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Bernd A. Laska
Auszug aus meiner Reich-Monographie
Die neuere Diskussion des "Falles Reich" (Bibliographie)
Die »Fenichel-Rundbriefe« (und Rezensionen) |
(rororo-Bildmonographie Nr. 298) 2. Aufl. 1985 | 3. Aufl. 1988 | 4., überarb. Aufl. 1993 | 5., bibliogr. akt. Aufl. 1999 | 6. Aufl. 2008 |
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Inhalt Einleitung 7 Politik und Antipolitik 65 |
Auszug aus Bernd A. Laska: Wilhelm Reich. Reinbek (1981) 5. Auflage 1999 "Sigmund Freud contra Wilhelm Reich"Sublimierung[...]/53/ [...] ...Reich sah schon 1926: Nicht die Anpassung an ein Normensystem, sei es nun historisch gewachsen oder wie auch immer willkürlich gesetzt, kann wirklich Kriterium für Gesundheit und Sublimierungsfähigkeit sein. Vielmehr wäre zu fragen, wie ein solches System beschaffen sein müsste, an das sich ein Individuum anpassen kann, ohne neurotisch zu werden bzw. zu bleiben. "Wenn die Kultur eine Sublimierung und keine kollektive Neurose ist, dürfte sich alles übrige von selbst ergeben", (142) sobald die Pathogenität der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Einzelne heranwächst, auf ein Minimum reduziert wäre. Dies wäre nur in einer weitgehend anarchischen Gesellschaft der Fall. [Zurück zum Inhaltsverzeichnis] Sekundäre Triebe und das MasochismusproblemUnter anderen Aspekten hat Reich ein zweites Modell des "Kulturmenschen der patriarchalischen Ära" entworfen. Er beschreibt ihn darin als "ein strukturell dreifach geschichtetes Lebewesen... An der Oberfläche trägt er die künstliche Maske der Selbstbeherrschung, der zwanghaft unechten Höflichkeit und der gemachten Sozialität. Damit verdeckt er die zweite Schicht darunter, das Freud'sche 'Unbewusste', in dem Sadismus, Habgier, Lüsternheit, Neid, Perversionen aller Art etc. in Schach gehalten sind, ohne jedoch das geringste an Kraft einzubüssen. Diese zweite Schicht ist das Kunstprodukt der sexualverneinenden Kultur und wird bewusst meist nur als gähnende innere Leere und Öde empfunden. (143) Im Unterschied zur Psychoanalyse war es Reich mit seiner Methode möglich, bis zu/54/ der dritten und letzten Schicht, dem "biologischen Kern", vorzudringen. Hier "leben und wirken die natürliche Sozialität und Sexualität, die spontane Arbeitsfreude, die Liebesfähigkeit ... die einzige reale Hoffnung, die der Mensch hat, das gesellschaftliche Elend einmal zu bewältigen. (144) In diesem Modell des heutigen Normalmenschen wird zwar auch angenommen, dass die Impulse für alle Lebensaktivitäten aus dem "biologischen Kern" kommen: da sie aber auf ihrem "Weg" nach aussen die "zweite Schicht" zu durchdringen haben und dabei deformiert werden, träten sie, wenn sie nicht durch die "äussere Schicht" maskiert würden, nur in dieser verzerrten, pervertierten Form zutage. Reich bezeichnete sie daher als sekundäre Triebe, im Gegensatz zu den primären, die zum Beispiel beim noch nicht starr gepanzerten Kleinkind oder beim Erwachsenen nach erfolgreicher Charakteranalyse mehr oder weniger rein zu beobachten seien. "Die Psychoanalyse kennt diesen qualitativen Unterschied nicht. Das ist es, was die Diskussion verrammelt... Ohne Unterscheidung der sekundär entstandenen Unnatur im Sexuellen von den tief verborgenen, bei jedem Menschen vorhandenen Liebesbedürfnissen, kommt man nicht weiter... Man urteilt von einer Fratze her, und da mit Recht so. Dann können, müssen und sollen die Moralisten Recht behalten." (145) Für Reaktionäre und Konservative, ob Wissenschaftler oder nicht, war Reich kurzum ein "Sexualbolschewist" oder ähnliches; für Liberale und Progressive, insbesondere für jene mit "sexueller Befreiung" im Programm, blieb Reich -- entgegen dem oberflächlichen Anschein -- bis heute inakzeptabel, denn sie argwöhnen Willkürlich-Normatives, wenn Reich zum Beispiel schreibt: "Für die sekundären, unnatürlichen, asozialen Triebe gilt weiter die moralische Bremsung. Für die natürlichen Lustbedürfnisse gilt das Freiheitsprinzip, wenn man will das 'Ausleben'. Man muss nur wissen, was das Wort "Trieb" jeweils meint." (146) Ein entscheidender theoretischer Durchbruch, den Reich der Effektivität der charakteranalytischen Technik verdankt, scheint auf den ersten Blick nur für Spezialisten von Interesse zu sein: die Lösung des Masochismusproblems. Gemeint ist hier nicht die masochistische Perversion, die ja nur von wenigen masochistischen Charakteren entwickelt wird, sondern "das Problem, wie Unlust triebhaft gewollt werden und sogar Befriedigung schaffen kann". (147) Aus diesem Paradoxon der Triebpsychologie hatte Freud folgenschwere Konsequenzen gezogen: der Todestrieb ist weitgehend identisch mit einem "primären Masochismus", (148) einem "biologischen Willen zum Leiden". Reich erörtert dieses Problem "an Hand eines Falles, der fast vier Jahre in Behandlung stand und Fragen löste, die mehrere vorher behandelte Fälle unbeantwortet gelassen hatten". (149) Hier kann nur darauf hingewiesen werden. Reichs Schluss war: "Der Masochismus ist der Prototyp eines sekundären Triebes... Er ist Ergebnis und nicht Ursache der Neurose" (150) (wie die Psychoanalyse annahm, die vom "Urkonflikt Bedürfnis-Aussenwelt" (151) /55/ zugunsten eines biologisch angelegten, internen Urkonflikts abgerückt war). Eine masochistische Komponente fand sich in allen Neurosen; sie trat in der Behandlung spätestens kurz vor Erreichen der orgastischen Potenz, als elementare Lustangst, in Erscheinung. "Die Lustangst der Menschen" -- ihnen fast zur "zweiten Natur" geworden und noch in höchsten geistigen Produkten zwar oft verborgener, aber letztlich bestimmender Faktor -- "wurde aus einer grundsätzlichen Veränderung der physiologischen Lustfunktion verständlich", doch erst einige Jahre später, denn: "Das Verständnis des masochistischen Mechanismus eröffnete mir den Weg in die Biologie." (152) Doch auch zum Verständnis anderer Bereiche des menschlichen Lebens entstand durch die neue Sicht des Masochismusproblems ein wichtiger Zugang. "Damit hatte ich, ohne es zu beabsichtigen, das dynamische Wesen aller Leidensreligionen und Leidensphilosophien getroffen." (153) "Der Masochismus wurde darüber hinaus ein Zentralproblem der Massenpsychologie." (154) [Ergänzung 1993: Freud oder Reich?Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im August 1934 in Luzern wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) ausgeschlossen. Dieses Ereignis ist im Kongressbericht mit keinem Wort erwähnt, obwohl laut Reich "der Kongress völlig unter dem Eindruck dieser peinlichen Affäre stand". (155) Auch aus der Geschichtsschreibung der Psychoanalyse erfährt man kaum mehr als die Fälschung: Reich trat aus der IPV aus. Es ist die Version von Ernest Jones, dem Freud-Biographen, der sich recht sicher gefühlt haben muss, als er sie 1952 zu Papier brachte: hatten doch schon 1934 nur wenige mit Nachdruck für Reich Partei ergriffen. Reich selbst hat eine Kurzdarstellung einiger Umstände gegeben (156); das meiste jedoch, was Reich fast zu einer Leerstelle in der Geschichte der Psychoanalyse gemacht hat, muss sich damals (aber auch in den folgenden Jahrzehnten) hinter den Kulissen abgespielt haben, mit stillschweigendem oder augenzwinkerndem Einverständnis der Aktiven, Freud eingeschlossen. Den arglosen oder neutralen Kollegen wurde der Eindruck einer formalen und nur vorläufigen Massnahme vermittelt, notwendig geworden wegen der politischen Ereignisse in Deutschland. Exil und Weltkrieg trugen noch ihren Teil dazu bei, dass aus dem einstigen "Hecht im Karpfenteich" ein nahezu Vergessener wurde. Ins Gespräch kam Reich erst wieder, und zwar gegen den Widerstand der Fachkollegen, als ihn die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre für sich entdeckte. Seitdem fristen Bruchstücke seiner Theorien ihr Dasein im pluralistischen Allerlei und haben bei weitem nicht die Beachtung gefunden, die ihnen 1934, wenn auch in negativer Hinsicht, zuteil geworden war. Damals war es den meisten Beteiligten klar, dass es um das ging, was Reich die "konsequente Fortführung der ursprünglich revolutionären Lehre Freuds" (157) nannte. Nur unter diesem Aspekt betrachtet mutet das Konspirative des ganzen Vorgangs weniger unglaubhaft an. Die "Häretiker" der PsychoanalyseDas Revolutionäre an Freuds ursprünglicher Lehre war zweifellos sein Konzept der Sexualität. Seinetwegen gingen die Freundschaften mit Josef Breuer und Wilhelm Fliess zu Bruch, seinetwegen verbrachte er mehr als ein Jahrzehnt in völliger wissenschaftlicher Isolation und seinetwegen verliessen ihn so sehr geschätzte Mitarbeiter wie Alfred Adler, Carl Gustav Jung und Otto Rank. Nicht nur die Anzahl der Einträge dieser Namen im Register seiner "Gesammelten Werke" -- es sind jeweils etwa 70 -- weist darauf hin, wie gründlich sich Freud mit diesen "Häretikern" auseinandergesetzt hat. Leicht kann man sich auch davon überzeugen. dass er über die konkurrierenden Theorien sachlich und fair zu diskutieren pflegte. Er blieb zudem in Konfliktfällen immer so lange versöhnungsbereit, dass jede Trennung ein Austritt aus der Psychoanalytischen Gesellschaft, nie ein Ausschluss, geworden ist. Otto Rank zum Beispiel, als Laienanalytiker zuvor Verfasser von Arbeiten über die Deutung von Mythen und Legenden, veröffentlichte 1924 eine Theorie, in der er die zentrale Stellung des Ödipuskomplexes, für Psychoanalytiker fons et origo von Neurose und Kultur, durch das Trauma der Geburt ersetzt hatte. Freud erlitt, wie er an Ferenczi schrieb, daraufhin einen Schock; denn er nahm die Theorie zunächst so ernst, dass er glaubte, sein gesamtes Lebenswerk über die sexuelle Ätiologie der Neurose sei nun hinfällig geworden. Tröstlich mag ihm nur erschienen sein, /58/ dass auch bei Rank der neurotische Konflikt biologisch bedingt war. Obwohl Freud bald gelassener in Bezug auf den Status seiner eigenen Theorie wurde und Ranks Fehler zu sehen glaubte, diskutierte er dessen Idee lang und ausgiebig. Noch nach Jahren, als Rank ihm längst den Rücken gekehrt hatte, lobte Freud dessen Gedanken als "kühn und geistreich". Zahl und Art der Erwähnung in seinen Schriften wurden übrigens gemeinhin als Massstab der Gunst Freuds angesehen; so zum Beispiel, wenn er Ruth Mack Brunswicks Geschicklichkeit lobte oder Sándor Ferenczi als Meister der Analyse bezeichnete. Freud über ReichErst vor diesem hier nur sehr grob skizzierbaren Hintergrund gewinnt Kontrast, dass weder Reich als Person noch dessen Arbeiten in Freuds Schriften Erwähnung finden. Der Kontrast wird schärfer, wenn man weiss, dass sich Reich ja gerade auf die Themen konzentriert hatte, die von Freud auf dem Berliner Kongress 1922 als die vordringlichsten bezeichnet worden sind. Geradezu grotesk wird das Bild, wenn Freud in seinen späten Schriften, Reichs Arbeiten völlig ignorierend, beklagt, wieviel doch leider auf diesen Gebieten "versäumt" worden sei. Dabei hatten beide Männer bis 1930, als Reich nach Berlin ging, häufig persönlichen Kontakt. Der 40 Jahre jüngere Reich erinnerte sich: "Wenn ich ein Problem hatte, ging ich zu ihm, und wir sprachen darüber, eine halbe oder auch ganze Stunde." (158) Ein solches Problem war der Themenkomplex Todestrieb, Strafbedürfnis, Willen zum Leiden. Freud, der von seinen eigenen Arbeiten ab 1920 keine hohe Meinung hatte, riet Reich: "Gehen Sie ruhig weiter mit Ihrer klinischen Arbeit. Was ich da vorgebracht habe, ist nur eine Hypothese ... nichts mehr als ein Spiel mit Gedanken." (159) Es waren die Gedanken eines Moribunden: Reich sah erst sehr viel später, im Rahmen seiner Theorie der biopathischen Erkrankungen, Zusammenhänge zwischen Denken und generellem Zustand des Gesamtorganismus. Zu Freuds 70. Geburtstag, am 6. Mai 1926, überreichte ihm Reich das Manuskript zu seinem Buch "Die Funktion des Orgasmus", etwa 200 Seiten. "Seine Reaktion beim Lesen des Titels war unerfreulich. Er besah das Manuskript, zögerte ein wenig und sagte dann wie in Unruhe: 'So dick?' ... Das war keine rationale Reaktion. Er war sonst sehr höflich und hätte nicht ohne weiteres so verletzend gesprochen." Freud behielt die ihm gewidmete Schrift mehr als zwei Monate. "Bis dahin pflegte Freud jedes Manuskript in wenigen Tagen zu lesen und dann schriftlich Bescheid zu geben." (160) Sein Urteil über das Buch war positiv aber distanziert. "Am 70. Geburtstag hatte Freud uns gesagt, dass wir der Welt nicht trauen sollten. Die Feiern /59/ besagten nichts. Die Psychoanalyse werde nur akzeptiert, um besser zerstört werden zu können. Er meinte die Sexualtheorie. Doch ich hatte einen entscheidenden Beitrag gerade zur Festigung der Sexualtheorie geliefert ... Weshalb lehnte Freud die...Lösung 'Orgusmustheorie' ab? Ich ahnte nicht, dass es die Konsequenzen für die gesamte Neurosentheorie waren, die hier abschreckten." (161) Über die Irritation Freuds, die hauptsächlich indirekt zum Ausdruck /60/ kam, gibt es nur wenige Zeugnisse. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé spricht er mit herablassender Ironie von Reich als einem "passionierten Steckenpferdreiter". (162) In Wahrheit muss ihn gerade der Ernst und Elan beunruhigt haben, mit dem der junge Reich Probleme mit Aussicht auf Erfolg anging, vor denen er [Freud] bereits vor Jahren kapituliert hatte. Doch auch über seine eigene Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" (1929) schrieb Freud an Lou wie von einem Steckenpferd: "Sie...kommt mir... sehr überflüssig vor... Was aber sollte ich tun? Man kann nicht den ganzen Tag rauchen und Karten spielen." (163) Reich hingegen sah die Situation ganz anders: "Die wenigsten wissen, dass Freuds 'Unbehagen in der Kultur' in den erwähnten Kulturdiskussionen (im engeren Kreis in Freuds Wohnung) zur Abwehr meiner aufblühenden Arbeit und der von ihr ausgehenden 'Gefahr' entstand" (164) "Wir wissen, dass der Naturwissernschaftler Freud mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet." (165) Mit diesem Satz versuchte Reich, die Ambivalenz im Freud'schen Denken und Handeln ab 1920 zu erklären. Reich über FreudDie Quintessenz von Reichs kritischer Position gegenüber Freud steckt in dem letzten Zitat. Auch von der Faszination wurde schon gesprochen, die für Reich von der Person Freuds ausgegangen war, als er ihm das erste Mal begegnete. Die Hochschätzung des Naturwissenschaftlers Freud, der so lange allein gegen eine feindselige Welt gestanden hatte, behielt Reich trotz allem bis an sein Lebensende. Noch 1952 meinte er in einem Interview: "Im Prinzip war Freud mit mir einig. Aber wenn es konkret wurde ... wandte er sich gegen die Sache und gegen mich." (166) Das sei dann der Kulturphilosoph gewesen. "Die Kultur geht vor!" war Freuds Kommentar zu einem Vortrag Reichs über Neurosenprophylaxe gewesen. (167) Insgesamt zeichnete Reich in dem Interview ein zwar kritisches, aber doch vorwiegend positives Bild von Freud. Eine drastische Korrektur seines Freud-Bildes zwang ihm aber gleich einige Monate später die Lektüre des ersten Bandes der Freud-Biographie von Ernest Jones auf. Sie veranlasste ihn zu einer Nachschrift, die einige Schlussfolgerungen enthält, von denen die letzte lautet: "Seine psychologischen Entdeckungen, so gross und entscheidend sie auch waren, stellen somit ein Weglaufen dar vor der vollen Kenntnisnahme jener Aspekte seiner Entdeckung, die ich ein Jahrzehnt lang in seinem Namen verfolgt habe..." (168) Ähnliche Gedanken, die er allerdings nicht weiter verfolgt zu haben scheint, hatte Reich schon 1935. In einem Brief an seine Schülerin Lotte Liebeck schrieb er damals: "Neulich habe ich nach langer Zeit einmal wieder in den »Drei Abhandlungen...« (169) gelesen; und ich war sehr erstaunt über /61/ einige Passagen daraus, speziell die über Genitalität. Ich habe mir ernstlich Unrecht getan, indem ich so viele Jahre unter dem Eindruck gearbeitet habe, meine Theorie der Genitalität ginge auf Freud zurück. Das habe ich nur meinem Vaterkomplex zu verdanken. lch hoffe, dass ich eines Tages eine klare Trennung vollziehen werde." (170) Für Reichs Verharren in einer Organisation von Menschen, deren sexualfeindliche Einstellung er bald erkannt hatte, gibt es eine einfachere Erklärung als den "Vaterkomplex". Sie hat zudem den Vorteil, sein gleichzeitiges Engagement in marxistischen Gruppen plausibel zu machen. Reich war ideologisch ziemlich heimatlos: "Ich stand draussen wie Peer Gynt." (171) "Aus der Vielseitigkeit meiner Sympathien entwickelte sich später der Grundsatz, dass 'jeder irgendwo recht' hätte, man musste nur erkennen, wo." (172) Psychoanalyse und Marxismus (darüber später) waren ihm
wohl weniger ideologische Heimat, sondern einfach Betätigungsfelder, die geeignetsten offenbar, die er fand. Sein späteres "Sektiererdasein" wurde ihm ja aufgezwungen. In seinem teilweise verschlüsselt autobiographischen Christusbuch schreibt Reich: "Hast du dich ihnen nicht angeschlossen und bist mit ihnen über Land gezogen, weil du Angst vor dem Alleinsein hattest? Auch du brauchtest sie aus vielen Gründen: um zu ihnen zu sprechen; um die Wirkung deiner Worte auf das Denken deiner Mitmenschen zu erfahren; um zu hören, welches Echo deine Worte auslösen; um das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen deiner Freunde zu sehen, wenn du ihnen von deinen Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen
erzähltest... (173) Reichs Ausschluss aus der IPV"Die Art, in der der Ausschluss erfolgte, ist derart grotesk, dass sie dem Aussenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird." (174) Hier kann nicht versucht werden, Einzelheiten dieses verwickelten, bis heute nur teilweise aufgeklärten Vorgangs darzustellen. Er war der bezeichnende Abschluss eines Kampfes, der, für Reich zunächst unmerklich, begonnen hatte, als dieser erstmals seine Thesen zur Genitalität vorgetragen hatte. Damals war Theodor Reik, ein älterer Analytiker, an Reich herangetreten, um ihm zu sagen, "dass er den Vortrag hervorragend fand, aber: 'Ich möchte das Buch nicht geschrieben haben.' Das war sein Kommentar. Ich glaube, das charakterisiert die ganze Situation." (175) "In den ersten zwei Jahren ging es ohne Konflikt. Doch dann begann eine Opposition von seiten der älteren Kollegen störend einzusetzen. Sie kamen einfach nicht mit, fürchteten für ihre Reputation als 'erfahrene Autoritäten'. Sie mussten daher zu neuen Dingen, die wir erarbeiteten, entweder sagen: 'Das ist ja alles banal, steht schon bei Freud!' oder sie erklärten, es /62/ wäre 'falsch'. (176) Freuds Haltung wurde schon kurz erörtert. Aber auch die jungen Kollegen aus dem Seminar schienen der Auseinandersetzung, die sich anbahnte, nicht gewachsen, was nicht nur aus ihrer materiellen Ahhängigkeit von den älteren Kollegen (wegen der Überweisung von Patienten) erklärt werden kann. "Von den etwa 20 Studenten des Wiener Seminars hat keiner den Weg der Charakteranalyse weiter verfolgt." (177) Schon etwa zehn Jahre vor seinem Ausschluss befand sich Reich innerhalb der Psychoana]ytischen Vereinigung Wiens in folgender Situation: Freud und andere ältere Kollegen erkannten ihn zwar in Privatgesprächen schulterklopfend als hervorragenden Kliniker an; offiziell aber schwiegen sie, und einige, Reich nennt vor allem Federn und Nunberg, intrigierten gegen ihn. Seinen Tatendrang glaubte man in Seminar und Ambulatorium, Posten mit viel Arbeit und wenig Einfluss, kanalisiert. Doch Reich entgingen die Winkelzüge der Funktionäre nicht völlig: "Was bedeutet dieser Boykott? Ich weiss nicht, wer damit angefangen hat, ich sehe lediglich eine Gemeinschaftsaktion des Exekutivkomitees." Seiner sachlichen Kritik weiche man aus, Kritik an ihm vermeide man, und bei der Besetzung von Positionen habe man ihn bereits mehrmals übergangen, beschwert er sich 1926 in einem Brief. "Ganz zu schweigen von all den kleinen Schikanen, kaum greifbar, doch deshalb nicht weniger verletzend, die ich nicht aufzählen kann, ohne mich lächerlich zu machen." (178) Andere Kollegen, Reich nennt zum Beispiel Anna Freud und Helene Deutsch, zeigten sich stets freundlich und interessiert, aber "neutral". Eine Sonderstellung nahm nur Otto Fenichel ein. Er war der einzige, der die Schriften Reichs in psychoanalytischen Periodika besprochen hat, ausführlich und mit wohlwollender Kritik. Er war später auch Reichs eng- /63/ ster Mitarbeiter in der oppositionellen "Gruppe dialektisch-materialistischer Psychoanalytiker". Aber kurz vor dem Höhepunkt des Konflikts, 1934, zog sich Fenichel plötzlich zurück und wurde bald zum erbitterten Feind. Hatte er selbst als Folge dieser Handlung einige Wochen in einer Nervenheilanstalt verbringen müssen, so beeilte er sich bald, zusammen mit Reichs geschiedener Ehefrau Annie, das Gerücht zu kolportieren, Reich sei geisteskrank geworden. (179) Diese "Diagnose", die zwar in Analytikerkreisen Anklang fand, aber von Dutzenden von Psychiatern, die später mit Reich zusammenarbeiteten, nicht bestätigt wurde, ist erstmals schon Anfang der zwanziger Jahre gestellt worden -- allerdings nicht öffentlich: von Paul Federn, dem Mann also, der länger als irgendein anderer mit Freud aufs engste zusammengearbeitet hat und vierzehn Jahre lang sein Stellvertreter im IPV-Vorstand war. Sein Sohn berichtet: "Aus persönlichen Mitteilungen weiss ich, dass Federn eher als andere bei Reich schizophrene Reaktionen zu erkennen glaubte. Das stellte ihn ... vor schwierige Probleme." Zeugnisse über Federns Art, diese Probleme zu lösen, gibt es nicht; der Schlüssel zu seiner Motivation jedoch findet sich wohl im folgenden Satz: "Federn begriff den Menschen als ein sadomasochistisches Tier -- als die einzige Spezies mit einem angeborenen Trieb, zu herrschen und beherrscht zu werden." (180) Federns Bewältigung des Problems "Reich" dauerte zwar über ein Jahrzehnt, war aber dann ein voller "Erfolg". Auf dem Luzerner Kongress (1934) schliesslich stand Reich -- mit drei norwegischen Kollegen, die noch nicht IPV-Mitglied waren -- allein. Dabei war man dort, wie immer, recht freundlich zu ihm; er konnte auch noch den vorbereiteten Vortrag halten, allerdings nur als "Gast". Den Veranstaltern fiel es nicht schwer, allgemein den Eindruck zu erwecken, Reichs Ausschluss sei nur eine provisorische Formalität. Gemeinhin pflegt man solches Verhalten -- das Freuds, Federns, Fenichels und anderer -- jeweils aus einem anderen Motiv heraus als "menschlich verständlich" zu bezeichnen. Reich sei eben zu "fanatisch" gewesen; er hätte "realistisch" sein, sich anpassen sollen. Schliesslich habe es ja auch für Marxisten, zum Beispiel Bernfeld oder Fenichel, Platz in der IPV gegeben. Tatsächlich hat auch Reichs politische Betätigung nur vordergründig eine Rolle gespielt. Die Feindseligkeit war schon vor seinem Engagement da und überdauerte es bis heute. Reich selbst näherte sich erst Jahre später einem tieferen Verständnis dessen, was vorgefallen war: nachdem gemeinsame Züge mit späteren Angriffen auf ihn bzw. seine Arbeit deutlich geworden waren und nachdem er das Masochismusproblem klinisch genauer, jetzt als ein psychosomatisches, erforscht hatte. Über Freuds Todestriebpostulat, das er 1932 in seiner Arbeit über Masochismus angegriffen hatte, schrieb Reich l941: "Dennoch hatte Freud etwas gemeint, das grosser Mühen wert war." (181) Reich wurde sich immer klarer darüber, dass er mit seinen Arbeiten den Nerv /64/ einer "Tendenz" im Einzelnen und in der Gesellschaft getroffen hatte, der über Jahrtausende unangetastet geblieben war. Diese "Tendenz" kennzeichnet die gesamte Kulturgeschichte nicht nur des Abendlandes (s. a. Reichs "Einbruch der sexuellen Zwangsmoral" (182)). Sie kommt zum Beispiel in dem Wort vom "Krieg als Vater aller Dinge" der alten Griechen ebenso prägnant zum Ausdruck wie in dem Wahlspruch der spanischen Falange: "Es lebe der Tod!" Viel sprach zwar für die Charakterisierung des Menschen als einziges sadomasochistisches Tier; aber das ist, so Reich, nicht die ganze Wahrheit. Reichs Argumentation im Konflikt mit der IPV lautete: "Der Forderung des IPV-Vorstandes, freiwillig auszutreten, könnte er nicht Folge leisten. Wenn der IPV-Vorstand ihn ausschloss, so könnte er nichts dagegen unternehmen. Er verstünde zwar den bereits vollzogenen Ausschluss" (aus der deutschen Gruppe: dieser war bereits ein Jahr zuvor ohne sein Wissen erfolgt) "vom Standpunkt der Todestriebtheoretiker durchaus... Er erklärte aber gleichzeitig, dass er sich als den konsequentesten und legitimsten Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen klinisch-naturwissenschaftlichen Psychoanalyse betrachte, und von diesem Standpunkt aus den Ausschluss nicht anerkennen könne." (183) Doch diese Frage stand überhaupt nicht zur Debatte. Die Auseinandersetzung zwischen Reich und der Psychoanalyse wurde geradezu ein Musterfall für eine Erkenntnis, die Émile Durkheim 1912 so formuliert hatte: "Alles, auch die Wissenschaft, beruht im sozialen Leben auf der Meinung." (184) Vor seinem Eintritt in die IPV hatte der zweiundzwanzigjährige Reich, mit Stirner im Hintergrund, den erstaunlichen Verdacht geäussert, "all das Ringen nach Freiheit sei fingiert, eine Komödie, die der Mensch seinem Narzissmus vorspielt und ihn deshalb veranlasst, ungehalten zu sein, wenn er aus seinem Spiel gerissen wird." (185) Damit hatte er mit intuitiver Sicherheit mitten ins Schwarze getroffen. Seine späteren Konflikte mit den Psychoanalytikern, ebenso wie die mit den Marxisten, von denen im nächsten Kapitel die Rede sein wird, sind in ihrem Kern kaum treffender zu charakterisieren. ---------------------------------------------------- AnmerkungenAbkürzungen für Schriften Reichs:
FO/27=Die Funktion des Orgasmus. Leipzig/Wien/Zürich 1927
(142) FO/27, 191 Der obige Text ist -- mit Ausnahme des kurzen Zusatzes, den ich unter der Bedingung der Umbruchsneutralität in die 4. Auflage 1993 einfügen konnte -- im Jahre 1980 entstanden. Ausführlicher habe ich das Thema, ebenfalls 1980, in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Wilhelm-Reich-Blätter" (3/80) behandelt. In den Jahren nach 1980 sind sukzessive zahlreiche einschlägige Dokumente zugänglich und durch Publikationen bekannt geworden, die weiteres Licht auf den Fall Reich (Vor- und Nachgeschichte des Ausschlusses 1934) werfen. Die Folge war u.a. eine Art Rehabilitation Reichs, bei der aber leider durch Überbetonung des politischen Aspekts des Falles (Lavieren der Psychoanalyse gegenüber dem Nationalsozialismus) der weitaus gewichtigere "wissenschaftliche" (den Freud, in einem Brief, als sein Motiv nannte) fast zur Bedeutungslosigkeit verblasst und somit eskamotiert wird. Getragen wurde diese zweifelhafte Rehabilitation von Vertretern bzw. Sympathisanten der Freud'schen Linken. |
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