L S R
ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter


Der folgende Beitrag erschien erstmals in Heft 1/82 der wilhelm-reich-blätter, S. 13-48. Die dort und im Original g e s p e r r t wieder gegebenen Textteile erscheinen hier kursiv.
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Verschollene politische Texte Reichs wieder aufgefunden

Vorbemerkung

Wie im vorangehenden Artikel dargelegt, befand sich Reich 1926/27 in einer ernsthaften persönlichen Krise. Als er aus dieser "Wurstmaschine", wie er es später nannte, herauskam, war er ein veränderter Mensch; er stürzte sich ins politische Leben. Die Ereignisse des 15. Juli 1927 in Wien, von denen er in seinem Buch "People in Trouble" (PT) berichtete, waren der Anlaß für ihn, der KPÖ beizutreten. Mitglied der SPÖ ist er zu der Zeit schon gewesen und auch weiterhin geblieben.

Für Reichs politische Tätigkeit in Wien 1927-30 ist PT die hauptsächliche Quelle. Daß sie nur mit Vorsicht zu verwenden ist, weiß jeder, der die Problematik von Reichs "Vergangenheitsbewältigung" kennt und das deutsche Manuskript des erstmals 1953 in englischer Übersetzung erschienenen Buches gesehen hat. *)

Andere Quellen über diese Zeit Reichs wurden aber bisher kaum erschlossen. Es gibt keinen Fachartikel, keine Diplomarbeit, keine Dissertation, kein Buch, **) worin Aufschluß über die politische Arbeit Reichs in diesen Jahren zu finden wäre. Diesbezügliche Anfragen bei Dr. Helene Maimann vom "Projektteam Geschichte der Arbeiterbewegung" in Wien und bei Prof. Dr. Karl R. Stadler vom "Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung" an der Universität Linz blieben ergebnislos.

Um so mehr war ich erfreut, als ich bei eigenen Nachforschungen, die ich aufgrund eines Hinweises von Prof. Anson G. Rabinbach (Historiker an der University of Princeton, N.J., U.S.A.) anstellte,


*) Anm. 2010: Seither sind zwei Ausgaben dieses großteils 1937 in deutscher Sprache verfassten Buches unter dem Titel "Menschen im Staat" erschienen: 1982 im Nexus-Verlag, Frankfurt/M und 1995 eine weitere, nach dem Originalmanuskript korrigierte im Stroemfeld-Verlag, Frankfurt/M
**) Anm. 2010: Karl Fallends Salzburger Dissertation "Psychoanalyse und Politik im Wien der zwanziger Jahre" (1987) erschien 1988 als Buch unter dem Titel "Wilhelm Reich in Wien" im Verlag Geyer-Edition in Wien/Salzburg.


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fündig geworden bin. Einen Teil meiner Funde möchte ich hiermit der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Die Autorschaft R.s an den anonym gedruckten Artikeln (mit Ausnahme von "Wie wir geführt werden") ist dokumentarisch verbürgt.

Das Ereignis, über das somit näherer Aufschluß gegeben wird, ist Reichs Versuch, eine innerparteiliche Opposition gegen die Führung der SPÖ zu organisieren. Er selbst streift diese Vorgänge in PT nur flüchtig am Ende des 4. Kapitels. Das von ihm gegründete "Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter" existierte nicht länger als von der Gründungsversammlung am 13. Dezember 1929 bis zum 16. Jänner 1930. An diesem Tag wurde Reich, der offiziell im "Komitee" keine Funktion innehatte, aus der SPÖ ausgeschlossen. Seine Mitstreiter, die es offiziell getragen hatten, haben gegen Reich ausgesagt und wurden dafür mit nur geringen Parteistrafen belohnt. Die SPÖ hatte in Reich den Drahtzieher und zudem einen Spalter-Agenten der KPÖ erkannt.

Eine wenigstens einigermaßen richtige Einschätzung von Reichs verzweifelter Aktion im "Hungerwinter 1929/30" (PT, p. 93) ist wohl nur unter Berücksichtigung der damaligen Lebensverhältnisse in Wien möglich. Sehr hilfreich dabei war mir der Katalog zur Ausstellung "Mit uns zieht die neue Zeit -- Arbeiterkultur in Österreich 1918-1934", die letztes Jahr in Wien zu sehen war (Verlag Habarta & Habarta, Postfach 933, A 1011 Wien, ca. 20 DM). (Wiss. Leitung von Ausstellung und Katalogerstellung: Helene Maimann, Karl R. Stadler); Der Katalog ist hervorragend geeignet, um das damalige Lebensgefühl im "Roten Wien" in etwa nachzuempfinden. Daß in der kurzen Notiz über Reich auf S.135 von den drei Aussagen zwei falsch sind, tut dem keinen Abbruch. Er enthält außerdem Literaturhinweise zur Vertiefung in das Thema.

Bernd A. Laska


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Der revolutionäre Sozialdemokrat


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Parteigenossen !

Sozialdemokratische Arbeiter und Arbeiterinnen !

Seit Jahr und Tag wächst in raschem Tempo eine ungeheure Gefahr, welche die österreichische Arbeiterschaft bedroht: das Vordringen des arbeitermörderischen Faschismus. Überfälle auf Arbeiter, systematische Organisierung von Streikbruch, provozierende Aufmärsche, das sind die Marksteine seines Weges, und die Durchsetzung der neuen Verfassung, die als Grundlage für die jederzeitige Aufrichtung der faschistischen Diktatur dienen kann, die Beseitigung der Grundrechte der Arbeiterschaft sind sein erster großer Erfolg.

Aber wie ist eine solch verhängnisvolle Entwicklung möglich geworden? Wie konnte es geschehen, daß im "demokratischen" Österreich, in dem die relativ größte sozialdemokratische Partei der Welt besteht, die noch dazu von Wahl zu Wahl in den letzten Jahren gewachsen ist, der Faschismus immer mehr an Boden gewinnt ?

Seit Jahr und Tag stellen die breiten Massen der Mitglieder unserer Partei sich bange diese Frage, und mit wachsender Besorgnis, mit wachsender Einpörung antworten sie darauf:

die Schuld daran trifft die verhängnisvolle Politik unserer Führung.

Als der Faschismus noch schwach war, stellt sie ihn als völlig harmlos hin, als er anwuchs und zum ersten Male Arbeitermorde beging, betrieb unsere Führung eine Politik der leeren Drohungen und Phrasen, und seitdem die Faschisten offen ihre große politische und wirtschaftliche Offensive gegen die Arbeiterschaft begonnen haben, halten sie das kampfbereite Proletariat vom Kampfe ab. Sie predigt Frieden, Geduld und Abrüstung, sie


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predigt geistige Waffen gegenüber Maschinengewehren.

Durch diese Politik wird der Faschismus entscheidend gestärkt und werden

Schritt für Schritt die wichtigsten Errungenschaften der Arbeiterschaft preisgegeben.

Die Übergabe der Arsenalwaffen an die Reaktion, die Anerkennung der Heimwehrgewerkschaften in Steiermark und nun auch in Stockerau, die Preisgabe des Mieterschutzes, das waren die Hauptetappen dieser Entwicklung, und wer A sagt, muß auch B sagen, wer den Klassengegner nicht bekämpft, ist genötigt, mit ihm Pakte zu schließen, und so ist es zu der Tatsache gekommen, die jeden wirklichen revolutionären Sozialdemokraten auf das tiefste erschüttern muß, die jeden von uns schamrot werden lassen muß, daß

die Verfassung des Faschismus mit den Stimmen unserer Führer angenommen worden ist.

DIESE POLITIK TREIBT UNS DEM ABGRUND ZU.

Von Abrüstung sprechen, während der Klassenfeind immer neue bewaffnete Formationen gegen uns mobilisiert, durch Aufmarschverbote die Arbeiterschaft am Demonstrieren hindern, während der Faschismus die Straße erobert, von Verständigung sprechen, während der Faschismus uns seine Waffe an die Brust setzt, von Wirtschaftsfrieden faseln, während der Feind zu einem noch nie dagewesenen Angriff, zur wirtschaftlichen Niederschlagung der Arbeiterschaft rüstet, diese Politik in so entscheidender Zeit, sie bedeutet krassen Mißbrauch unseres Vertrauens, ja Verrat an den Lebensinteressen der Arbeitermassen.

Wir, die wir seit Jahr und Tag diese Entwicklung sehen, und mit uns die große Mehrheit der ehrlichen revolutionären Arbeiter unserer Partei, ha-


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ben lange mit uns gerungen. Immer wieder haben wir gehofft, daß unsere Führer doch endlich erkennen werden und erkennen müssen, daß sie in eine Sackgasse geraten sind. Immer wieder haben wir geglaubt, sie würden ihre verhängnisvolle Politik ändern. Aber heute ist es klar, diese Hoffnung hat uns betrogen.

Wir haben im Rahmen unserer Partei, im Rahmen unserer Funktionen immer wieder versucht, die warnende Stimme zu erheben, aber unsere Stimme wurde nicht gehört, denn in unserer Partei herrscht kein inneres politisches Leben mehr, keine Rede- und Diskussionsfreiheit.

Die Politik des Parteivorstandes, die er niemals vor den breiten Massen der Mitglieder vertritt und verantwortet, sondern nur vor einem gesiebten Kreise hoher Funktionäre, hat nichts mehr zu tun mit dem revolutionären Kampfwillen der Mitglieder unserer Partei.

SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN!

Dieser Ruf tönt durch die Reihen unserer Partei. Wir wollen endlich die Möglichkeit haben, unserer wahren Meinung Ausdruck zu verleihen, wir wollen endlich die Möglichkeit haben, selbst die notwendigen Kampfbeschlüsse, die die Stunde von uns fordert, zu beraten und durchzuführen. Darum und um die Mobilisierung der Arbeiterschaft gegen den Faschismus zu betreiben, haben wir -- langjährige Parteigenossen und Vertrauensmänner der Partei, des Schutzbundes und der Jugend -- uns zusammengetan als Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter mit dem Ziele,

die Massen unserer Parteimitglieder aufzurütteln zum revolutionären Kampf.

Mobilisierung der Massen zum Kampf gegen Faschismus.


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Bewaffnung der klassenbewußten Arbeiter.

Schaffung von wirklichen revolutionären Selbstschutzformationen in den Betrieben.

Vertreibung der Faschisten aus den Betrieben und offensives Auftreten gegenüber den Faschisten.

Abwehr der faschistischen Wirtschaftsoffensive der Bourgeoisie.

Kampf um die Hebung der Wirtschaftslage der verelendeten Arbeiterschaft, Freiheit der innerparteilichen Kritik, das sind die Hauptpunkte, die wir erkämpfen müssen, und um deren Durchsetzung wollen wir in einheitlicher Front mit allen stehen, die bereit sind, für sie einzutreten.

Schon unsere erste Massenversammlung beim Stalehner hat gezeigt, daß unser Kampfruf den freudigsten Widerhall unserer Parteigenossen gefunden hat. Trotz der Verleumdung von seiten der Bremser, trotz ihrer verzweifelten Versuche, die Versammlung zu verwirren und zu sprengen, ist ihnen dies nicht gelungen. Wir gehen auf diesem Wege kampfesfroh und siegessicher weiter. Wir werden mit einer breitangelegten Versammlungsaktion beginnen und durch unsere Zeitung

"DER REVOLUTIONÄRE SOZIALDEMOKRAT"

die Stimmung der Parteimitglieder zum Ausdruck bringen.

Hinter uns stehen die großen Massen der ehrlichen, kampfbereiten und klassenbewußten Arbeiter unserer Partei, uns gegenüber aber nur ein Klüngel verbürgerlichter Bürokraten, die vergebens die wahre Stimme der Mitglieder unterdrücken wollen.

Der Sieg kann nicht zweifelhaft sein!


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Facsimile eines Plakats zur Ankündigung von "Protest-Massen-Versammlungen" ([nur] für [SPÖ-]Parteimitglieder) am 6. Jänner im Gasthaus Behnert, XX. Bezirk, und am 9. Jänner im Gasthaus Bachlechner, XVI. Bezirk, in denen "Genosse Dr. Reich" "Über die verhängnisvolle Politik unserer Führer" sprechen sollte.


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Unsere "demokratischen" Führer und das undemokratische Bürgertum

Keiner der kritischen Punkte der verhängnisvollen Politik unserer Parteiführung seit 1918 -- nicht einmal der 15. Juli -- war derart geeignet, der proletarischen Mitgliedschaft der Partei die Augen zu öffnen, keiner war so geeignet, einen Proteststurm der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hervorzurufen wie das restlose Umfallen unserer Führer in der Verfassungsfrage. Die dank der faschistischen Maschinengewehre vom Bürgertum durchgesetzte Verfassung bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte der österreichischen Arbeiterschaft, einen Wendepunkt, an dem die schon vorhandene Bewegung zur faschistischen Diktatur mit beschleunigtem Tempo einsetzte.

Die Aufgabe der revolutionären sozialdemokratischen und übrigen Arbeiterschaft ist jetzt zunächst, sich schleunigst über drei Fragen klar zu werden:

1) Was bedeutet die Verfassungsänderung für die Arbeiterschaft?
2) Wie konnte es so weit kommen?
3) Was ist dagegen zu tun?

Die Verfassungsänderung wurde durchgesetzt von einem zu allem entschlossenen, nicht auf dem Boden der Demokratie stehenden Gegner, vom klassenbewußten Bürgertum. Dieser Feind der Arbeiterschaft bedient sich folgender Taktik: "Lieber legal alles durchsetzen", und, wenn es nicht anders geht, stückweise". Wir stellen an unsere Führer die Frage: Welche Garantien gibt es gegen weitere faschistische Vorstöße des Bürgertums? Daß sie "lieber sterben wollen" als


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weiter zurückweichen, haben ihnen unzählige Sozialdemokraten schon das erste Mal nicht geglaubt.

Wir werden noch genau an anderer Stelle gegenüberstellen, was Bauer am Parteitag am 10. Oktober 1929 als unannehmbar hinstellte, was die "Arbeiterzeitung" am 1. September, 20. Oktober und 27. November schrieb -- und was sie alles mitbeschlossen haben, so daß selbst die "Neue Freie Presse" am 4. Dezember verwundert und triumphierend schreiben konnte:

"Wer hätte vor einigen Wochen noch ... an solche Einstimmigkeit glauben können? ... Es ist möglich gewesen, die beiden parlamentarischen Pferde, Majorität und Minorität, an denselben Wagen zu spannen...", es sei zu vermerken, "daß die Opposition den Fortschritt (zum Faschismus! Anm.d.Red.) nicht hemmte... "

Daß es so weit kommen konnte, daß wir heute ein Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten, die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes haben, daß das Wahlalter hinaufgeschraubt wurde und die Wahllisten von der Polizei aufgelegt werden, daß ein reaktionäres Preßgesetz bereits beschlossen wurde und das Antiterrorgesetz sicher durchgehen wird, daß alles rapid dem Abgrunde zusteuert, wenn es die Arbeiterschaft nicht im letzten Augenblick verhindert, haben wir der unglaublichen Tatsache zuzuschreiben, daß unsere Parteiführung -- trotz der Mißerfolge der letzten Jahre -- am Prinzip der Demokratie festhält, angesichts eines nichtdemokratischen Feindes, der ständig zur restlosen Vernichtung der Arbeiterklasse rüstet. Die Arbeiterschaft muß nicht nur klar sehen lernen, daß die demokratische Grundeinstellung unserer Führer falsch ist, sie muß auch begreifen lernen, für welche Art von Demokratie unsere Führer sich einsetzen. Es ist eine bürgerliche Demokratie mit


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kapitalistischem Staatsapparat (Polizei, Wehrmacht usw.), kapitalistischer Ausbeutung, in der in Wirklichkeit von gleichen Rechten keine Rede ist.

Und die gleichen Führer, die dieser Demokratie die Interessen der Arbeiter opfern, die einem schießenden Gegner gegenüber demokratische Kampfmethoden empfehlen, üben gegen uns Diktatur aus; mit Hilfe ihres Vertrauensmännerapparates beherrschen sie die Parteimitglieder und lassen sie nicht zu Worte kommen. Und es muß jeden Sozialdemokraten aufs tiefste empören, wenn die Demokratie des Genossen Seitz so weit geht, daß er lieber "sein Amt niederlegt", als daß er zuläßt, daß man die Faschisten aus den Betrieben drängt. Das führt in gerader Linie zu Methoden eines Zörgiebel, der gegen rechts demokratisch ist, gegen links aber die Gewalt nicht scheut und Arbeiterblut fließen ließ.

Und Genosse Bauer selbst hat auf dem Parteitag zugegeben, daß wir an Zahl, der Gegner aber an Rüstung stärker ist. Die Stimmzettelpolitik hat ein elendes Fiasko erlitten.

Aber der Arbeiter muß noch mehr, und zwar in allerkürzester Zeit, lernen, sofern er es noch nicht weiß. Er muß die Bremstaktik der Führung verstehen lernen als das, was sie ist: als Mittel, die Arbeiterschaft zu verhindern, ihren wahren Willen und ihre geschichtliche Mission durchzuführen. Die Arbeiterschaft ist heute noch stark genug, um mit dem Faschismus fertig zu werden. Je länger sie sich aber von unserer Führung verführen lassen wird, desto mehr müssen unsere Organisationen zersplittern, desto mehr wird die Arbeiterschaft demoralisiert.

Daß der Parteivorstand auf der anderen Seite radikale Phrasen gebraucht, hat seinen guten Sinn. Er weiß ganz genau, daß er vor der Arbeiterschaft


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radikal auftreten muß, sonst rennt sie ohne weitere Auseinandersetzung davon.

Ein großer Teil der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hat das Vertrauen zu dieser Führung bereits völlig verloren, der Rest wird bald folgen. Die sozialdemokratischen Arbeiter sind kampfbereit, aber ihnen fehlt die kampfentschlossene Führung, die dem kampfentschlossenen Klassenfeind gewachsen wäre. Und könnte die Arbeiterschaft selbst die jetzige Führung zum Kämpfen zwingen, wer würde sich mit ruhigem Gemüt einem solchen Führer anvertrauen, der seit Jahren unausgesetzt umfällt, schwankend, unentschlossen ist, ja, sicher gar nicht kämpfen will? Unsere Führer haben trotz ihrer scheinradikalen Phrasen wiederholt bewiesen, daß sie in Wirklichkeit keine Arbeiterführer sind. Und nicht nur die Renner und Seitz, sondern auch die "linken", auch die 0tto Bauer, die sich mit Renner schließlich so gut verstanden.

Es gibt nur eines: Weg mit dieser Führung und ihrer Anhängerschaft unter den Funktionären! Die sozialdemokratische Arbeiterschaft muß in Anbetracht der großen Gefahr, vor der sie unmittelbar steht, eine revolutionäre, zum Kampfe gegen den kampfentschlossenen Feind bereite Führung bilden oder suchen. Hier werden sich noch schwierige Fragen ergeben. Die Geschichte zwingt die Arbeiterschaft zum Kampfe. Sie wird siegen, wenn sie einig sein wird: gegen den Faschismus und gegen die verhängnisvolle Politik unserer Führung!

*


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Die erste Protestversammlung beim Stalehner

Das "Vorbereitende Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter" hatte für den 13. Dezember 1929 eine Massenversammlung in Stalehners Saal in Hernals einberufen, die von ungefähr 1500 überwiegend sozialdemokratischen Arbeitern besucht war. Viele Betriebe aus Ottakring und Hernals waren vertreten, es waren auch Schutzbund und Jugendorganisationen geschlossen erschienen.

Genosse Schurk eröffnete die Versammlung mit einem längeren Bericht über die unhaltbaren Zustände beim Schutzbund, über die Unterdrückung jeder Meinungsäußerung, die nicht im Sinne der Parteiführung ist, und gab einen Überblick über die Entwicklung des Schutzbundes zu einer Prätorianergarde der Partei.

Genosse Hrach sprach dann über die Unzufriedenheit der sozialdemokratischen Mitglieder mit der Parteileitung und betonte, daß das Murren der Massen immer lauter und zum Sturm anwachsen wird.

Genosse Reich gab in seinem Referat einen Bericht über die Verfassungsreform und kritisierte scharf die Verschleierungsmethoden der Parteiführung, die dazu dienen sollen, eine große Niederlage der Partei den Arbeitern als Sieg hinzustellen, nach dem Motto: "Lemberg noch in unserem Besitz!" Er besprach das Fiasko der Demokratie, wies nach, daß man sich selbst das Grab gräbt, wenn man einem zu allem entschlossenen, klassenbewußten, undemokratischen Gegner mit den Waffen des Geistes begegnen will. Am Schluß begründete er die sieben Hauptforderungen des Komitees:


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Kritik- und Redefreiheit in der Partei.

Hinaus mit den Faschisten aus den Betrieben.

Offensiver Kampf gegen die Faschisten.

Aufhebung des Aufmarschverbots.

Keine Abrüstung.

Selbstschutzgruppen in den Betrieben.

Bewaffnung der klassenbewußten Arbeiterschaft.

Die Versammelten folgten allen Ausführungen mit großer Aufmerksamkeit und Zustimmung. Es ist eine Lüge, wenn die "Arbeiter-Zeitung" schrieb, daß während des Referats alle Sozialdemokraten den Saal verließen.

Dann sprachen einige Diskussionsredner für das Komitee. Die Bezirksleitung Ottakring hatte ihre Leute hingeschickt, um die Versammlung zu sprengen. Die für die Parteiführung sprachen, wurden von den erregten Arbeitern niedergeschrien. Daß man sie nicht aussprechen ließ, war zwar begreiflich, aber ein Fehler. Man sollte diese Herren ruhig reden lassen; sie reden sich selbst in den Boden, so wenn zum Beispiel einer sagte: "Wir sind Sozialdemokraten, müssen also auf dem Boden der Demokratie stehen." Man sollte sie sich selbst entlarven lassen.

Das Komitee hatte Genossen Danneberg aufgefordert, in der Versammlung den sozialdemokratischen Arbeitern Rechenschaft abzulegen; er hat es aber vorgezogen, verhindert zu sein.

Der Sprengungsversuch begann damit, daß ein Unterbonze die Sozialdemokraten aufforderte, den Saal zu verlassen. Dem Ruf folgten etwa 50 schon vorher bearbeitete Jugendliche und mehrere alte Genossen, von denen einige später sagten, sie hätten eine Schlägerei befürchtet. Darauf schloß der verwirrte Vorsitzende mißverständlicherweise die Versamm-


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lung. Ein sozialdemokratischer Eisenbahner forderte zur Fortführung der Versammlung auf, die dann auch ruhig und sachlich weitergeführt wurde. Es sprachen dann noch viele Redner, die gegen die Parteiführung Stellung nahmen.

Die "Arbeiter-Zeitung" versuchte natürlich, wie immer, jede oppositionelle Regung als "kommunistisches Manöver" hinzustellen. Vom Hauptreferenten Genossen Reich behauptete sie, daß er schon längere Zeit kommunistische Propaganda betreibe. Das bezieht sich auf einen Vortrag über "Die sexuelle Revolution in Sowjetrußland", den Genosse Reich vor etwa vier Wochen im Ottakringer Arbeiterheim auf Einladung der Bezirksorganisation 16 der Freidenker hielt. Es ist bezeichnend für die Gesinnung unserer Parteiführer, daß sie Renner, der in bürgerlichen Zeitungen vom Wirtschaftsfrieden schwärmt, der mit Faschisten zusammen Versammlungen abhält, nicht als Faschisten oder Bürgerlichen hinstellt, wohl aber es mit den Parteiprinzipien unvereinbar hält, daß ein Parteimitglied über die Sowjetunion wahrheitsgemäß berichtet.

Aber es sei den Parteiführern ernstlich gesagt: Sie sollen es nicht zu weit treiben! Die sozialdemokratische Arbeiterschaft muß und wird sich ihre Demagogie nicht länger gefallen lassen. Die Stalehner -Versammlung war nur ein Anfang. Das Lebensinteresse der Arbeiter fordert unerbittliche Abrechnung.

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Die berühmten fünf Punkte.

Wir wollen an den berühmten fünf Punkten der Verfassungsvorlage, die Otto Bauer als unbedingt unannehmbar hinstellte, zeigen, wie unsere Führer Niederlagen verschleiern. Diese fünf Punkte waren: Kein Wahlrechtsraub, kein Ausnahmszustand, keine Schmälerung der Rechte Wiens, kein Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten, kein Nachgeben in der Schulfrage. Sehen wir nun zu, ob die Führung ihr Versprechen gehalten hat, lieber in den Tod zu gehen, als hier nachzugeben.

1. Der Wahlrechtsraub: Das Wahlalter wurde von 20 auf 21 Jahre hinaufgesetzt. Die Wahllisten werden von der Polizei angelegt. Die "Arbeiter-Zeitung" stellt es als Sieg hin, daß der Ausdruck des Verfassungsentwurfs "geführt" in "angelegt" abgeändert wurde.

2. Der Ausnahmezustand: Laut § 41 des Verfassungsgesetzes hat das Bundesheer das Recht, in "kritischen" Situationen aus eigenem einzugreifen. Bisher bedurfte es der Zustimmung des Landeshauptmannes. Jetzt ist die Möglichkeit einer Militärdiktatur beim geringsten Aufmucken der Arbeiter gegeben.

3. Das Land Wien wird in Finanz-, Bau- und Steuerangelegenheiten vom Bund kontrolliert.

4. Die Schule: Der Unterrichtsminister hat das Kontrollrecht über die Schulen, und die Vorsitzenden der Landesschulbehörden können durch Beschluß der Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof verantwortlich gemacht werden.

5. Das Gefährlichste ist das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten. Vor einem Jahre verlangte Seipel weniger als jetzt durch-


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gesetzt wurde. Er verlangte damals "nur": das Recht, das Parlament zu verabschieden, das Recht, die Minister zu ernennen, direkt vom Volke mit einfacher Majorität gewählt zu werden. Damals hielt man diese Forderungen für lächerliche Hirngespinste eines Seipel. Und heute? Heute hat der Bundespräsident nicht nur alle drei genannten Rechte, sondern eine kleine Draufgabe dazu: das Notverordnungsrecht.

Unsere Führer beruhigen uns und sagen:

a) Es besteht keine Gefahr, denn der Präsident kann nur dann vom Notverordnungsrecht Gebrauch machen, wenn das Parlament nicht tagt und bei höherer Gewalt. Da aber das Parlament jetzt höchstens sechs Monate im Jahr tagt, hat der Bundespräsident sechs Monate im Jahr die Möglichkeit, Gebrauch von seinem Recht zu machen. Ferner braucht nur die Heimwehr zu marschieren oder eine überschwemmung die Reise einiger Abgeordneter nach Wien zu verhindern, und der Fall der höheren Gewalt ist gegeben.

b) Unsere Führer sagen, es bestehe keine Gefahr, denn der Bundespräsident kann die Notverordnung nur mit einem achtgliedrigen Ausschuß beschließen. Sie haben es aber unterlassen, die Arbeiter darüber aufzuklären, daß der Ausschuß mit einfacher Majorität beschließen kann (das Verhältnis ist: fünf Bürgerliche zu drei Sozialdemokraten) und müssen wissen, daß die fünf Bürgerlichen keine Scheu haben werden, im gegebenen Augenblick, etwa an einem zweiten 15. Juli, eine Notverordnung zu beschließen.

c) Im Beruhigen der Arbeiterschaft ebenso tüchtig wie im Packeln mit der faschistischen Regierung sagen unsere Führer ferner, es bestehe keine Gefahr, denn der Bundespräsident könne die Notverordnung nur auf Vorschlag der Regierung erlassen. Unsere Führer haben es aber unterlassen, den Ar-


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beitern zu sagen, daß es ja dieselbe Regierung ist, die der Bundespräsident ernennt, daß es eine faschistische Regierung ist. Unsere Führer werden dann wieder sich bitter über Illoyalität der Regierung beklagen, wenn Vaugoin, Schmitz, Schober und die anderen die Erlassung einer Notverordnung beantragen werden.

d) Unsere Führer sagen ferner, es bestehe keine Gefahr, denn das Notverordnungsgesetz kann dann vom Parlament, welches binnen acht Tagen einberufen werden muß, durch "einfachen Beschluß" außer Kraft gesetzt werden. So verdrehen sie dem Arbeiter den Kopf. Sie sagen ihm nicht die Wahrheit, daß nämlich das Parlament mit einfacher Majorität das Gesetz auch beschließen kann; und selbst wenn das Parlament ablehnt, hat das Gesetz acht Tage lang bestanden, Zeit genug, um die Arbeiter Mores zu lehren. In dieser Zeit können die reaktionärsten Preßgesetze beschlossen, die brutalsten Strafen für politische Vergehen beschlossen werden. Überdies kann der Präsident das Parlament auflösen, wenn es sich nicht fügt.

Wir fragen: Wer hat unseren Führern das Recht gegeben, über die fünf Punkte hinauszugehen?

Wir fragen: Warum haben sie nicht in großen Versammlungen die Meinung der Arbeiterschaft zum Ausdruck kommen lassen?

Wir fragen schließlich: Warum haben unsere Führer nicht nach der Gesetzwerdung der neuen Verfassung in Versammlungen den Arbeitern Bericht erstattet?

Die Antwort lautet: Unsere Führer haben Angst vor den revolutionären Arbeitern und Angst vor den Faschisten. In dieser Zwickmühle befindlich, üben sie den Arbeitern gegenüber Diktatur aus und weichen vor den Faschisten zurück.

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Die Masken fallen !

Wir haben es geduldig lange genug mit angehört: Faschisten? Lächerlich! Wenn es dazu kommt, werden wir sie mit nassen Fetzen verjagen. Dann kam der 7. Oktober: und die Faschisten sind im roten Wiener-Neustadt aufmarschiert. Dann in Wien. Und so ging es weiter. Verfassungsreform? Niemals! "Dies ist unsere Republik!" Und dann hieß es: "Verfassungsreform -- wir werden uns sachlich auseinandersetzen." Und schließlich haben unsere Abgeordneten, unsere Genossen, die wir Sozialdemokraten gewählt haben, für die faschistische Verfassungsreform gestimmt. Im Bosel-"Morgen" verhöhnt noch Genosse Renner in einem "Nachwort zur Verfassungsreform" das österreichische Proletariat.

Jetzt aber ist es genug! Zum Schaden den Spott? So haben wir nicht gewettet, Genosse Renner! Wir lassen uns nicht mit Panzerkreuzern, Konkordat, Steuergeschenken an die Bourgeoisie und den Zörgiebel-Sozialismus prellen.

Hören wir, was Renner, der das Privileg hat, in der bürgerlichen Börsenpresse Liebkind zu sein, schreibt!

Zunächst ein Geständnis: Renner gesteht, daß "wir" -- das heißt nicht "wir sozialdemokratischen Arbeiter", sondern "wir sozialdemokratischen Führer" -- "uns 1918 einfach die Schweiz zum Muster genommen haben". Damals war Renner nicht so offen. Die "Arbeiter-Zeitung" schrieb dazumal:

"Wenn die Bourgeoisie nicht in der demokratischen Republik sich den berechtigten Wünschen der Arbeiterklasse fügen wird, haben wir immer noch Zeit, mit der Diktatur die Konterrevolution zu brechen."


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Jetzt gesteht Renner, daß damals gelogen wurde, denn nicht die sozialistische Republik, sondern die kapitalistische Schweiz war das Vorbild unserer Führer. Und diese Republik hat man uns ein Jahrzehnt lang als die "unsere" angepriesen. Alle Opfer haben wir Arbeiter gebracht, um diese Republik zu schützen. Wir haben nachgegeben und nachgegeben, um "unsere" Republik vor dem Bürgerkrieg zu "bewahren". So haben unsere Führer gepredigt, und wir haben ihnen allzu lange geglaubt. Jetzt wollen sie uns wieder blöd machen: Um "unsere" Republik zu bewahren, haben wir die Verfassungsreform geschluckt. Und jetzt kommt der Hohn der Renner als Dank für unsere schafsmäßige Leichtgläubigkeit:

"Heute aber haben die bürgerlichen Parteien das Wort, die durch die Verfassungsreform die Republik zu der ihren gemacht haben."

Wir haben so lange Opfer für "unsere" Republik gebracht, bis unsere Führer zynisch sagen können: So, jetzt ist es die Republik der Bourgeoisie, die geht nur euch Bourgeois etwas an, ihr habt das Wort!

Um aber das Maß voll zu machen, verspricht Renner, vor den Faschisten auch künftighin zu kapitulieren:

"Die Arbeiterschaft wird als von den Staatsgeschäften ausgeschlossene Partei aus freien Stücken auch nicht einen einzigen Mann dransetzen, eine Bewegung (Renner meint die Heimwehr, d. Red.) aus der Welt zu schaffen, die, wie die Dinge heute liegen, einzig und allein den bürgerlichen Staat, die bürgerliche Wirtschaft, die bürgerlichen Parteien bedroht."

Wieder sollen wir vom Kampf gegen die Faschisten Abstand nehmen. Renner will uns einreden, daß die Faschisten nur das Bürgertum bedrohen, uns Arbei-


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ter aber nicht. Ja, wo leben wir denn? Auf dem Mond? Haben die Heimwehren in St. Lorenzen Bourgeois oder Arbeiter gemordet? Wer wird in den Betrieben von den Heimwehrlern geschädigt und getreten? Die Unternehmer? Nein, wir! Die Arbeiter!

Renner faselt: "Das Proletariat hat sich gegen jede Gewalt gesichert." Ist das Blut von St. Lorenzen verraucht? Kann es schon mit Druckerschwärze verdeckt werden? Wir sind gesichert. Jawohl, wir sind es, wenn wir aus den Ereignissen endlich gelernt haben: Schluß mit dem Burgfrieden! Schluß mit der verfluchten Klassenharmonie, die nur ein leeres Wort ist für den Inhalt: systematische Unterjochung der Arbeiter! Und Renner spürt, wie sich diese Erkenntnis in der Arbeiterschaft den Weg bahnt. Und er beschwört die Bourgeoisie: Macht nicht die Fortsetzung der faschistischen Verfassungsreform, das faschistische Ständesystem, sonst könnten die Arbeiter euch einen Strich durch die Rechnung machen.

"Ein etwas verwickeltes System, das, einmal verwirklicht, geradezu nach dem erlösenden Tage schreien würde, an dem man es zu der bekannten einfachen Formel 'Arbeiter- und Bauernräte' vereinfacht."

Das ist aber bei Renner nicht die Hoffnung des Proletariats. Wir haben gesehen, Renner beschwört die Bourgeoisie: Provoziert die Arbeiter nicht, sonst erwachen sie zuletzt.

Die Masken sind gefallen. Der revolutionäre Sozialdemokrat wird gegen die Faschisten kämpfen. Und es wäre schmerzlich, wenn sich Genossen zwischen uns und die Faschisten stellen würden. Doch einerlei! Die revolutionären Sozialdemokraten stehen unverrückbar auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes, so wie er uns gelehrt wurde von unseren größeren Führern: Marx und Engels.


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Zur Mieterschutzpolitik der Parteiführung.

Das Verhalten der Sozialdemokratie in der jüngst beschlossenen Verfassungsreform ist eine logische Fortsetzung ihres Verhaltens in der Mietenfrage. Erinnern wir uns, welche Stellung unsere Partei seit 1918 zum Mieterschutz eingenommen hat! Mieterschutz, so predigten unsere Führer, ist das einzige Mittel zur Erhaltung der österreichischen Wirtschaft, Mieterschutz ist der stärkste Punkt, von welchem aus der kulturelle Aufstieg der Arbeiterklasse ausgeht, Mieterschutz ist die einzige und wirksame Maßnahme, um den Arbeiter vor der Willkür des Hausherrn, des Zinsgeiers, zu schützen.

Noch im Herbst 1928, als die Regierung Seipel daranging, die erste große Bresche in den Mieterschutz zu schlagen, hat Genosse Otto Bauer auf dem Parteitag in einer langen Rede auseinandergesetzt, daß es für uns Sozialdemokraten eine Diskussion in dieser Frage nicht geben könne, daß die geringfügigste Erhöhung des Mietzinses zugunsten des Hauseigentümers die Gefährdung und schließliche Beseitigung des Mieterschutzes bedeutet. "Keinen Groschen für die Tasche des Hausbesitzers", das waren die Worte unserer Führer und der "A.-Z", und die Masse durfte in Vertrauen auf diese mit viel Pathos verkündete Parole glauben, daß der Mieterschutz für alle Ewigkeit gesichert wäre.

Doch unsere Partei treibt eine doppelte Politik, eine nach innen und die andere nach außen. Ihr Innenminister ist Otto Bauer, seine Mission besteht jedesmal darin, in einem großangelegten, von akademischer Bildung strotzenden Referat die


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Unannehmbarkeit der von den bürgerlichen Parteien gewünschten Änderungen zu verkünden, während ihr Außenminister Danneberg mit der Regierung über die unannehmbaren Forderungen verhandelt, mit ihr einen Pakt schließt, vor der Reichskonferenz die Existenz eines solchen Paktes ableugnet, um schließlich nach allen Regeln der Sophistik der Arbeiterschaft auseinanderzusetzen, daß die Zustimmung zu dieser Gesetzesänderung geradezu im Interesse des Proletariats gelegen ist, daß das neue Gesetz eine Wirtschaftsrettung bedeutet, wobei die Partei und ihre Presse nicht davor zurückscheuen, den Massen plausibel zu machen, daß die Interessen der Wirtschaft (lies: der Kapitalisten) identisch sind mit jenen des Proletariats. So war es bei der Durchlöcherung des Mieterschutzes, genau so bei der Verfassungsänderung.

Worin besteht nun im Bereich des Mieterschutzes die Preisgabe von Interessen der Mieter seitens der Sozialdemokratie, und wann hat dieselbe begonnen? Zweifellos schon im Jahre 1925, als sich die bürgerlichen Parteien geweigert haben, das Anforderungsgesetz zu verlängern. Dieses Gesetz hatte nämlich der Gemeinde Wien die Möglichkeit gegeben, nicht nur alle freiwerdenden Wohnungen, sondern auch einzelne überzählige oder unzulänglich benützte Räume anzufordern und den Bedürftigen zuzuweisen. Mit Hilfe dieses Gesetzes konnte die Gemeinde weiter helfen als die Macht des Mietengesetzes gereicht hat. Was hat die Partei unternommen, um eine Verlängerung dieses bis zum 31. Dezember 1925 befristeten Gesetzes durchzusetzen? Nichts! Sie entschuldigte sich damals damit, daß sie die bürgerlichen Parteien zu einem positiven Tun nicht zwingen könne, während doch dem Anforderungsgesetz durch ein negatives Verhalten der Garaus gemacht wurde. Die Früchte? Nun, der Hausbesitzer wurde Herr einer jeden freiwerdenden Wohnung. Wer am meisten geboten hat, der erhielt sie.


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Diesem Wohnungsschacher hat nun das kampflose Aufgeben des Anforderungsgesetzes seitens unserer Partei Tür und Tor geöffnet, und wenn die Zahler der Ablösen von den sozialdemokratischen Zeitungen, insbesondere vom "Abend", aufgefordert werden, die gezahlten Beträge gerichtlich zurückzufordern, so bedeutet dies das Hineinhetzen in einen aussichtslosen Prozeß.

Aber auch die erste Novelle zum Mietengesetz aus dem Jahre 1925, die mit den Stimmen der Sozialdemokratie angenommen wurde, war ein Gesetz zum ausschließlichen Nutzen und Frommen der Hausherren, und unsere Parteipresse, die den Mieterschutz vor ihren Lesern verewigen will, hat noch mit keinem Worte die verheerende wirtschaftliche Bedeutung dieser Novelle für die Mieter geschildert, ja sie hat sie wohlweislich verschwiegen. Dieses Gesetz bestimmt nämlich, daß Wohnungen, die am 31. Juli 1925 nicht vermietet waren, nicht unter die Bestimmung des Mietengesetzes fallen. Der Proletarier, der mit Frau und Kind auf der Wohnungssuche ist, erfährt im Jahre 1927 von einer Wohnung, die durch den Tod der bisherigen Mieterin freigeworden ist. Er begibt sich zum Hauseigentümer, dieser nennt ihm eine Ablösesumme von 1500 Schilling und mit Hilfe von Bekannten und Vermittlern bringt er diese Summe auf und erhält die Wohnung. Aber niemals wird er durch einen Prozeß seine Ablösesumme zurückbekommen und mit Hilfe eines Drehs mit einem Mietvertrag kann ihm womöglich noch nach Ablauf desselben seine gekaufte Wohnung gestohlen werden.

Solche Beispiele von betrogenen und geprellten Mietern gibt es ungezählte, und es sei noch eines Tricks erwähnt, dessen sich Hausherren bedienen, um sich in den Besitz von Ablösen zu setzen. Der Hauseigentümer beabsichtigt, das Haus, in dem er eine Wohnung bewohnt, zu verkaufen. Bevor er es tut, verschachert er seine eigene Wohnung, nimmt


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die Ablöse in Empfang, der blechende Mieter zieht in die Wohnung, läßt sie schön herrichten und freut sich, endlich ein Dach gefunden zu haben. Kaum wird das Haus verkauft, kündigt nun der neue Hauseigentümer die Wohnung mit der Begründung, die aufgekündigte Wohnung war am 1. Juli 1925 Hausherrenwohnung gewesen, und der Kündigung ist ein sicherer Erfolg beschieden.

Das sind nun die Folgen des sang- und klanglosen Aufgebens des Anforderungsgesetzes und der Schaffung der ersten Novelle zum Mietengesetz aus dem Jahre 1925, an welcher unsere Abgeordneten aktiv mitgearbeitet haben und die den Hausbesitzern ungeheure Profite und Machtfülle eingebracht haben, den Mietern ebensoviel Leid und Kummer. Tatsachen, die unsere Parteipresse geflissentlich verschwiegen hat.

Von den noch segensreicheren Folgen des Abbaues am Mieterschutz im Jahre 1929 wird in einem zweiten Artikel die Rede sein.

*


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Wie wir geführt werden

(Erlebnisse eines Schutzbündlers)

Am 15.Juli 1927

Am 15. Juli vormittags holte mich ein Genosse ab: "In der Stadt wird auf uns geschossen und der Schutzbund wird mobilisiert" -- sagte er; mit meiner Abteilung marschierte ich uniformiert in die Stadt. Uns wurde der Platz auf der Rückseite des Parlaments angewiesen. Aber statt daß wir unseren bedrohten Genossen zu Hilfe gekommen wären, kommandierte uns unser Führer planlos herum, weil er vor Angst ganz den Kopf verloren hatte. Um dreiviertel 12 Uhr hatten die unbewaffneten Arbeiter endlich den Justizpalast von Polizisten befreit und der Brand begann. In diesem kritischen Augenblick bekamen wir auf ausdrücklichen Wunsch von Dr. Otto Bauer den Befehl -- den Amerlingplatz abzusperren (!). Bauer hielt an die Masse eine "beruhigende" Ansprache und versuchte mit allen Mitteln zu bremsen, aber es nützte nichts. Um halb 2 Uhr hörten wir das Salvenfeuer der Polizei gegen die unbewaffneten Arbeitermassen. Die Menge verlangte von uns, wir sollten sie gegen die schießenden Polizisten schützen -- aber wir hatten selbst keine Waffen, denn die Arsenalwaffen hatten unsere Führer ja freiwillig ausgeliefert. So mußten wir erbittert mit leeren Händen selbst Deckung suchen und konnten nicht helfen.

Am nächsten Tage wurde ich verhaftet und unter der Anschuldigung von Mord und Plünderung sechs Wochen lang grundlos in Haft gehalten. So nützte das Bürgertum die Niederlage aus, die wir durch die Feigheit unserer Führer erlitten hatten.


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In Mödling am 29. September 1929

Unsere Abteilung fuhr um 4 Uhr nachmittags nach Mödling. Beim Linienamt stand Polizei und untersuchte in provozierender Absicht unsere Rucksäcke. In meinem Waggon wurde ein Revolver gefunden (aber Faschisten gehen mit offenen Revolvertaschen spazieren). Ein Kommissär ließ uns alle aussteigen, und wir wurden einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen. Einer von uns fehlte --.sie wollten ihn zurückhalten. Als dies ein Genosse unserem Führer sagte, schrie dieser ihn an, er solle schauen, daß er hineinkommt, das gehe ihn nichts an. Dann gab er den Befehl zur Abfahrt, aber wir murrten und wollten nicht weiterfahren. Wir wollten Kehrteuch machen und unseren Kollegen herausholen. Aber unser feiner Kommandant hatte Angst vor dem hakenkreuzlerischen Kommissär und redete uns ein, der Genosse wird schon nachkommen. Erst in Mödling warteten wir und tatsächlich kam er uns nach, weil man ihm gar nichts hatte nachweisen können. Wenn es aber auf unseren Führer angekommen wäre, so hätten wir unseren Kollegen schmählich im Stich gelassen!


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Genosse Leuthner plaudert aus der Schule.

In der zweiten Dezemberwoche fanden zwei Versammlungen der sozialdemokratischen Hochschüler statt, in denen der Abgeordnete Karl Leuthner sprach. In der ersten, am 9. Dezember, sagte er u.a.:

"Die österreichischen Arbeiter werden ihr Machtgefühl noch stark verringern müssen, bis es ihren Gegnern erträglich scheinen wird.

Dies sage ich vor Ihnen als Intellektuellen und geeichten Sozialisten. Vor anderen Zuhörern würde ich anders sprechen."

Interessantes Selbstbekenntnis. Vor Arbeitern also hätte Genosse Leuthner anders gesprochen. Wie er sich rühmte, es bei einer der großen Protestversammlungen der sozialdemokratischen Partei gegen die Heimwehr getan zu haben. Die anwesenden Studenten nahmen diese Äußerung Leuthners widerspruchslos hin. Werden es sich aber auch die sozialdemokratischen Arbeiter, die ihren Führern nur aufs Maul sehen und nicht auf die Hände, gefallen lassen? Sie müssen es sich gefallen lassen, denn Leuthner sagte:

"Die radikalen Elemente müssen heraus aus der sozialdemokratischen Partei. Die bedeuten nur eine Gefahr für sie. Die sollen nur zu den Kommunisten gehen!"

Und wenn sie, wie unser Provis[orisches] Komitee, den Kommunisten fern stehen, so werden sie dennoch von der "Arbeiter-Zeitung" als Kommunisten bezeichnet, um die ganze oppositionelle Bewegung im Keime zu ersticken.

In einem Aufwaschen sprach Leuthner auch von den "veralteten Werken" von Marx und Engels, "die man


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vergessen müsse", und daß sich bei Marx nie ernstlich die Idee von der proletarischen Diktatur finde, sie wäre höchstens als Schlagwort gebraucht worden.

Leuthner sprach auch von der Demokratisierung der Verwaltung in Deutschland als einem Verdienst der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In Deutschland gebe es soundso viel sozialdemokratische Landräte, Polizeipräsidenten, Regierungspräsidenten (zum Beispiel Noske, den er aber nicht nannte). Demokratisierung: das heißt, daß der kaiserliche Polizeipräsident die Berliner Maidemonstration nicht verbieten konnte, der Sozialdemokrat Zörgiebel es aber tun konnte und dafür von der Presse der ganzen Zweiten Internationale belobt wurde. Da kann Leuthner natürlich auch nicht fehlen. Er sprach vom österreichischen "Exportradikalismus".

In einer zweiten Versammlung vor sozialistischen Studenten, die am 13. Dezember im "Alten Rathaus" stattfand, sprach Leuthner von der "Aussichtslosigkeit, das Endziel zu erreichen". Mit solchen Führern wie Leuthner scheint die Sache freilich aussichtslos zu sein. Übrigens: Warum kämpft Leuthner für eine aussichtslose Sache? Es hat doch keinen Sinn, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, wenn man fest davon überzeugt ist, die Wand wäre ein Berg. Wir möchten dem Herrn "Genossen" Leuthner raten, sich doch lieber mit ästhetischen, besonders mit sprachlichen Problemen zu befassen; es wäre besser für uns und für ihn.

Er kam auch auf die letzten Krawalle an den Hochschulen zu sprechen. Aber er drohte den Hakingern nicht etwa, daß der Schutzbund in der Universität Ordnung schaffen würde -- nein: er beklagte sich bitter, daß man uns "beschimpft, weil wir nicht national sind". Die österreichischen Arbeiter-


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studenten werden hoffentlich andere Ansichten haben als Leuthner. Ihnen steht der französische, der italienische, der polnische Arbeiter näher als irgend ein vertrotteltes Bürgersöhnchen, der zufällig die gleiche Sprache spricht wie sie.

Später sprach er noch einen Satz aus, der wert ist, am 1. Mai das Motto der "Arbeiter-Zeitung" zu bilden: "Auch bei uns (nämlich in der Partei) gibt es Feste, die man feiert, nicht weil man den Willen hat, sondern um den Schein zu wahren."

Österreichische Arbeiter! Wenn euch die Faschisten noch einmal erlauben werden, den 1.Mai durch einen Aufmarsch zu feiern, dann denkt an diese Worte eures Führers. Und wenn ihr immer an sie denken werdet, dann wird er nicht mehr euer Führer bleiben können.

*

Verjagt die Faschisten
aus den Betrieben !


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Genossen und Genossinnen !

Wir haben es zuwege gebracht, allen entschlossenen und kampfgewillten Proletariern mit dem "Revolutionären Sozialdemokraten" das langentbehrte Organ zu schaffen, das nun nicht mehr verstummen wird. Der "Revolutionäre Sozialdemokrat" gibt allen Genossen, welchen die innerparteiliche Diktatur jede Möglichkeit der Kritik raubte, Gelegenheit zur freien Meinungsäußerung und zur Diskussion aller Fragen, die heute jeden klassenbewußten Sozialdemokraten beschäftigen müssen. Wir wollen und werden das Sprachrohr aller jener sein, die die verhängnisvolle Politik des verbürgerlichten Parteivorstands durchschauen und entschlossen sind, ihrer revolutionären Überzeugung Ausdruck zu verleihen und diese gegen jede Gewalt und gegen jeden Einschüchterungsversuch durchzusetzen. Genossen, unterstützt bei diesem Kampf eure Zeitung, den "Revolutionären Sozialdemokraten" ! Spendet für unseren Pressefonds !


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Anhang: Pressekommentare

DIE ROTE FAHNE
Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (Sektion der Kommunistischen Internationale),
12. Jahrgang, Nr. 296
Wien, Samstag, 14.Dezember 1929

Die Titelseite bringt einen ausführlichen Bericht über die Versammlung am 13. Dezember. Schlagzeile:

Massensturm gegen den SP-Verrat hat begonnen
SOZIALDEMOKRATISCHE ARBEITER GEGEN DEN VERRAT
1500 sozialdemokratische Arbeiter protestieren in öffentlicher Massenversammlung gegen den Verrat der sozialfaschistischen Führer -- Bildung eines Komitees revolutionärer Arbeiter -- Sprengungsversuche der Agenten des Parteivorstands

Der Massensturm unter den sozialdemokratischen Arbeitern gegen den Verrat der sozialdemokratischen Führer hat begonnen!

In Stalehners großem Saal fand gestern eine von 1500 sozialdemokratischen Arbeitern besuchte öffentliche

Protestversammlung

gegen die beschlossene Diktaturverfassung und den Verrat der Sozialdemokratie statt, einberufen vom Vorbereitenden Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter.

Die Tatsache dieser Versammlung ist von ungeheurer Bedeutung. Diese große öffentliche, stürmische Protestversammlung sozialdemokratischer Arbeiter gegen den Verrat der sozialdemokratischen Führer, einberufen von einem Komitee sozialdemokratischer Arbeiterfunktionäre, noch dazu in einem der größten Arbeiterbezirke, steht beispiellos in der Geschichte der letzten Jahre da. Sie


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beweist, daß der schändliche sozialfaschistische Verrat der Sozialdemokratie unter den Massen eine ungeheure Erregung auslöst, und diese wächst, je mehr die Tatsachen bekannt werden. Wie der Schutzbundfunktionär Gen. Hrach vom Präsidiumstisch aus erklärte:

"Überall in der Partei hört man ein leises, wortloses Murren, das mit der Zeit zum Sturm wächst. Diesem Murren wollen wir Ausdruck geben!"

Und der Vorsitzende der Versammlung, Schurk, gewesener Obmann des Schutzbundes vom 16. Bezirk, teilte mit, daß diese Versammlung die erste einer ganzen Reihe von gleichen öffentlichen Massenversammlungen revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter in den Wiener Arbeiterbezirken und auch in der Provinz darstellt.

[Es folgt ein ausführlicher Bericht über die Versammlung, der mit dem folgenden Absatz schließt]

EIN STURMSIGNAL!

Wir werden auf die politische Bedeutung dieser Versammlung noch eingehend zurückkommen. Sie stellt ein Signal für den in den Massen heraufziehenden Sturm dar. Die Versammlung zeigte zwar noch alle Schwächen und Halbheiten der revolutionären Opposition in der SP, aber gleichzeitig auch, daß viele Arbeiter bereits sogar über diese Halbheiten hinweggehen und entschlossen und bewußt den wahrhaft revolutionären Weg gehen.

Die Abrechnung der Arbeiter mit den sozialfaschistischen Verrätern beginnt!

*


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ARBEITER-ZEITUNG
Organ der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
Nr. 346
Wien, Sonntag, 15. Dezember 1929

Die Zeitung bringt, mit einem Tag Verzögerung und unter der Rubrik "Tagesneuigkeiten" auf Seite 5, nach Kuriositäten wie "Jonas, der Walfisch und die amerikanische Wissenschaft" und "Aus einer gräflichen Familie", folgende Notiz:

Ein kommunistisches Manöver mißglückt

Unter der Firma eines "Komitees revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter" versuchte Freitag abend die aus dem Warchalowski-Betrieb hinausgeworfene Kommunistische Partei in Ottakring und in Hernals wieder Fuß zu fassen. Mit Plakaten und Flugblättern warb das pseudonyme Komitee die Arbeiter von Ottakring und Hernals zu einer Versammlung, um Abrechnung mit den Sozialdemokraten zu halten, weil sie die Verfassung "preisgaben", statt die Diktatur des Proletariats im Verfassungswege durchzuführen. Dem unter sozialdemokrätischer Maske operierenden Komitee ist tatsächlich eine erhebliche Anzahl Sozialdemokraten aufgesessen. Als sie den Irrtum gewahr wurden und aus dem Phrasengewäsch des Referenten -- eines Herrn Dr.Wilhelm Reich, der schon seit einiger Zeit unter sozialdemokratischer Flagge kommunistische Agitation betreibt -- erkannten, daß sie einer echten kommunistischen Mache Staffage bilden, verließen sie den Saal. Daraufhin schloß das "Komitee" die Versammlung, die kurz darauf von einigen nicht mehr unter sozialdemokratischer Maske arbeitenden Kommunisten wieder eröffnet und nach den Weisungen der nunmehr im fast leeren Saale anwesenden Mitglieder des KP-Vorstandes, der Herren Richard Schüller und Benedikt, fortgesetzt wurde. Da anzunehmen ist, daß die kommunistischen Schwindler auch in anderen Bezirken dieses Manöver mit dem "revolutionären Komitee sozialdemokratischer Arbeiter" wiederholen werden, soll vor diesen Leuten gewarnt werden.


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DIE ROTE FAHNE vom 17. Dezember 1929 schreibt:

BEGREIFLICHER ÄRGER DER "ARBEITER-ZEITUNG"

Die öffentliche Massenversammlung ... ist der "Arbeiter-Zeitung" ganz gehörig in die Knochen gefahren. [...] Sie ist natürlich schnell damit bei der Hand, die ... Versammlung als "kommunistisches Manöver" zu "entlarven". [...] In Wirklichkeit hatte die Kommunistische Partei mit der Organisierung dieser Versammlung gar nichts zu tun, entsandte zu ihr selbstverständlich jedoch einen Redner, damit er in der Diskussion den Standpunkt der KP darlege. [ ... ] Als Kommunisten haben wir auch allen Anlaß, dieses "Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter" wegen seiner schwankenden Haltung, seiner Halbheiten und seiner verderblichen Illusionen über die Möglichkeit einer Änderung der SP zu kritisieren und haben dies auch ausgiebig besorgt. Trotzdem aber ist diese Versammlung ein Signal für den Sturm, der in den sozialdemokratischen Arbeitermassen gegen den sozialfaschistischen Verrat einsetzt, und wurde als solches von uns begrüßt, während sie die "Arbeiter-Zeitung" begreif licherweise in Ärger und Schrecken versetzt. Dies umsomehr, als auch die "A.-Z. " nicht ihren Massenbesuch leugnen kann ... und in der Versammlung selbst zum Ausdruck kam, daß viele sozialdemokratische Arbeiter bereits sogar über die Schwankungen und Halbheiten dieses oppositionellen Komitees hinausgehen und für eine wirklich revolutionäre Politik eintreten, sich also derart der Kommunistischen Partei immer mehr annähern.

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DIE ROTE FAHNE vom 7. Jänner 1930 schreibt:

DIE ARBEITEROPPOSITION IN DER SOZIALDEMOKRATIE WÄCHST
Versammlungen in Brigittenau und Favoriten

Seit der Versammlung beim Stalehner, die vor einiger Zeit von dem neugebildeten Komitee revolutionärer Sozialdemokraten einberufen war, war in der Öffentlichkeit von der Entwicklung dieser Arbeiteropposition nichts bekannt geworden. Nun hat man den Grund dafür erfahren: das Komitee führt vorläufig, so entnimmt man der bereits erschienenen ersten Nummer der Zeitung des Komitees "Der Revolutionäre Sozialdemokrat" Versammlungen durch, die nur sozialdemokratischen Parteimitgliedern zugänglich sind. Vorige Woche hat eine in Favoriten in den Eichensälen stattgefunden und gestern war eine in der Brigittenau bei Behnert.

Von Genossen, denen es gelungen ist, trotz des Mitgliedsbuchzwanges den Versammlungen beizuwohnen, erfahren wir über den Verlauf folgende Einzelheiten:

Die Favoritner Versammlung war ziemlich gut besucht; über zweihundert Arbeiter waren erschienen. Es referierte Dr. Wilhelm Reich. [ ... ]

Weitaus stürmischer verlief die gestrige Versammlung in der Brigittenau. Auch dort referierte Dr. Reich. [ ... ]

DIE ROTE FAHNE vom 12. Jänner 1930
bringt einen langen Artikel mit Auszügen aus der Zeitung "Der Revolutionäre Sozialdemokrat" (Nr.1)

Darin wird die Kritik, die schon am 17.12. geäußert wurde, ausführlicher dargestellt und prophezeit: "...jede Opposition, die glaubt, innerhalb der Partei Remedur schaffen zu können, wird vom Parteiapparat erdrosselt, erschlagen, zertreten werden." -- was am 16. Jänner durch das Parteiverfahren gegen Reich, Hrach und Schurk bestätigt wurde.

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