort:

"Ihr Manuskript hat mich sehr gefreut, jedoch es zu publizieren geht nicht an, da wir auf die Darstellung unserer Grundanschauungen ... konzentriert sein müssen. Es wäre auch materiell wegen des Umfanges des Manuskriptes nicht möglich gewesen.

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Ich glaube jedenfalls, dass Sie in Ihrer Grundhaltung zum Geschlechtsproblem richtig sehen. Ich werde mich sehr freuen, mit Ihnen mal ausführlicher sprechen zu können, als es sich brieflich tun lässt... Schreiben Sie mir bitte, wie Sie Ihr Manuskript unterbringen...

Mit sehr herzlichem Gruss
(gez.) Wilhelm Reich"

Gut vier Jahrzehnte hat es gedauert, bis Mainzers Buch vor kurzem erschienen ist:

Otto Mainzer
DIE SEXUELLE ZWANGSWIRTSCHAFT

Ein erotisches Manifest
318 S., geb., 32.00 DM
Parabel-Verlag, Feldafing/München 1981

Entgegen den Angaben im Klappentext ist das Buch, wie mir Mainzer schrieb, gegenüber der Fassung von 1937 kaum verändert. Er habe "eigentlich nur Beispiele aus den 20er und 30er Jahren durch solche aus den 40er bis 70er Jahren ersetzt und unnötiges fachwissenschaftliches Beiwerk des 'Urtextes' eliminiert." Seine Erkenntnisse seien zwar nicht von Reich abgeleitet, fussten aber zum Teil auf dessen Vorarbeit. Er sieht sich als "einen verwandten, nur noch radikaler auf Selbstbefreiung zielenden und (zum Unterschied vom Fachmann Wilhelm Reich) philosophisch weitergreifenden Geist."

Namentlich erwähnt Mainzer Reich nur einmal, bei der Diskussion des Masochismus; aber es gibt natürlich viele Reich-relevante Passagen in seinem Buch, das also insofern von generellem Interesse ist für Leser dieser Zeitschrift.

Besonders interessant finde ich Mainzers Schrift aber wegen eines Aspektes, der seine artig "anti-faschistischen" Rezensenten mit Angst und Schrecken erfüllt, angesichts der Vergangenheit des

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Autors als NS-Verfolgter zudem ratlos gemacht hat: sie übergehen ihn deshalb gnädigst. Die Rede ist von Mainzers Utopie einer "eugenischen Ordnung", die im übrigen, das sei hier angemerkt, als radikales Weiterdenken von Lackners "ästhetischer Selektion" gesehen werden kann.

Mainzer sagt: "Genaugenommen gibt es nur eine einzige 'soziale Frage': die der Willensbildung, welche zur Zeugung führt." Noch über das Gebot "Du sollst nicht töten!" gehöre daher das Gebot "Du sollst nicht unbefugt das Leben geben!"

Nach dem deutschen Faschismus und der ihm folgenden bodenlos verlogenen "Bewältigung" der Probleme, die er aufgeworfen hatte, ist Mainzers Thema noch immer ausserordentlich brisant, eigentlich tabu.

Ich möchte seine Theorie hier nicht referieren, nicht diskutieren und nicht kritisieren, da mir das Risiko des Missverstehens zu gross scheint. Leser dieser Zeitschrift seien daran erinnert, dass Reich mit Mainzers Konzept im Grossen übereinstimmte; auch daran, dass Reich als Antifaschist um 1935 im "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" der Nazis trotz aller Vorbehalte gegenüber der Vererbungslehre "eine Tendenz sah, die wir als Sozialisten bejahen müssen: Es ist die Tendenz, wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt zur Regelung der Fortpflanzung heranzuziehen, diese Fortpflanzung durch den Willen der Gesellschaft zu beeinflussen."

Die verstörten Rezensenten Mainzers in ZEIT [28.05.82: Hans Krieger] und Süddeutscher Zeitung [11.09.82: Albert von Schirnding) flohen in mystifizierende Klischees: wir stünden hier "wieder einmal vor der Dialektik der Aufklärung, ihrer Grösse und ihrem Elend"; in der sexuellen Wirklichkeit sei "unser Elend Verdinglichung, unser Schicksal Entfremdung." Ich hoffe, dass wenigstens einige "Reichianer" mehr mit Mainzers Text anfangen können.

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Richard Sterba

Richard Sterba, Jahrgang 1898, gehörte zu jener Gruppe junger Psychoanalytiker, die ab 1924 das von Reich geleitete "Wiener Seminar für Psychoanalytische Therapie" bildeten. 1939 ging er nach Detroit/USA, wo er bis heute lebt. Als "letzter lebender Zeuge einiger Vorgänge in der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft" hat er einen Memoirenband geschrieben, der kürzlich erschienen ist:

Richard Sterba, M.D.
REMINISCENCES OF A VIENNESE PSYCHOANALYST

184 pp., cloth, 17.50 US$
Wayne State University Press, Detroit 1982

[Anmerkung 1998: Eine deutsche Ausgabe dieses Buches erschien 1985 im Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M mit dem Titel "Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers" (Fischer Wissenschaft Nr. 7354)]

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Franz Jung

Ein Rundfunkvortrag von Franz Jung (1888-1963) über Wilhelm Reich, der Anfang der 60er Jahre von verschiedenen Sendern ausgestrahlt wurde und bisher nur als Manuskript vorlag, ist jetzt, zusammen mit einem Vortrag über den "Biosophen" Ernst Fuhrmann, im Druck erschienen:

Franz Jung
BAUSTEINE FÜR EINEN NEUEN MENSCHEN

Über Wilhelm Reich und Ernst Fuhrmann
106 S., kart., 9.80 DM
Edition Moderne, Zürich 1982

Anm. 2002:
zu Franz Jung vgl. ein Kapitel in
»Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich«

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Neuerscheinung von Reichs Autobiographie


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Wilhelm Reich
MENSCHEN IM STAAT

Nexus-Verlag, Frankfurt/M, 1982
254 S., kart., 18.80 DM

Direktbezug vom Verlag: 20 DM incl. Porto+Verp.
(Adresse: Fichardstr. 38, 6000 Frankfurt 1)

zu diesem Buch: 1937, im Osloar Exil, schrieb Reich das Manuskript für eine Autobiographie, von dem später Fragmente (mit erheblichen Streichungen und Hinzufügungen) mehrmals veröffentlicht worden sind:

1) 1953 von Orgone Institute Press, Rangeley/Me., eine englische Übersetzung unter dem Titel "People in Trouble". Das Buch kam als Vol. II von "The Emotional Plague of Mankind" heraus, in gleicher Ausstattung wie Vol. I ("The Murder of Christ").

2) 1973 vom Wilhelm Reich Infant Trust Fund (Vertrieb durch den Verlag Farrar, Straus & Giroux) eine Reproduktion des Originalmanuskripts im Spiralbinder unter dem Titel "Menschen im Staat, Teil I". Bei dieser Ausgabe erkennt man an der alten Paginierung die Teile des ursprünglichen Manuskripts, die darin Verwendung fanden: S. 242-306, 414-502. Der umfangreiche Teil, den Reich unveröffentlicht liess -- und der bis heute unveröffentlicht ist --, S.1-241, betrifft die Zeit bis zum 15. Juli 1927.

3) 1974 von Farrar, Straus & Giroux eine englische Neuübersetzung unter dem Titel "People in Trouble".

4) 1982 vom Nexus-Verlag der Originaltext unter dem Titel "Menschen im Staat". Dieser Text hält sich an Ausgabe 2), ist aber -- ebenso

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wie alle bisherigen deutschen Reich-Ausgaben -- keine kritische Edition. Das ist wohl weniger den hiesigen Verlagen anzulasten als der restriktiven Veröffentlichungspolitik der amerikanischen Reich-Nachlassverwaltung, auf jeden Fall aber bei diesem Buch ganz besonders zu bedauern, da die Entstehungszeit der einzelnen Textabschnitte sowie die Streichungen und Hinzufügungen z.T. sehr wichtige und interessante Informationen darstellen. Lediglich jene Anmerkungen, die Reich kurz vor der ersten Veröffentlichung gemacht hat -- und die aus dem Englischen zu übersetzen waren -- sind im Text als solche kenntlich.

Reichs handschriftliche Korrekturen in 2) sind oft sehr unleserlich und lassen bisweilen verschiedene Entzifferungen zu. Wo ich glaube, eine sinngerechtere Deutung als die im Buch gedruckte zu erkennen, möchte ich sie im folgenden nennen:

Seite/Zeile -- Text alt -- Text neu


20/17 -- im Nazi -- in praxi
25/6 -- Richtung -- Rückgrat
30/21 -- verurteilt -- verschrien
39/unt. -- schon vor dem 15. Juli, noch unklar -- weder vor dem 15. Juli noch nachher
40/1 -- positiven -- sozialen
53/16 -- betraf -- betrieb
53/17 -- sind Resultate -- Beschreibung
66/21 -- politische -- praktische
66/26 -- abtun -- ablösen
66/28 -- denn -- aber
70/7 -- sie -- sich
71/7 -- Menschenrasse, zusammengeholt -- Menschenmasse, zusammengehalten
71/9 -- Menschenrassen -- Menschenmassen
76/9 -- ten, dass --- ten, ihr Wissen in Tat umzusetzen. Diese 200 Kommunisten glaubten, dass
82/6 -- Arbeitern -- Arbeitslosen

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83/11 -- Selbsterhaltung -- Selbstbeherrschung
83/25 -- erregt -- bewegt
85/unt. -- des gesellschaftlichen Elends wegen -- die gesellschaftliches Elend zeugen
103/33 -- Jugendarbeiter -- Jugendberater
108/3.v.u. -- Ausdrücke -- Ausblicke
111/10 -- aber -- also
118/18 -- über -- nur
233/19 -- genügende -- geringste

Auf S. 30 fehlt, zumindest nach den mir vorliegenden Unterlagen, ein ganzer Absatz, der zwischen die beiden Absätze dieser Seite einzuschieben ist:

"Die reaktionären Organisationen machten ihre Propaganda gerade mit dem Einwand sehr erfolgreich, dass man nichts zerstören dürfte, wenn man nicht neu aufbauen könnte. Dazu gab es keine Antwort und auch keine historische Erfahrung. Auch in Sowjetrussland nicht. Man hätte die gesamte Grundlage der damaligen politischen Propaganda gefährdet, die nach der Coué-Methode arbeitete, mit Phantasien über die Zukunftsgesellschaft, Illusionen über die freiheitslechzenden Massen. Das erlebte ich wie viele andere. Man war Sozialist in der Gesinnung, doch man wehrte sich gerade auf lebenswichtigen Gebieten gegen die Grundlegung der freiheitlichen Entwicklung. Von Freiheitsunfähigkeit und Freiheitsangst der Massen zu sprechen, wie 1935, wäre wahnsinnig erschienen."

[Anm. 1998: vgl. meine Rezension einer Neuauflage des Titels 1995]

Im gleichen Verlag erscheint voraussichtlich im November 1982:

Wilhelm Reich
ÄTHER, GOTT UND TEUFEL

Preis: 16.80 DM, bei Direktbezug 18 DM incl. P&V

Im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien bereits:
Wilhelm Reich: FRÜHE SCHRIFTEN II
(rev. Fassung von "Die Funktion des Orgasmus"/1927)
241 S., 42 DM

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Dieter Duhm

Seit einigen Jahren schon liebäugelt der Schriftsteller ("Angst im Kapitalismus") und Ex-AAO-Trommler Dieter Duhm mit Wilhelm Reich. Er tat und tut dies im Rahmen seiner Forderung nach "Synthesen" von Lehren, die m.E. völlig disparat sind (vgl. Besprechung in WRB 5,6/79). In seinem neuen Buch

Dieter Duhm
AUFBRUCH ZUR NEUEN KULTUR

Von der Verweigerung zur Neugestaltung
Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative
119 S., kart., 16.80 DM
Kösel-Verlag, München 1982

beschwört er völlig beziehungslos folgende "ursprünglich Erschütterte (Jaspers) - Menschen wie Augustinus, Villon, Kierkegaard, Nietzsche, Teilhard, Reich, Otto Mühl [sic!], die uns etwas zu sagen haben." Aber nicht einmal ein Potpourri des Tiefsinns bereitet Duhm daraus; eher liest sich die Schrift wie eine Werbebroschüre in eigener Sache, d.h. für sein Projekt "Bauhütte". "Existentielle Unwahrheit gehört heute gerade in intellektuellen Kreisen zu den Kavaliersdelikten." Wie wahr, wie wahr! Aber unredlich inmitten des erhabenen Larifaris, für das der Autor folgenden Anspruch geltend macht: "Wir formulieren die radikalste Gegenposition, die heute -- nach Marx, Freud und Reich -- möglich geworden ist." Worte, bombastisch wie der Titel des schmalen Bändchens, dessen Substanz sehr flüchtig ist.

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Herwig Blankertz, Hubertus von Schoenebeck

Ziemlich zu Beginn seiner Karriere hat Reich einige bemerkenswerte Gedanken zum Erziehungsproblem geäussert und zu der Bedeutung, die es seiner Meinung nach in dem Prozess hat, der seit der Aufklä-

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rung im Gange zu sein scheint; in seinen letzten Jahren setzte er alle Hoffnung auf die "Kinder der Zukunft". Ich hatte vor, Reichs Auffassungen in Beziehung zu historischen und modernen Konzepten zu setzen, und zwar im Rahmen einer Besprechung folgender Neuerscheinungen:

Herwig Blankertz
DIE GESCHICHTE DER PÄDAGOGIK

Von der Aufklärung bis zur Gegenwart
319 S., kart., 28.00 DM
Verlag Büchse der Pandora, Wetzlar 1982

Hubertus von Schoenebeck
UNTERSTÜTZEN STATT ERZIEHEN

Die neue Eltern-Kind-Beziehung
221 S., kart., 26.80 DM
Kösel-Verlag, München 1982

Blankertz' Buch hatte ich gewählt, weil es aus einem kleinen Verlag kommt, der sich bisher um anarchistische Literatur verdient gemacht hat. Fehlanzeige! Z.B.: Loblied auf Hegel, für den, was verschwiegen wird, Erziehung den Zweck hatte, "den Eigenwillen des Kindes zu brechen" etc.pp.; dafür völlige Unterschlagung von dessen Antipoden Stirner, der das, was heute Antipädagogik heisst, bereits antizipiert hatte. Kein Wort über Neill, keins über Reich. Aber: Rousseau habe mit seinem Votum für die Religion der Väter "über die Aufklärung hinausgewiesen". Ojeoje!

Schoenebeck ist für Antipädagogik, sagt dazu aber lieber "Freundschaft mit Kindern". So sehr ich ihm in vielem zustimmen kann -- zu kritisieren ist die Unverbindlichkeit seines "Vorschlags". Reich war als Antipädagoge (vgl. meine Rowohlt-Monographie S. 83ff) zumindest intentionell radikaler Aufklärer, Schoenebeck ist bloss radikaler Liberaler, was heisst, dass er es programmatisch (!) "jedermann freistellt, so oder anders mit Kindern umzugehen."

Von beiden Autoren hatte ich mehr Nähe zu Reich erwartet. Da dies nicht der Fall ist, möchte ich es bei dieser kurzen Besprechung belassen.


Anmerkung 1998: vgl. zu dieser Thematik
Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie
(La Mettrie als "anarchistischer" "Pädagoge")

Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner
(Max Stirner als "anarchistischer" "Pädagoge")

Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich
(Wilhelm Reich als "anarchistischer" "Pädagoge")

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