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La Mettrie, Lamettrie -- Der Mensch als Maschine Der folgende Text ist eine leicht redigierte Fassung
des einleitenden Essays zu
Band 1 der 4-bändigen deutschen Edition
der wichtigsten Werke von Lamettrie.

La Mettrie / Lamettrie
»Der Mensch als Maschine«

Nürnberg: LSR-Verlag 1985, S. VII-XL.

 

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Bernd A. Laska

Julien Offray de La Mettrie

I. Leben, Werk und Wirkung
  Biographischer Abriss
  Rezeption
    Zeitgenossen
    Holbach, Diderot
    Friedrich Albert Lange, J.E. Poritzky
    Aram Vartanian, John Falvey, Ann Thomson, Manfred Starke
    Panajotis Kondylis
  Stilmittel Ironie
II. Potentieller Rang als Philosoph
III. Das LSR-Projekt
Vorbemerkungen zu »Der Mensch als Maschine«
Anmerkung zur 5. Neuübersetzung (Meiner 1990)
Zu La Mettries Widmung an Haller

I. Leben, Werk und Wirkung

La Mettrie war ein französischer Arzt, Philosoph und Satiriker, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb. Er vertrat eine radikal materialistisch-atheistische Weltanschauung und musste deswegen sowie wegen seiner satirischen Angriffe auf die korrupte Gesinnung führender Mediziner Frankreichs ausser Landes gehen. Verhängnisvoller als die Verfolgung durch die etablierten Mächte seines Heimatlandes war für ihn jedoch, dass die sonst recht uneinheitliche Gruppe der aufklärerischen philosophes  stillschweigend eine Einheitsfront gegen ihn und insbesondere seine Auffassungen zu Sittlichkeit und Moral bildete. Diese doppelte Exilierung trug wahrscheinlich entscheidend dazu bei, dass La Mettrie trotz guter Gesundheit im Alter von knapp 42 Jahren starb; sie bewirkte aber vor allem, dass La Mettrie, wie Friedrich A. Lange 1866 fand, "einer der geschmähtesten Namen der Literaturgeschichte, aber ein wenig gelesener, ... nur oberflächlich bekannter Schriftsteller" war -- der er, wie zu ergänzen ist, weiterhin blieb. Die wenigen Versuche einer Rehabilitation La Mettries, die Lange und andere unternommen haben, sahen jedoch keine tiefer liegenden Gründe für die einmütige Aversion der Zeitgenos-

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sen -- der aufklärerischen übrigens mehr als der konservativen. Gerade dieses an sich augenfällige und gleichwohl regelmässig übersehene oder oberflächlich gedeutete Charakteristikum des "Falles" La Mettrie führte kürzlich einen Philosophiehistoriker zu einem Standpunkt, von dem aus er die sicherlich bisher klarste bzw. "aufgeklärteste" Sicht auf die Epoche der Aufklärung hat: Panajotis Kondylis bezeichnet in seiner grossen Studie »Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus« (1981) La Mettrie als den in dieser Epoche konsequentesten Vertreter jener raren denkerischen Position, die er selbst bei seiner Analyse und Deutung der Aufklärungszeit bezieht. Auf die drei genannten Varianten "aufgeklärter" Rezeption La Mettries -- die der französischen Aufklärer, die wohlwollender Interpreten späterer Zeit, die von Kondylis vorgelegte -- werde ich nach einem biographischen Abriss genauer eingehen.

Biographischer Abriss

Julien Offray de La Mettrie wurde am 23. November 1709 in der bretonischen Hafenstadt Saint Malo geboren.


Anmerkung: Zum Geburtsdatum La Mettries findet man in der Fachliteratur unterschiedliche Angaben. Birgit Christensen schreibt dazu in ihrem Buch Ironie und Skepsis. Das offene Wissenschafts- und Weltverständnis bei Julien Offray de La Mettrie (Königshausen & Neumann, Würzburg 1996, S. 245, Fn.2): "Das Geburtsdatum [La Mettries] ist ungesichert. Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin verzeichnet den 23. November 1709. Vermutlich ist dies das richtige Datum, da La Mettrie es selbst angegeben haben könnte. In der Eloge Friedrichs II erscheint als Geburtsdatum der 25. Dezember; doch der König hat sich getäuscht, wie die Akten des État-civil aux Archives de la ville de Saint-Malo belegen, die als Taufdatum bereits den 19. Dezember nennen."
Er besuchte verschiedene jansenistische Schulen und studierte ab 1725 in Paris: zunächst Philosophie und Naturwissenschaften, später Medizin. Nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin (1733 in Reims) ging er aus Unzufriedenheit mit dem Stand seiner Wissenschaft in Frankreich nach Leiden in Holland, wo Herman Boerhaave (1668 - 1738) lehrte, der damals führende Mediziner Europas. La Mettrie wurde ein begeisterter Schüler Boerhaaves, übersetzte dessen wichtigste Arbeiten ins Französische und schrieb eigene medizini-

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sche Abhandlungen. 1735 kehrte er nach Saint Malo zurück und liess sich dort als Arzt nieder; 1739 heiratete er; 1741 wurde er Vater einer Tochter.

Das Jahr 1742 brachte die erste Zäsur in La Mettries Leben: Er verliess aus unbekannten Gründen Saint Malo und ging, seine Familie zurücklassend, nach Paris. Dort wurde er Leibarzt des Duc de Grammont und zugleich Sanitätsoffizier in dessen Regiment der Gardes Françaises. In dieser Position nahm er von 1743 bis 1745 an drei grösseren militärischen Operationen des österreichischen Erbfolgekrieges teil, hielt sich jedoch in den Zwischenzeiten in Paris auf. Dort scheint er sich, zunächst vor allem in medizinischen Kreisen, eine Reihe von Feinden geschaffen zu haben, denn als der Duc de Grammont 1745 fiel, bedeutete dies für ihn, wie er schrieb, auch den Verlust eines mächtigen Schutzherrn.

Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis La Mettrie seine Stellung bei den Gardes Françaises verlor. Anlass war sein 1745 -- offenbar vergeblich unter Pseudonym -- erschienenes philosophisches Erstlingswerk »Histoire naturelle de l'âme«, das bald wegen seines "ketzerischen" Inhalts vom Henker in Paris öffentlich verbrannt wurde, sowie wahrscheinlich auch seine im gleichen Jahr anonym erschienene spielerisch-ernste Schrift »La Volupté«. La Mettrie, der schon in seinem 1740 erschienenen »Essai sur l'esprit et les beaux esprits« erste ironische Stacheln gezeigt hatte, liess sich nicht entmutigen und verfasste jetzt eine ausgewachsene Stachelschrift (wie man das damals nannte): »Politique du médecin de Machiavel« (1746) richtete sich gegen jene Ärzte -- und das waren in Frankreich damals die meisten -- die von den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen,

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auch denen über den Menschen, nichts wissen wollten, solange ihre Pfründen auch so gesichert waren. Dennoch hatte La Mettrie noch immer genügend Reputation bzw. Protektion, um die Stellung eines medizinischen Inspekteurs der Feldlazarette in Flandern zu bekommen. Im April 1747 jedoch spitzte sich seine gefährdete Situation so zu, dass er es vorzog, ins holländische Exil zu gehen.

Holland war zu jener Zeit schon traditionell ein Hort liberaler Praxis. Ein Jahrhundert zuvor hatte Descartes dort fast sein halbes Leben im Exil verbracht, ebenso wie Bayle fünfzig Jahre nach ihm. Jetzt wurden in Holland, da eine Vorzensur nicht stattfand und die Nachzensur relativ grosszügig gehandhabt wurde, verbotene Bücher für ganz Europa gedruckt. La Mettrie, der wieder in Leiden lebte, setzte zunächst seine Polemik gegen ärztliche Scharlatanerie fort: »La faculté vengée« (1747), eine Komödie in drei Akten, nimmt die damalige Pariser medizinische Fakultät aufs Korn. Als nächstes schrieb er in kurzer Zeit und ohne besondere Sorgfalt jenes schmale Buch, das ihn berühmt machen sollte: »L'homme machine«, auf das Jahr 1748 datiert, erschien bereits Ende 1747. Diese relativ kleine Schrift philosophisch-wissenschaftlichen Inhalts ging den sonst so toleranten Holländern jedoch zu weit. Auch in diesem Fall war die anonyme Veröffentlichung nur ein kurzfristiger Schutz, und Élie Luzac, La Mettries Verleger, der seinen Autor Anfang Februar 1748 über die grüne Grenze aus Holland schleuste, schrieb, nur noch auf diese Weise habe er ihn davor bewahren können, "wie ein gewöhnlicher Verbrecher auf dem Schaffott zu enden."

Diese Flucht, wenn nicht schon die aus Frankreich,

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war die zweite Zäsur im Leben La Mettries. Er hatte Holland überhaupt nur deshalb mit einem Ziel verlassen können, weil er durch Vermittlung seines Maloenser Landsmannes Maupertuis, eines angesehenen Naturwissenschaftlers, noch rechtzeitig eine Einladung Friedrichs des Grossen nach Potsdam erhalten hatte. Dort, auf dem gerade neu erbauten Schloss "Sans Souci", lebte La Mettrie, alles andere als "sorgenfrei", die knapp vier Jahre bis zu seinem frühen Tode. In dieser Zeit verfasste er, neben zwei weiteren medizinischen Fachschriften, mehrere satirische Pamphlete und jene philosophischen Schriften, die -- s.u. -- so viel Verlegenheit und heimlichen Hass erzeugen sollten.

Das überlieferte Bild des Menschen La Mettrie stammt fast ausschliesslich aus dieser Zeit am Hofe Friedrichs. "Er machte an der Tafel des Königs den Possenreisser", heisst es in einer typischen Charakteristik, "der König schraubte ihn oft, zuweilen nicht auf ganz feine Art, um ihn schwatzen zu machen, damit es etwas zu lachen gäbe; da sagte er gemeiniglich viel Drolligtes, und erlaubte sich denn auch vieles, was ein anderer nie würde gewagt haben, und es ging ihm durch." Dieses Bild, das durch die Schilderung einiger Episoden ausgemalt ist, zeigt indes vornehmlich die harmlose Fassade, deutet aber gleichwohl weniger Harmloses hinter ihr an.

La Mettrie war nämlich keineswegs von Anfang an Hofnarr des "Philosophen auf dem Königsthron" gewesen. Friedrich hatte den fähigen Doppelasylanten, obwohl er der einzige Atheist bei Hofe sein würde, sogleich zu binden versucht, indem er ihn zu seinem persönlichen Arzt und Gesellschafter ernannte, und Maupertuis, ein guter Freund des Königs, hatte ihn wenig

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später in die von ihm präsidierte Königliche Akademie der Wissenschaften berufen. Dem "Opfer der Pfaffen" wurde von Friedrich, dem "aufgeklärten Monarchen", selbstverständlich zugesichert, unter seinem Schutz schreiben zu können, was er wolle. Als La Mettrie daraufhin getreu seiner eigenen Maxime, man möge "so schreiben, als wäre man allein auf der Welt und habe von den Vorurteilen und Gehässigkeiten der Menschen nichts zu fürchten", ans Werk ging, musste er jedoch bald feststellen, dass er von seinen "freundschaftlichen" Beschützern sanft aber bestimmt zensiert wurde. Schon seine zweite Schrift im neuen Exil, den sich als ausserordentlich brisant erweisenden »Discours sur le bonheur«, konnte er nur als Einleitung einer Seneca-Übersetzung getarnt drucken lassen, und auch dies nur, weil er eine längere Abwesenheit Maupertuis' nutzte und Friedrichs Einflussnahme durch eine gewagte List unterband. Vor vollendete Tatsachen gestellt, konnte Friedrich, der sich ja als Freigeist sah, seinen Schützling wegen eines rein philosophischen Textes nicht direkt strafen. Freilich war nun nichts mehr wie zuvor, und aus dieser heiklen und spannungsgeladenen Situation heraus entwickelte sich als modus vivendi  La Mettries Rolle als Hofnarr -- aber auch, ganz im Sinne Friedrichs und Maupertuis', sein Ruf als tatsächlich "Verrückter".

La Mettrie galt denn seinen Zeitgenossen auch mehr als Narr denn als Hofnarr, für den an einem "aufgeklärten" Hof eigentlich auch gar kein Platz ist. Nur ein veritabler Narr konnte nach Meinung der Gesellschaft um Friedrich (erst recht freilich der sonstigen gebildeten Welt) Ansichten vertreten wie La Mettrie insbesondere in seinem »Discours sur le bonheur«. (Der junge Lessing z. B. schrieb seinem Vater: "Sie mögen aber von der

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Abscheulichkeit [dieses Buches] daraus urtheilen, dass der König selbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat.") Demgemäss sprach Friedrich in einer durch und durch ambivalenten Gedächtnisrede auf das Akademiemitglied La Mettrie (die meist verwundert als einziges positives Zeugnis angesehen wird) vage von einer Krankheit, die dessen Gehirn angegriffen gehabt habe. Voltaire, der zu jener Zeit zur Hofgesellschaft gehörte (und der Verlesung dieser "Eloge" übrigens demonstrativ fernblieb), erwähnte in seinen Briefen den Namen La Mettrie selten ohne den Zusatz "fou" bzw. "folie". D'Argens, ein weiteres Mitglied der Runde Friedrichs, erinnerte sich an La Mettrie als einen "Narren im vollsten Sinne des Wortes", dessen Werke nur durch seine Geisteszerrüttung zu erklären seien. Das Urteil über La Mettrie war, abgesehen von Friedrichs zwiespältiger "Eloge", einhellig.

Maupertuis, dem sehr bald peinlich geworden war, La Mettrie überhaupt an den Hof geholt zu haben, verrät in einem Entschuldigungsbrief an den bigotten Naturforscher Albrecht von Haller (mit dem La Mettrie eine ausgedehnte polemische Fehde gehabt hatte), ganz unverblümt, in welcher Rolle er sich gesehen hat: "Ich mache mir beständig den Vorwurf, dass ich an derjenigen Schrift schuld bin, die vor seiner Uebersetzung des Seneca stehet. Ich kannte seine Wuth zu schreiben, und fürchtete die Folgen derselben. Er hatte mir versprechen müssen, sich blos an Uebersetzungen zu begnügen, weil ich ihn dazu für fähiger hielte, und dadurch seine gefährliche Einbildungskraft einzuschränken glaubte... Er hat mir mehr als hundertmal zugeschworen, dass er nichts schreiben würde, was wider die Religion und Sitten liefe... Er schrieb seine Bücher ohne

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Vorsatz, ohne sich um ihr Schicksal zu kümmern und öfters ohne zu wissen, was sie enthielten."*
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   * Dass La Mettrie nicht zurechnungsfähig sei und Schriften verfasst habe, die auf evidente und somit nicht erläuterungsbedürftige Weise "gefährlich" seien, schrieb auch Voltaire. Und als ob La Mettries angeblicher Wahnsinn ihr Zustandekommen nicht hinreichend erklärte, verbreitete Voltaire, La Mettrie habe oft in betrunkenem Zustand geschrieben. Inhaltlich diskutiert wurden deshalb La Mettries Schriften von den Aufklärern nie, auch nicht von den späteren sog. Materialisten.

Um das Schicksal von La Mettries Büchern kümmerte sich indes, auf seine Art und soweit es in seiner Macht stand, Friedrich höchstpersönlich. Er erliess eigens das "Edict wegen der wiederhergestellten Censur". um die Erstauflage des »Discours sur le bonheur« konfiszieren lassen zu können; er nötigte La Mettrie zur Herausgabe von »Œuvres philosophiques«, in denen gerade die, wie Maupertuis sich ausdrückte, "verabscheuungswürdigen" Schriften fehlten, die La Mettrie als seine wichtigsten ansah; und er verbot den Verkauf dieser »Œuvres« sofort nach ihrem Erscheinen, weil sie einen längeren »Discours préliminaire« enthielten, den der renitente Autor offenbar unzensiert hineingeschmuggelt hatte. (Erst spätere, postume Auflagen der »Œuvres«, die ausserhalb Preussens erschienen, waren komplett.)

La Mettrie lebte also bald nach seiner Ankunft bei Hofe in einer äusserst gespannten Atmosphäre, die durch die Possenreisserrolle nur vordergründig aufgelockert war. An verschiedenen Stellen seiner Schriften drückte er mehr oder weniger unverblümt aus, wie wenig ihm, einem "Temperament Anti-Courtisan", das Leben bei Hofe liege. (Die überschwenglichen Lobeshymnen auf Friedrich kann jemand, der La Mettries

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sonstige Schriften kennt und seine Situation mit Empathie betrachtet, nur ironisch auffassen). Deshalb liess er nichts unversucht, um die Erlaubnis zur straffreien Rückkehr nach Frankreich zu erwirken. Er bat sogar Voltaire, von dessen brieflichen Äusserungen über ihn er freilich nichts wusste, seine guten Beziehungen für ihn spielen zu lassen. Alle Anstrengungen La Mettries blieben jedoch vergebens.

La Mettrie empfand seine Lage nicht nur als bedrückend und entwürdigend, sondern in steigendem Masse auch als gefährlich, vor allem deshalb, weil er nicht willens war, sich auch noch in seinen philosophischen Schriften zu verleugnen, und nicht anders konnte als -- wenn auch im Schutz subtiler Ironie -- gemäss der genannten Maxime zu schreiben. In einer zweiten, separaten Auflage des Seneca-Begleittextes, die 1750 -- "ohne sein Wissen", aber mit erheblichen Zusätzen -- erschien, stellte er die rhetorische Frage, ob nicht eines Tages auch für ihn der Schierlingsbecher der Lohn seiner gedanklichen Kühnheit sein werde. In einer ungefähr zur gleichen Zeit anonym verfassten satirischen Schrift gab er, so der Untertitel der deutschen Übersetzung, "glaubwürdige Nachricht von dem Leben und sonderbaren Ende des berühmten Arztes La Mettrie". In seinem letzten Pamphlet, in dem er Ende Oktober 1751 noch einmal verschiedenen Kritikern des »L'homme machine« antwortete, schrieb er beiläufig, aber eindringlich, wie sehr er fürchtete, der "Wut der Frommen" zum Opfer zu fallen. Wen er damit meinte, konnte und brauchte er freilich nicht ausdrücklich zu sagen.

Wenige Tage später, am 11.11. des Jahres 1751, starb La Mettrie dann tatsächlich. Die kolportierte Version

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der Umstände seines Todes berichtet, er, der haltlose Epikureer, habe seine "Genussfähigkeit unter Beweis stellen wollen" und demonstrativ eine riesige Pastete verschlungen, woran er wenig später, nach eigensinniger Selbsttherapie, gestorben sei.*
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   * Diese Geschichte wurde, unbeschadet ihrer Unwahrscheinlichkeit, später oft hervorgehoben. Oppositionelle materialistisch-atheistische Philosophen wie Diderot und Feuerbach, die im Rufe stehen, diesseitsbejahend zu sein, haben sie ebenso bereitwillig aufgegriffen wie konformistische, wohlbesoldete und eher diesseitsverneinende Schulphilosophen.

Manchmal wird dem hinzugefügt, er, der obstinate Atheist, sei auf dem Totenbett reumütig in die Arme der Kirche zurückgekehrt. Wirklich geklärt wurden Ursachen und Umstände seines Todes nie. La Mettries Wunsch, auf dem Grundstück der französischen Gesandtschaft in Berlin beerdigt zu werden, wurde ignoriert; seine Korrespondenz ging verloren; seine Bibliothek wurde als "très considérable" zur Versteigerung angeboten und blieb nicht erhalten; nur seine veröffentlichten Schriften blieben schliesslich und erfuhren eine eigentümliche Rezeption, die ich jetzt in ihren wesentlichen Aspekten skizzieren werde.

Rezeption

La Mettrie hatte mit einigen seiner Schriften vor dem »L'homme machine« zwar provoziert -- dies immerhin in einem Masse, dass er sein Heimatland verlassen musste -- doch Ruhm und Ruch ereilten ihn erst auf Grund jenes schmalen Bandes mit dem plakativen Titel. Die Rezeption dieser Schrift, soweit sie sich in Veröffentlichungen kundtat, erfolgte hauptsächlich östlich des Rheins.*
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   * Dies lag zunächst daran, dass sie in Frankreich verboten war. Die spätere selektive Aneignung der Gedanken La Mettries durch die französischen Materialisten (Diderot focht 1748 noch für den Deismus) erfolgte dann aus anderen, bereits angedeuteten Gründen stillschweigend.

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Folgendes Zitat aus einer Besprechung bezeichnet ihre charakteristische Tendenz recht treffend: "Der Herr Verfasser hat eine Absicht, die arg genug ist. Er wil die Wirklichkeit GOttes, den Gottesdienst, und unsre gröste Glückseligkeit, die Fortdauer der Sele nach dem Tode, bestreiten. Aber seine Waffen sind gebrochenes Stroh..." usw. Man war zudem indigniert über La Mettries Behandlung sexueller Themen: "...der Mensch entstehet aus einem Wurm, wie der Schmetterling aus einem Seidenwurm; welches auf eine schmutzige Art bewiesen wird."

Die zahlreichen Traktate wider den »L'homme machine«, von denen einige diesen an Länge erheblich übertrafen, fochten La Mettrie indes kaum an, auch dann nicht, wenn sie Schwachstellen in seiner "Beweiskette" aufdeckten. Schon in der Schrift »L'homme plante«, die einige Monate nach dem »L'homme machine« erschien, hatte er Korrekturen und Ergänzungen seiner ursprünglichen Thesen vorgenommen. Die Unabgeschlossenheit wissenschaftlicher Erkenntnis war für La Mettrie, den Pyrrhonisten und Epikureer, eine Selbstverständlichkeit und kein Problem, das ihm grosses Kopfzerbrechen bereitete; erst recht aber war sie für ihn kein Grund, um an einen "Gott" zu glauben, der seine Geschöpfe zu Selbsterniedrigung und Demut nötigt, ständig überwacht und nach Willkür straft. Obwohl La Mettrie die Erkenntnisse der neuen Naturwissenschaften oft ins Feld führte, um beispielsweise sog. Gottesbeweise zu erschüttern, hatte er primär freilich gar nicht die kaum erfolgversprechende Absicht, gelahrten Männern die Nichtexistenz ihres "Gottes" zu beweisen. Er beantwortete ihre Angriffe auf den »L'homme machine« dementsprechend mit der kleinen

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Schrift »Les animaux plus que machines« in der er, als Anonymus, sein eigenes Werk ironisch attackiert.

Das vordringlichste Problem war für La Mettrie -- bezogen sowohl auf seine persönliche Existenz als Atheist in einer religiösen Gesellschaft als auch verallgemeinert auf alle Menschen -- das Faktum der allgemeinen Verbreitung der Religion und die miserable Qualität des von ihr wesentlich bestimmten sozialen und individuellen Lebens. In der Beurteilung dieses Faktums stand La Mettrie nicht nur im Gegensatz zu den Religiösen, sondern auch zu Freigeistern aller Schattierungen, die deshalb seine eigentlichen Adressaten waren. Sie nämlich vertraten mehr oder minder engagiert die "weltkluge" Auffassung, die sich treffend in dem bonmot  ausdrückt, dass Gott, wenn es ihn nicht schon gäbe, schleunigst erfunden werden müsste -- freilich für "die Anderen", vielleicht auch nur für "die Dummen", die anders nicht zu "tugendhaftem" Verhalten gebracht werden können. La Mettrie vertrat gegen diese Auffassung der staatsklugen, politischen Empiriker als ärztlicher Empiriker die Auffassung von der quasi gesundheitlichen Schädlichkeit der Religion, die ja für jeden Menschen gelten muss. Mit dieser Auffassung stand er auch im Gegensatz zu populistischen Freigeistern späterer Zeiten, die über das Volk so nicht mehr zu denken bzw. zu sprechen wagten, gleichwohl den Atheismus aber als Sache einer intellektuellen Elite betrachteten -- und freilich als Legitimation ihrer angestrebten Herrschaft (als "Ethokratie", "wahrer Volkswille" o.ä. deklariert). La Mettrie sah die Überwindung der Religion nicht als einen intellektuellen Kraftakt, zu dem naturgemäss nur wenige Individuen fähig sind, sondern als ein seelisches Problem, das mancher Bauer relativ

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gut, mancher moralisierende Atheist dagegen relativ schlecht gelöst hat. Und La Mettries Wertschätzung der intellektuellen Qualitäten religiöser Naturforscher, wie etwa des streitbaren Empiristen Albrecht von Haller, bewahrte ihn vor der bornierten Auffassung, die spekulative Atheisten oft von Religion haben.

Während La Mettrie im »L'homme machine« seine Ansichten zu Religion, Moral und Recht erst nur andeuten konnte oder wollte, drückte er sie in dem knapp ein Jahr später entstandenen »Discours sur le bonheur« zwar nicht in systematischer Strenge, aber offenbar klar genug aus, um für die Freigeister seines Jahrhunderts regelrecht zur Unperson zu werden. Gerade die radikalsten unter ihnen, Diderot und sein Gönner, der Baron Holbach, die als Materialisten La Mettrie einiges verdankten, verschwiegen diese ihre Quelle nicht nur aus opportunistischen Gründen. Welch tiefe Aversion sie gegen La Mettrie empfanden, geht aus der einzigen Stelle hervor, wo Diderot (nach dreissigjährigem Schweigen und gegen Ende seines Lebens) den "Verteidiger des Lasters und Lästerer der Tugend" überhaupt erwähnt (bei Holbach findet man ebenfalls nur eine Stelle über La Mettrie; die Diktion ist ähnlich). Im sicheren Bewusstsein, als führendes Mitglied seiner Zunft für alle zu sprechen. sah es Diderot offenbar als eine letzte Pflicht vor seinem Tode, "einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen" ausdrücklich aus der Gemeinschaft der philosophes  "auszuschliessen".

La Mettrie wandte sich mit seinem antimoralischen Postulat, das Klerikale und Antiklerikale in bezeichnender Einheit gegen ihn aufbrachte, kurz gesagt, im wesentlichen gegen die Vormacht jener seelischen

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Instanz, die man später Über-Ich nannte, d.h. also radikal gegen die überkommene und trivialerweise "natürliche" Art und Weise, auf die bei jedem Individuum das moralische Verhalten gesteuert und die Bindung an "seine" Gruppe hergestellt wird. Sein Zukunftsbild war deshalb nicht präskriptiv, sondern die offene Vision einer Gesellschaft aufgeklärter, d.h. nicht einem strengen Über-Ich unterworfener Menschen, in der die Setzung von Normen bewusst erfolgt. Eine solche Gesellschaft wäre gewiss keine "ethokratische", wie sie Holbach und im Grunde allen Aufklärern vorschwebte, sondern eine a-kratische bzw. an-archische, d.h. in seriösem Sinne demokratische. (Die rechts- und staatsphilosophischen Auffassungen La Mettries stehen denen nahe, die der liberale Jurist Ulrich Klug kürzlich (1981: »Skeptische Rechtsphilosophie«. Band 1. pp. 63-95) zur "geordneten Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaats" äusserte, nur dass Klug im Banne des modernen pluralistischen Freiheitsverständnisses steht und deshalb, im Gegensatz zu La Mettrie, die unerlässliche seelische Struktur der Menschen, die eine solche soziale Ordnung tragen könnten, ignoriert. )

La Mettrie war ein zu begeisterter Anhänger des Empirismus, als dass er, wie man unterstellt hat, gegen die Über-Ich-Abhängigkeit aus frivoler Lust an rationalistischer Spekulation argumentiert hätte. Beobachtungen an sich und an anderen Menschen hatten ihn davon überzeugt, dass erstens die traditionelle Art der Sozialisation, d.h. die Erzeugung jener psychischen Kontrollinstanz, in vielen Fällen (am deutlichsten im sexuellen Bereich) untrennbar mit der Erzeugung eben der Neigungen einhergeht, die sie dann in Schach halten soll

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und dass zweitens diese Art der Verhaltenssteuerung offenkundig sehr häufig versagt (Massenexzesse gar erst ermöglicht) und generell mit einer hohen Einbusse an Glücksfähigkeit verbunden ist; dass also gerade jene Instanz, die als Mittel gegen soziales Übel geheiligt wird, am Ursprung dieser Ubel eine gewichtige Rolle spielt.

La Mettries antimoralische Ideen wurden allerseits als so unerhört und abwegig empfunden, dass man sie kaum diskutierte. Auch und gerade die Aufklärer wollten nichts mit ihnen zu tun haben, zumal ihre klerikalen Gegner sie zuweilen polemisch einsetzten, so dass Kondylis resümiert, La Mettrie sei "in erster Linie von Verfechtern des neuzeitlichen Rationalismus bekämpft [worden], die sich kompromittiert fühlten, während die konservativen Theologen ... die Blosslegung der moralischen Quintessenz der neuen Ideen schadenfroh erblickten." Dennoch wurden La Mettries »Œuvres philosophiques«, einst von Friedrich ängstlich zensiert, bis zum Jahrhundertende noch einige Male ungekürzt neu aufgelegt. Das offenbar vorhanden gewesene Interesse an den skandalumwitterten Schriften schlug sich jedoch nicht auf nennenswerte Weise in der Literatur nieder.

Als Friedrich A. Lange 1866 den "Prügeljungen des französischen Materialismus" der Vergessenheit entriss, tat er dies, um auch ihm gegenüber "die sonst übliche Gerechtigkeit" walten zu lassen. Er brachte zunächst die in vielen Darstellungen des Materialismus -- insbesondere bei Hegel -- auf dem Kopf stehende Chronologie in Ordnung, indem er nachwies, dass "in fast allen Fällen, wo wir eine auffallende Ähnlichkeit der Gedanken bei La Mettrie und

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einem berühmteren Zeitgenossen finden", La Mettrie klar die Priorität gebühre. Lange würdigt ausführlich die Verdienste La Mettries um den Materialismus, lobt seine Klarheit, Behutsamkeit und Scharfsinnigkeit, nennt ihn gar "eine edlere Natur als Voltaire und Rousseau" -- distanziert sich dann aber bei allem Wohlwollen unzweideutig von seiner "Ethik", die er "verwerflich" nennt. Hier habe La Mettrie "rücksichtslose Schriftstellerei" betrieben und "durch seine niedrige Auffassung das Andenken Epikurs noch nach Jahrtausenden befleckt."

Die Rehabilitation La Mettries durch Lange betraf La Mettrie als ersten Vertreter des sog. mechanischen Materialismus und war, da dieser inzwischen weitaus systematischer formuliert worden war, kaum geeignet, philosophisches Interesse an ihm zu wecken. Ein weiteres Jahrhundert verstrich, in dem nur sporadisch einige Arbeiten über ihn verfasst wurden. Die Monographie von Poritzky aus dem Jahre 1900 wurde deshalb noch 1971 unverändert nachgedruckt und ist heute [1985] die einzige im Handel. Ein verstärktes Interesse an La Mettrie und z.T. auch an dem problematischen Verhältnis der französischen Aufklärer zu ihm ist jedoch ab ca. 1960 zu verzeichnen. Von da an erschienen relativ häufig einschlägige Arbeiten, davon einige in ausgezeichneter Qualität, die aber, da meist in literaturwissenschaftlichen Zeitschriften bzw. Buchreihen veröffentlicht, wiederum von der philosophischen Zunft weithin unbeachtet blieben.

Moderne Autoren, die La Mettrie besondere Aufmerksamkeit schenken, vermeiden es freilich, seine antimoralische Haltung, wie Lange das tat, als "verwerflich" zu bezeichnen. Aram Vartanian, der Initiator

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der modernen La-Mettrie-Forschung, nannte den »Discours sur le bonheur« 1960 ein Werk, das noch nicht genügend verstanden sei, befasste sich aber in seinen folgenden Arbeiten über La Mettrie nicht mit diesem Werk. John Falvey, der den »Discours sur le bonheur« 1975 in einer sehr sorgfältigen kritischen Edition herausgab und seit 1965 einige Arbeiten über La Mettries Auffassungen zu Moral und Sexualität publizierte, räumte zwar viele Vorurteile beiseite, blieb aber letztlich unentschieden und ambivalent hinsichtlich des philosophischen Status La Mettries. Auch Ann Thomson, die Falvey gerade deswegen kritisierte, bot selbst, trotz verdienstvoller Arbeiten über La Mettrie, keine Lösung dieses Problems. Sie interpretiert z.B. La Mettries Argumentation gegen Über-Ich und "Gewissensbisse" trivial als Ausdruck des ärztlichen Anliegens, das primär Leidensminderung für den aktuellen Einzelnen im Auge hat -- bei La Mettrie ungewöhnlicherweise auch für den "Sünder" und "Kriminellen" (was schlicht als Kompetenzüberschreitung des Arztes gesehen werden kann, der sich um theologische und juristische Dinge kümmert). Thomsons Interpretation La Mettries als (übereifriger) "Humanist" kontrastiert zu der häufigeren, die in ihm einen destruktiven "Nihilisten" und Vorgänger Sades sieht. -- Zu erwähnen ist noch die Rezeption La Mettries in der DDR, am sachkundigsten repräsentiert durch eine umfangreiche Dissertation und fünf Artikel von Manfred Starke. Starke steht auf der Seite der "geschichtlichen Sieger", d.h. jener Aufklärer, die durch kluges Taktieren gesellschaftlich am erfolgreichsten waren (genau dies sei nämlich "höchstes Kriterium für philosophisches Denken und Handeln ... seit der Aufklärung"). Dennoch scheint ihn das isolierte "anar-

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chistisch-individualistische Element" La Mettrie so fasziniert zu haben, dass er sich 1974 nur mit einer diffamierenden Suada von ihm losreissen konnte.

Den beachtlichsten, weil weitaus fruchtbarsten Gebrauch von Gedanken La Mettries hat bisher Kondylis in seinem grossen Werk über die Aufklärung gemacht (1981). Er erklärt La Mettrie auf Grund seiner antimoralischen Schriften zum konsequentesten Vertreter des "Nihilismus" im 18. Jahrhundert, gebraucht aber diesen Begriff ausdrücklich nicht im üblichen abwertenden Sinn (normativ positiv auf Destruktion bezogen), sondern dazu, "die These von der völligen Relativität aller Werte zu charakterisieren". Kondylis macht den so verstandenen Nihilismus zu seinem eigenen "wissenschaftlichen Denksystem" und verschafft sich damit die Grundlage für seine Deutung und Analyse der Aufklärung. Obwohl er La Mettrie (eher beiläufig und implizit) in einen denkerischen Rang erhebt, an den vor ihm kein Autor je gedacht hatte, sieht er eine entscheidende Qualität seines Denkens nicht: die post- oder transnihilistische, wie man sie nennen könnte.

Dieser Mangel äussert sich schon in seiner nicht begründeten Entscheidung, Sade (obwohl er erkennt, dass dieser sich bloss "Denkkonstruktionen der Normativisten mit umgekehrtem Vorzeichen zu eigen macht") zusammen mit La Mettrie in einem Kapitel als "Die Konsequenten" (des Nihilismus) zu behandeln. Die unpassende Kopplung sieht nur auf den ersten Blick wie ein Formfehler aus, der durch eine Trennung des Kapitels an seiner ohnehin schwachen Nahtstelle leicht zu beheben wäre. Bei näherer Betrachtung ist sie adäquater Ausdruck seiner verkürzten Rezeption La Mettries.
[Anm. 1998: vgl. hierzu Bernd A. Laska: Panajotis Kondylis - ein unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts.]

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Kondylis, der ausdrücklich eine "streng deskriptive Theorie" anstrebt, nimmt jene Tendenzen La Mettries, die über den Nihilismus hinausweisen, ohne "präskriptiv" oder "normativistisch" zu sein, überhaupt nicht wahr, weil er sie logisch nicht für möglich hält. Dies beeinträchtigt seine Analyse der Aufklärungsepoche (bis einschliesslich Kant) zwar kaum; doch die Konsequenzen dieser Sichtweise machen sich in Anmerkungen zu späteren Philosophien und vor allem in seinem 1984 erschienenen Buch »Macht und Entscheidung« deutlich bemerkbar. In diesem auf sehr hohem Abstraktionsniveau geschriebenen Werk, in dem kein Name eines Denkers, also auch nicht der La Mettries, fällt, legt Kondylis seinen "konsequent wertfreien" "deskriptiven Dezisionismus" dar, wie er den Nihilismus im angegebenen Sinne jetzt nennt. Ich kann hier nur versuchen, an Hand dieses Werkes den Ursprung zu zeigen, von dem aus zwei divergierende, in sich konsequente Entwicklungen zu den unter einem bestimmten Gesichtspunkt konträren Philosophien von La Mettrie und Kondylis führen; eine gründliche Diskussion werde ich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte (s. Abschn. III) vorlegen.

Kondylis behauptet zum einen -- in erfreulich unzeitgemässer Unbefangenheit -- die theoretische Überlegenheit seiner Betrachtungsweise für die "wissenschaftliche Erkenntnis des Seins", zum anderen aber -- in unerfreulich zeitgemässer Befangenheit, wie mir scheint, nämlich für den weltanschaulichen Pluralismus im gängigen Sinn -- die prinzipielle (also nicht die wahrscheinliche) Unmöglichkeit, dass diese seine Betrachtungsweise sich je in nennenswertem und sozial wirksamem Masse werde durchsetzen können. Diese These Kondylis'

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scheint aut den ersten Blick mit La Mettries "Apologie" im »Discours préliminaire« übereinzustimmen, wo dieser versichert, es werde garantiert keinen Einfluss, also auch keinen schädlichen, auf das gesellschaftliche Leben haben, wenn er in seinen Büchern "die Wahrheit" sage. Doch schon Ton und -- literarischer wie historischer -- Kontext weisen auf die fundamentale Differenz zwischen beiden Autoren.

La Mettrie treibt ein raffiniertes ironisches, also ernstes, Spiel: zum einen mit der Pathetik von "Wahrheit", mit der klerikale und antiklerikale Tugendfanatiker ihre Lehren verbrämen und ihren Herrschaftsanspruch bemänteln; zum anderen mit der paradoxen Befürchtung dieser doch wohl sittlich Gefestigten, Bücher, die allenfalls in ihren eigenen Kreisen gelesen werden, würden die Sitten des Volkos zersetzen. La Mettrie, der Pyrrhonist, ironisiert obendrein aber auch den Pyrrhonismus, die "Wahrheit" der radikalen Skepsis, und will damit, ohne "präskriptiv" zu sein, den Weg aus einer klassischen philosophischen Zwickmühle weisen.
Kondylis' Aussagen dagegen sind nicht ironisch gemeint, sondern rein "deskriptiv" (er müsste sich auch gar nicht durch doppeldeutige Ironie schützen, wenn er die "Wahrheit" sagt, denn heute, "nach der Aufklärung", begegnet man sogar dieser mit -- "Toleranz"...); sie enthalten auch keine Selbstironie, denn Kondylis hält seinen Standpunkt der "immanenten radikalen Skepsis", wie er ihn auch nennt, für den einzig wirklich soliden für eine wissenschaftliche Betrachtung der Menschenwelt.

Der Gegensatz zu La Mettrie ist damit aber erst angedeutet. Klar wird er -- auf direktestem Wege -- durch einen weiteren Vergleich.

La Mettrie sah als Empiriker die religiöse Borniertheit

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der grossen Mehrzahl der "unaufgeklärten" Menschen -- und die quasi-religiöse der "aufgeklärten". Doch diese massive Evidenz gegen seine Vorstellung von echter Aufklärung blieb für ihn eine sekundäre, der er die primäre seiner eigenen Existenz als für ihn ausschlaggebend entgegensetzte. Er sah sich sozusagen als historische Frühgeburt des Neuen Menschen. Kondylis sieht heute, ebenso realistisch wie einst La Mettrie, dass religiöse, bzw. quasi-religiöse Borniertheit noch immer ubiquitär sind. Die zusätzliche "empirische Last" von 230 "aufklärerischen" Jahren jedoch hat ihn die Rangfolge der beiden Evidenzen, die für La Mettrie galt, umkehren lassen: Kondylis sieht seine eigene Existenz nicht als modellhaft an, sondern als abartig bzw. monströs. Er meint -- und untermauert diese Meinung mit einer anthropologischen, biologischen und zuletzt gar ontologischen Konstruktion --, dass Menschen wie er zwar im Grunde als einzige zu "wahren" Einsichten in die grundlegende Dynamik menschlicher Gesellschaften fähig seien, aber prinzipiell  nicht dazu, selbst eine Gesellschaft zu bilden: nur als "Parasiten" einer nach traditionellen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft könnten sie überhaupt existieren.

Die hier grob skizzierten konträren Selbsteinschätzungen beider Autoren sind der Ursprung ihrer bei nihilistischer Gemeinsamkeit divergierenden Philosophien. Diese aber sind trotz der relativ grossen zeitlichen Distanz ihrer Entstehung, auf Grund ihres hohen Abstraktionsgrades gut miteinander vergleichbar -- und vor allem hochaktuell für jeden, der sich mit dem Thema "Aufklärung heute" auseinandersetzt (s. Abschn. III)

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Stilmittel Ironie

Ich habe bereits einige Male auf die Ironie La Mettries hingewiesen, auf eine seiner schriftstellerischen Eigenarten, die freilich in vielen Fällen auf seine Zeitgenossen zielsicherer wirkte als auf spätere Generationen. Dass La Mettrie in seinen zahlreichen Polemiken das Stilmittel der Ironie reichlich anwandte, war auch später nie ein Problem. Dass er es aber auch in seinen philosophischen Schriften bisweilen auf raffinierteste Art einsetzte, wurde lange Zeit gar nicht bemerkt und erst von der neueren Forschung thematisiert: mancher vermeintlichen Ungereimtheit des Textes konnte so ein Sinn abgewonnen werden. Erst kürzlich legte Lionel P. Honoré in einer ausführlichen Untersuchung dar, dass auch La Mettries "seriöse" »Histoire naturelle de l'âme« eine "Satire ist, die scholastische Terminologie benutzt, um zu Schlüssen zu kommen, die den Absichten der Scholastiker entgegengesetzt sind."

Dabei hatte La Mettrie selbst in dem schon erwähnten Pamphlet, das er noch kurz vor seinem Tode drucken liess, folgende testamentähnliche Passage eingefügt: "Da ich stets die kühnen Schriftsteller geschätzt habe, die die allgemeinen Vorurteile auf direkte Weise angreifen, so werden Sie erstaunt sein, dass ich selbst überall in meinem Werk das Stilmittel der Ironie verwendet habe... Ich tat dies, weil ich mich in der Lage eines Seefahrers befand, der in ungünstigen Wettern manövrieren muss. Günstig ist das Wetter, wie Sie wissen, nur dem, der in eine Richtung strebt, die der meinen entgegengesetzt ist; wer den Hafen der Vernunft und der Wahrheit anzusteuern wagt, dem sind alle Winde so widrig, dass er gar nicht geschickt und listig genug sein kann..."

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Sicherlich ist es oft schwierig, die subtile und vielschichtige Ironie und Selbstironie La Mettries zu erkennen bzw. kontextgerecht zu deuten, vor allem dann, wenn keine verständige Interpretation seines Gesamtwerkes zugrundeliegt. Oft aber war es auch blindwütige Ablehnung des Antimoralisten, die zu Fehldeutungen ironisch gemeinter Passagen führte: etwa seiner Lobpreisungen Friedrichs des Grossen, die Diderot sehr gelegen kamen, um La Mettrie als geborenen Schmeichler zu bezeichnen; oder seines oft zitierten Satzes, wonach die Menschen von Natur aus böse seien und es ohne die Erziehung nur wenig Gute gäbe. Dass auch ein so scharf- und freisinniger Interpret La Mettries wie Kondylis letzteren Satz in seinem Nominalwert nimmt, weist auf die Art der Schwierigkeiten, vor denen die noch zu leistende stimmige Gesamtinterpretation La Mettries steht.

II. Potentieller Rang als Philosoph

Unter Philosophen galt La Mettries Rang stets als einer genaueren Bestimmung im Grunde unwürdig. Er ist jedenfalls so niedrig, dass selbst Kondylis nur indirekt angibt, in welcher Beziehung er zu diesem Autor steht. Auch hat kein Philosoph, auch kein dezidiert atheistisch-materialistischer, ihn je als seinen Vorläufer bezeichnet. Feuerbach etwa meint, es sei "nichts verkehrter, als wenn man den deutschen Materialismus vom Système de la Nature [Holbachs] oder gar von der Trüffelpastete La Mettries ableitet". Bei Marx und/oder Engels (in »Die heilige Familie«) ist nur kurz und herablassend vom "Arzte" La Mettrie die Rede. In philosophiegeschichtlichen Dar-

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stellungen erscheint La Mettrie meist blass und konturlos als einer der französischen Materialisten.

Einer der Gründe für diese Einschätzung La Mettries und das Desinteresse an ihm im 19. und 20. Jahrhundert war und ist ein Klischee, das den Blick auf seine Spezifität, die führenden Kopfen des 18. Jahrhunderts zumindest nicht entgangen war, voll und ganz verstellt. Es heisst »L'homme machine«. Der eingängige, formelhafte Titel des Buches, das 1875 erstmals als »Der Mensch [ist] eine Maschine« auf deutsch erschien, wurde als Kernaussage oder Quintessenz eines primitiven "mechanistischen Materialismus" genommen, der durch die reiferen Arbeiten von Helvétius, Holbach, Diderot und anderen überholt sei. Und »L'homme machine« stand (und steht noch weithin) für La Mettrie.

Einige Literaturwissenschaftler jedoch, die sich in letzter Zeit eingehend mit La Mettries Gesamtwerk befasst haben, meinen seine philosophische Position zutreffender zu kennzeichnen, wenn sie sie -- im Gegensatz zu "mechanistisch" -- als überwiegend "vitalistisch" (Falvey) oder -- beide Gegensätze vereinend -- als "mechanovitalistisch" (Vartanian) etikettieren. Insbesondere Vartanian hat in seinem sorgfältigen Kommentar zur kritischen Ausgabe des »L'homme machine« (1960) nicht nur, Langes Bemühungen fortsetzend und vertiefend, die Priorität La Mettries bekräftigt (für Ideen, die später Holbach, Diderot, Cabanis und anderen zugeschrieben wurden), sondern auch, im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Kybernetik, La Mettries Modernität festgestellt: "Der Geist La Mettries ist während der letzten anderthalb Jahrhunderte nie so lebendig und gegenwärtig gewesen wie heute."

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Tatsächlich lässt sich in einer Zeit, wo maschinelle "künstliche Intelligenz" die Domäne dessen, was noch vor kurzem "der Mensch" (d.h. ohnehin: nur wenige Exemplare der Gattung) nur selbst zu können glaubte, rapide und vor allem ohne absehbares Ende schrumpfen lässt, ein gestiegenes philosophisch-wissenschaftliches Interesse am Problem des "Geistes" und seines Verhältnisses zur "Materie" registrieren. 1977 (dt. 1982) erschien das international sehr beachtete Buch »The Self and its Brain« von Karl Popper und John Eccles. Der liberalistische Philosoph und der katholische Neurophysiologe vertreten darin im wesentlichen je eine moderne Version des (interaktionistischen) Dualismus, dessen nenzeitlicher Begründer Descartes war. 1980 (dt. 1984) erschien das bisher weitaus weniger beachtete Buch »The Mind Body Problem« von Mario Bunge. Der szientistische Philosoph vertritt darin eine moderne Version des konsequenten Monismus, den als erster La Mettrie -- mit wenig Einfluss auf die Philosophiegeschichte -- gegen den cartesianischen Dualismus setzte. Trotz der gewaltigen Expansion der empirischen Wissenschaften in den seither vergangenen 230 Jahren sieht Bunge seine Philosophie, auch durch die Brille des Zweckoptimismus, in einer wenig veränderten Situation: "Der psychophysische Dualismus ist, wenn auch auf dem absteigenden Ast, immer noch die am meisten verbreitete Anschauung. [...] Im grossen und ganzen blieb der Materialismus bis vor kurzem eine ausserakademische Philosophie."

Es versteht sich von selbst, dass Bunges argumentatives Arsenal für den "emergentistischen Materialismus", wie er seine monistische Philosophie nennt, qualitativ und quantitativ erheblich besser ausgestattet ist als das

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La Mettries für seinen Materialismus. Dennoch bietet sich, wie im Falle Kondylis, ein Vergleich der beiden Autoren an, deren epochenüberbrückende Gemeinsamkeit in ihrem Eintreten für einen konsequenten Materialismus besteht. Er führt ebenfalls zur Feststellung einer reziproken Folge der Grundprioritäten ihres jeweiligen Philosophierens. Für La Mettrie (als Jünger Epikurs) hat Erkenntnis durch empirische Wissenschaft erklärtermassen sekundären Rang. Sie ist für ihn Instrument beim Umgang mit Dingen oder Menschen und dient der Förderung der eigenen "Eudämonie" (die aber prinzipiell verallgemeinerungsfähig ist, ohne präskriptiv zu sein). Für Bunge und die meisten modernen Wissenschaftsphilosophen ist Erkenntnis durch empirische Wissenschaft primäres Anliegen. Dies ist jedoch nur vorgeblich so: dahinter steckt -- was hier nicht demonstriert werden kann -- das Konzept einer "wissenschaftlichen Weltanschauung" des alten Typus, bei der die Aufklärer sich zuständig fühlen, eine (um in der Terminologie zu bleiben:) allgemeine "Eudämonie" zu konzipieren, die präskriptive Geltung für jeden "Vernünftigen" haben soll. Und: "Wer nicht vernünftig denken will, verzichtet darauf, Mensch zu sein", forderte schon Diderot mit repräsentativer Stimme, "und muss deshalb als entartetes Wesen behandelt werden."

Vor dieser Konsequenz schrecken heutige szientistische Aufklärer wie Bunge, der sich übrigens in einer "Ahnentafel" (p.8) als direkten wissenschaftlichen Nachfahren Diderots bezeichnet, so sehr zurück, dass sie den gesamten Bereich menschlichen Lebens, auf den es Aufklärung früher stets primär ankam, den moralischen, in eine "private" oder "politische" Welt verlegen, die für Wissenschaft tabu ist.

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Bunge meint zwar zu demonstrieren, dass "alles" in dieser Welt, speziell auch das Phänomen "Geist" oder "Seele", aus der Sicht des materialistischen Monismus zureichend erklärbar ist. In seiner Behandlung des Leib-Seele-Problems fehlen aber, infolge des genannten Tabus, alle "Über-Ich-bezogenen" Begriffe (Gott, Religion, Moral, Gewissen u.a.), so dass es kaum noch verwundert, dass er in seiner Diskussion der existierenden Weltbilder die beiden einflussreichsten Materialismen der Neuzeit, die "entlarvenden", die Marx und Freud erdachten, ohne Begründung ignoriert.

Ich habe Bunge, der La Mettrie nur am Rande erwähnt, hier kurz vorgestellt, um anzudeuten, warum es verfehlt ist, La Mettries Aktualität szientistisch begründen zu wollen (z.B. wie Vartanian: mit der Erfindung qualitativ neuer Maschinen und mit umwälzenden Erkenntnissen der Neuro-Wissenschaften). La Mettrie ist aktuell, aber aus Gründen, die auf direktestem Wege durch eine intensive Auseinandersetzung mit Kondylis klar werden können.

La Mettries Rang als Philosoph ist also bis heute an sich kaum umstritten. Einzig Kondylis hat einen indirekten und undeklarierten Versuch seiner grundlegenden Neubestimmung unternommen. Dieser Versuch demonstriert die Überlegenheit nihilistischen Denkens an einem so ausserordentlich komplexen Gegenstand wie der "Aufklärung" und impliziert für La Mettrie, der in ihm als konsequentester Nihilist seiner Epoche eine Schlüsselposition zugewiesen bekommt, einen hohen, aber nicht näher bestimmten Rang als Philosoph bzw. sogar "Metaphilosoph" Dass Kondylis diese Frage nicht explizit aufwirft und ihre Auffindung sogar durch seine

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gewaltsame Verquickung der Positionen La Mettries und Sades erschwert, geht auf sein Verständnis von Nihilismus (theoretisch überlegen, praktisch wertlos; siehe oben) zurück, das ihn zudem hindert, die post- bzw. transnihilistischen Tendenzen bei La Mettrie zu sehen.
Dennoch: Kondylis' Stärke in seiner Studie über die Aufklärung hat mich veranlasst, La Mettrie im Detail zu studieren; Kondylis' (nur relative) Schwäche, die sich in seiner Version von Nihilismus ("deskriptiver Dezisionismus") zeigt. hat mich zu dem Versuch ermuntert, den potentiellen Rang La Mettries als Philosoph oder Metaphilosoph näher zu bestimmen: im Rahmen eines Projekts, dem ich den Namen "LSR" gab.

III. Das LSR-Projekt

Das Akronym "LSR", mit dem ich mein Projekt bezeichne, steht für die Personennamen La Mettrie, (Max) Stirner und (Wilhelm) Reich. Ihre Zusammenfügung beruht auf einer Entdeckung, die ich auf Grund gezielter Detailstudien gemacht habe und in zwei Sätzen umreissen will:
1. Die drei radikaleren Phasen aufklärerischen Denkens, die disparaten Materialismen also, die mit den Namen Diderot, Marx und Freud (als repräsentativen Figuren) verbunden sind, brachten jeweils eine, und zwar nur eine, ausgesprochene Unperson hervor, die bei der jeweiligen Theoriebildung dieser Bewegungen eine kaum zu überschätzende, teils geheime, teils geheimgehaltene Schlüsselposition innehatte, nämlich, in gleicher chronologischer Folge, La Mettrie, Stirner und Reich.
2. Bei den sehr intimen und weitgehend verborgen gebliebenen theoretischen Konflikten, aus

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denen La Mettrie, Stirner und Reich als Unpersonen bzw. geistige Parias hervorgingen und Diderot, Marx und Freud als geistige Helden, ging es, so unterschiedlich der Kontext sein oder scheinen mag, im Prinzip stets um das gleiche Problem, das Kernproblem von "Aufklärung", vielleicht von (neuzeitlicher) Philosophie überhaupt. Der Rang dieses Problems erlaubt freilich, wie man zugestehen wird, keine Kurzdarstellung.

Das "Projekt LSR" wird durch die Herausgabe zweier Buchreihen realisiert werden:

A. "LSR-Quellen"

Da von La Mettries Schriften keine oder keine adäquaten Übersetzungen existieren, werden von ihm folgende Bände erscheinen:

Band 1: Der Mensch als Maschine
(L'homme machine)
Band 2: Das Höchste Gut ("Anti-Seneca")
(Le souverain bien; Discours sur le bonheur)
Band 3: Der Philosoph und Die Lust
(Discours préliminaire, La Volupté bzw. L'art de jouir, versch. Auszüge)

Stirners und Reichs relevante Schriften sind zur Zeit leicht zugänglich.

B. "Parias des Geistes"

Band 1: Julien Offray de La Mettrie -- Rezeption und Bibliographie bis 1984.
Band 2: Max Stirner -- Rezeption und Bibliographie bis 1984.
Band 3: Wilhelm Reich -- Rezeption und Bibliographie bis 1984.
Band 4: La Mettrie, Stirner, Reich - Essenz und Konsequenz.

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Die Rezeptionsdarstellungen sind nach einheitlichem heuristischen Prinzip als -- überraschend aufschlussreiche -- Propädeutik konzipiert, werden ihres informativen Gehalts wegen aber auch separat und zu anderen Zwecken verwendbar sein. Band 4 wird als Haupt- und Ergebnisband den Versuch enthalten, zunächst durch Elimination aller unspezifischen Bestandteile der jeweiligen Werke (besonders bei La Mettrie und Reich), ihre theoretischen Kernstrukturen freizulegen, um anschliessend deren weitgehende Kongruenz zu demonstrieren. Die Superposition dieser drei Strukturen wird die Grundlage einer neuen theoretischen (Minimal-)Struktur bilden. Sie wird das Resultat des "LSR-Projektes" sein.

Die Bestimmung des potentiellen Ranges La Mettries (wie auch Stirners und Reichs) ist, wie man sieht, bei diesem Unternehmen ein Nebenaspekt. Hauptaspekt ist das intellektuelle Erleben des aktuellen Lesers, der aufgeklärt genug sein sollte, um die vorgefundenen Philosophien (die der "Anderen") zu durchschauen, aber nicht so "postaufgeklärt", dass er, statt nur an diesen, auch an seiner eigenen und an sich selbst verzweifelt.

 
Anmerkung April 1998 zu Kap. III:
Diese erste veröffentlichte Skizze des "LSR-Projekts" von 1985 und spätere Ergänzungen haben bisher keine nennenswerten direkten Reaktionen hervorgerufen. Das Projekt ist ein Ein-Mann-Unternehmen geblieben. Die geplante Publikationsfolge wurde im Laufe der Arbeit modifiziert. Der aktuelle Stand des LSR-Projekts ist diesen Netzseiten zu entnehmen.

 
 



 
 

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Vorbemerkungen des Herausgebers und Übersetzers
zu La Mettries »Der Mensch als Maschine«

Frühere Übersetzungen

Die erste Auflage des »L'homme machine« erschien, vordatiert auf 1748, schon Ende Oktober 1747 bei Élie Luzac in Leiden (Holland). Eine zweite und dritte Auflage erschienen noch 1748 im gleichen Verlag. Ab 1751 erschien der Text als Bestandteil von La Mettries im 18. Jahrhundert noch mehrmals an verschiedenen Orten wiederaufgelegten »Œuvres philosophiques«. Die Abweichungen der verschiedenen Texte voneinander sind relativ geringfügig und wurden deshalb in dieser Übersetzung nicht gekennzeichnet. (Vgl. dazu: Aram Vartanian: La Mettrie's L'homme machine. Critical Edition with an Introductory Monograph and Notes. Princeton NJ, USA, 1960.)

Die erste Übersetzung des Buches ins Deutsche stammt von Adolf Ritter: »Der Mensch eine Maschine«, Leipzig 1875. Eine zweite Übersetzung fertigte Max Brahn an: »Der Mensch eine Maschine«. Leipzig 1909. Eine dritte Ubersetzung besorgte Theodor Lücke: »Der Mensch eine Maschine«, Leipzig 1965 (unveränderte, 2. Aufl. 1984). Lückes Übersetzung enthält, obwohl sie, z.T. dank Vartanians sorgfältiger Untersuchung, eine Reihe von Fehlern der früheren Übersetzungen nicht mehr aufweist, dennoch Unzulänglichkeiten, die das Unternehmen dieser vierten Übersetzung rechtfertigen (sie war und ist im übrigen in der Bundesrepublik Deutschland weder im Handel noch in Bibliotheken vorhanden). Ich habe zudem den bisherigen Titel der deutschen Übersetzungen nicht übernommen, da er eine Quintessenz des Inhaltes dieses Buches -- und darüberhinaus der philosophischen Position La Mettries überhaupt -- suggerierte, die auf die bisherige Rezeption dieses Denkers einen äusserst nachteiligen Einfluss gehabt hat.

Auf die notorischen Schwierigkeiten bei der Übersetzung von französischen Texten dieser Art aus dieser Zeit will ich, da sie andernorts schon oft erörtert worden sind, hier nicht eingehen. Insbesondere bei La Mettrie, wo subtile Ironie, Doppeldeutigkeiten und Anspielungen eine grosse Rolle spielen, wird man in Zweifelsfällen das Original bzw. bei diesem Titel besser noch Vartanians gut kommentierte kritische Edition zu Rate ziehen und sich eine eigene Meinung bilden müssen. Die Klage, bei La Mettrie manchmal nicht recht zu wissen, woran man eigentlich ist, wurde gerade von Forschern, die sich eingehender mit ihm befasst haben, erhoben. Dies betrifft zwar vornehmlich seine polemischen Schriften, in denen er manchmal vom Standpunkt seiner Gegner aus schreibt, so dass die Grenze zwischen Ironie und echter Selbst-

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kritik oft schwer zu finden ist; es betrifft aber auch -- und La Mettrie trennte da nicht scharf -- seine "wissenschaftlichen" Schriften, von denen derjenige leicht verwirrt wird, der sie nur mit Hilfe gewohnter philosophischer Kategorien zu erfassen versucht. Wer La Mettries spezifische philosophische Position, wie ich sie im einleitenden Essay zu skizzieren versucht habe, nicht kennt, wird manche Stellen als ungereimt oder widersprüchlich empfinden und, als Übersetzer, rein mechanisch seines Amtes walten. Dies mag erklären, weshalb ein und derselbe Übersetzer Texte von Diderot in ein erheblich besser lesbares Deutsch gebracht hat als Texte von La Mettrie. Ich habe in der folgenden Übersetzung versucht, Sinnentstellungen und Holprigkeiten der früheren weitgehend zu reduzieren, ohne mich jedoch so weit vom Original zu entfernen wie es für einen wirklich glatten deutschen Text erforderlich gewesen wäre.

Ein Buch aus dem Jahre 1748, das viel damals allbekanntes Material enthält, bedarf für den heutigen Leser einiger Kommentare. Ich habe diejenigen, die schwer entbehrlich sind, aus Vartanians Buch extrahiert und in eckigen Klammern als Fussnoten auf der jeweiligen Seite plaziert. Einen speziellen, ausführlicheren Kommentar, der nicht in einer Fussnote unterzubringen ist, werde ich jetzt im Rahmen dieser Vorbemerkungen geben. Er betrifft die "Widmung" des Buches an "Herrn Haller, Professor der Medizin zu Göttingen".

 
Anmerkung April 1998: 1990 ist bei Meiner in Hamburg ("Philosophische Bibliothek", Band 407) eine fünfte Übersetzung des »L'homme machine« erschienen. Ihr Titel: »Die Maschine Mensch«. Diese "Fassung", so die Autorin Claudia Becker in kompetent gesetzten Worten, "beschränkt sich nicht nur auf eine mögliche Korrektur der Fehler bereits vorhandener Übersetzungen, sondern stellt eine vollständig revidierte Neu-Übersetzung vor, die den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs weitgehend zu wahren sucht und diesen nicht -- wie Laska -- um einer besseren Lesbarkeit willen modernisiert und manipuliert". (S. XIX) Jetzt ist der kritische Leser gefordert.

Zur Widmung an Haller

Die "Widmung" hat, kurzgefasst, folgende Vorgeschichte: Albrecht (von) Haller (1708-1777), ein bedeutender Mediziner seiner Zeit und Boerhaave-Schüler wie La Mettrie, hatte eine kommentierte Ausgabe von Boerhaaves »Institutiones rei medicae« veröffentlicht. La Mettrie übersetzte diese Ausgabe einschliesslich der Kommentare ins Französische, und obwohl er in der Einleitung Haller als Autor der Kommentare nennt, gibt das Buch einem weniger gründlichen Leser den Eindruck, La Mettrie habe sie selbst verfasst. Hallers Behauptung, La Mettrie habe sich damit eines Plagiats schuldig gemacht, hatte also eine gewisse Berechtigung. Unberechtigt hingegen war ein erneuter Plagiatsvorwurf Hallers, den er, diesmal in noch schärferer Form, in Bezug auf La Mettries »Histoire naturelle de l'âme« (1745) erhob. Hier war der antimaterialistische Haller offensichtlich empört darüber, dass "der aus Frankreich entwichene de la M.", als den er den pseudonymen Autor richtig identifizierte, Erkenntnisse ihres gemeinsamen Lehrers Boerhaave, der selbst ebenfalls kein Materialist war, als Argumente für den Materialismus benutzt. La Mettries anonyme "Widmung" des noch betonter materialistischen und atheistischen Werkes »L'homme machine« an den ihm persönlich gar nicht bekannten, frommen Haller, als dessen Schüler er sich ausgibt, ist nur in zweiter Linie die "Rache" für diese unberechtigte Anschuldigung, die man

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oft nur in ihr geschen hat. In erster Linie verfolgt sie, in der Form der Ironie, ernstere Absichten.

Um die in ihr enthaltene Ironie zu verstehen. muss man allerdings einige Kontextinformationen haben. Haller, den Richard Toellner 1971 als "letzten Universalgelehrten" vorstellte, hatte auch dichterische Ambitionen. Das Gedicht Hallers, das La Mettrie hier nun ostentativ "plagiiert" und zugleich mittels Anzüglichkeiten und ironischen Anspielungen parodiert, ist seine damals weithin bekannt gewesene "Ode an Gessner", auch betitelt "Vergnügen an den Wissenschaften". Haller erriet diesmal den anonymen Autor nicht und zögerte lange mit einer angemessenen Reaktion. Schliesslich, nachdem La Mettries Autorschaft bekanntgeworden war, veröffentlichte er, da er es "Gott, der Religion und sich selbst schuldig" zu sein meinte, eine ausgesprochen feierliche Erklärung, dass er mit dem Verfasser nie etwas zu tun gehabt habe, und dass das ihm zugeeignete Buch "gänzlich meinen Gesinnungen widerstrebt" -- was wohl kaum jemand bezweifelt hatte, da seine Frömmigkeit allbekannt war.

Die polemische Fehde zwischen Haller und La Mettrie nahm noch grössere Ausmasse an (vgl. z.B. Ernst Bergmann: Die Satiren des Herrn Maschine, 1913) und endete erst mit La Mettries Tod. Der vielleicht interessanteste Aspekt der "Widmung" blieb jedoch unbemerkt, bis ihn Vartanian 1960 (a.a.O., pp. 82-89, 201 f) eruierte. Wenn sich nämlich La Mettrie hier als Schüler Hallers bezeichnete, so kann man das zwar als Ironie auffassen, aber wohl kaum als eine besonders subtile. Ihr subtiler Gehalt wird erst offenbar, wenn man weiss, in welcher Hinsicht er hier tatsächlich "Schüler" Hallers war. La Mettrie macht nämlich in der Argumentation des »L'homme machine« ungenierten Gebrauch von Hallers experimentellen Arbeiten zum Problem der muskulären Irritabilität, die dieser, und das ist der Clou, noch gar nicht veröffentlicht hatte. La Mettrie hatte sie, offenbar recht detailliert, durch einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt und benutzte sie sogleich als hochwillkommene Stütze seiner materialistischen Auffassungen, konnte seine Quelle jedoch nicht anders als in der ironisch doppelt verschlüsselten Form nennen. Einen Plagiatsvorwurf erhob Haller diesmal jedenfalls nicht: aus Gründen, die an dieser Stelle, ebenso wie andere an sich interessante Aspekte dieser querelle célèbre,  nicht zu erörtern sind.

Auch die Wahl La Mettries, gerade Hallers Gedicht "Vergnügen an den Wissenschaften" zu parodieren, hat einen erläuterungsbedürftigen Hintergrund. Haller war, wie La Mettrie, ein engagierter Verfechter des Empirismus. Er war jedoch, im Gegensatz zu La Mettrie, ein Paradebeispiel dafür. dass hervorragende Fähigkeiten als empirischer Naturforscher und grosser Glaubenseifer gut in einer Person vereinbar sind, denn er hatte sich, wie La Mettrie bissig bemerkte, "im fünften

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Lebensjahrzehnt noch nicht von den Vorurteilen seiner Kindheit zu befreien vermocht." La Mettrie setzte zwar die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften als Argumente gegen die Religion ein, aber sein Vertrauen auf deren Wirkung war -- angesichts Hallers und vieler anderer hervorragender empirischer Forscher, die religiös bzw. quasi-religiös waren -- nicht so illusionär wie bei vielen späteren Aufklärern. Auch das war ein Grund, weshalb er viel mit Ironie arbeitete. Es zeugt von La Mettries psychologischem Scharfblick, dass er nicht in der Manier üblicher atheistischer Propaganda die Bigotterie Hallers ironisierte, sondern, dessen Person in den Hintergrund verweisend, solche allgemein verbreiteten Vorstellungen wie die einer abgespaltenen "Lust am Studieren" oder einer selbstlosen "Suche nach Wahrheit". Diese direkten Derivate des Glaubens an die "Autonomie des Geistes" waren auch La Mettries "aufgeklärten" Zeitgenossen lieb und teuer, und indem er sie an dem frommen Haller ironisierte, wollte er jenen als seinen eigentlichen Adressaten ihre grundsätzliche Nähe zu diesem bewusst machen. Erfolg hatte er damit nach allem, was wir wissen, nicht in einem einzigen Fall.

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