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Der folgende Artikel erschien zuerst in:
Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 4 (12), 3. November 2000, S. 5-16

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Von Stirner zu Kant: Gerhard Lehmann

von Bernd A. Laska


Bild Gerhard Lehmann

in memoriam:10.7.1900-18.4.1987


Der Stirnerbund
Ambivalenz gegenüber Stirner
Suche nach "Überwindern" Stirners
Abschied von Stirner
Wendung zu Kant
Letzte Worte über Stirner
Allerletzte Worte über Stirner
Abschliessender Exkurs
Anmerkungen
Bibliographie
(Schriften von Lehmann)
(Schriften über Lehmann)
(Schriften zum Abschliessenden Exkurs)

Als Mitte Oktober des Jahres 1844 Max Stirners Buch »Der Einzige und sein Eigentum« erschien, rief es bei einigen seiner bedeutsameren Adressaten spontan Begeisterung hervor. Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge, Friedrich Engels, sie äusserten sich geradezu enthusiastisch über das "sehr geistreiche Buch" des "genialsten und freiesten Schriftstellers" der Zeit. Aber - und das verrät am deutlichsten ihre ambivalente Haltung - sie taten dies nur privatim, in Briefen an Freunde oder Verwandte. Öffentlich wandten sie sich mehr oder weniger heftig gegen den »Einzigen« oder fanden es klüger, zu schweigen (Marx). Wie immer die vormärzliche Diskussion um den »Einzigen« zu bewerten ist, eines ist unbestreitbar: Es gab nicht einen Autor, der sich klar auf Stirners Seite stellte, nicht einen "Stirnerianer".

Stirnerianer bzw. Autoren, die Stirner als einen wichtigen oder gar ihren wichtigsten geistigen Einfluss nannten, gab es erst, nachdem Stirner in den 1890er Jahren aus jahrzehntelanger Vergessenheit geholt worden war. Diese erste "Wiederentdeckung" Stirners wurde merkwürdigerweise von ausgemachten Gegnern Stirners (Friedrich Engels, Eduard von Hartmann, Paul Lauterbach) angeregt bzw. forciert, aus rein polemischen Gründen (1); sie wurde jedoch massgeblich betrieben von einem, dem solche Gründe fernlagen, der vielmehr in mühsamer Arbeit Stirners Biographie erforschte (1898, 1910, 1914) und Stirners »Kleinere Schriften« (1898, 1914) herausgab: von dem deutschen Dichter John Henry Mackay (1864-1933), der wohl der bis dato bekannteste Stirnerianer ist.

Um Mackay sammelte sich im Lauf der Jahre ein Kreis von Männern, die sich "individualistische Anarchisten" nannten - nicht "Stirnerianer": zum einen, weil sie ihrem Selbstverständnis nach niemandes, auch nicht Stirners, Jünger sein wollten; zum anderen, weil sie meinten, Stirners "Lehre" weiterentwickelt zu haben, jeder freilich auf "eigene" Weise. »Der Eigene« war denn auch der offenbar von Stirners Schriften inspirierte Titel einer Zeitschrift, die ein junger Mann namens Adolf Brand (1874-1945) im Jahre 1896 gründete.

Doch »Der Eigene« wandelte sich schnell von der ersten Stirner-Zeitschrift zur "ersten Homosexuellen-Zeitschrift der Welt". (2) Nur im ersten Jahrgang erschienen einige Artikel zu Stirner; in den weiteren Jahren, bis 1933, spielte Stirner in ihr keine Rolle mehr. Mackay publizierte zwar zeitweilig (1905-1906) im »Eigenen«, aber nichts zu Stirner, sondern - unter seinem Pseudonym "Sagitta" - Gedichte, in denen er die von ihm so genannte "namenlose Liebe" (von Männern zu Knaben) besang. Ein anderer Stirnerianer, Ewald Tscheck (pseud. St. Ch. Waldecke, 1895-?), schrieb in den 20er Jahren viel im »Eigenen«, doch ebenfalls nicht über Stirner, sondern einschlägige Artikel wie z.B. die Reihe »Kritische Variationen über Individualismus und Freundesliebe«.

Die personelle Verflechtung dieses frühen Stirnerianismus mit dem frühen, vorwiegend von Homosexuellen unter starkem gesellschaftlichen Druck betriebenen Sexualreformismus muss hier nicht näher beschrieben werden. Sie ist nur aus dem Grunde zu erwähnen, weil aus ihr - zumindest teilweise - erklärlich wird, warum Mackay und seine Anhänger Stirners grosse Vision eines Zeitalters der "Eigner" - des wirklichen Ausgangs des Menschen aus der Unmündigkeit - zu einem sogenannten "Individualanarchismus" niedertransformierten, zu einem extremen Liberalismus nordamerikanischer Provenienz (Jefferson, Tucker u.a.), der im Grunde nur die "gleiche Freiheit Aller" einfordert - nota bene:  aller Erwachsenen - und nicht in Betracht zieht, wie diese eben so, wie sie in der Regel sind, nämlich freiheitsunfähig, geworden sind. (3)

Neben Mackay traten in jener "ersten Stirner-Renaissance", die das letzte Jahrzehnt des 19. und drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umfasste, noch einige weitere Autoren auf den Plan, die sich, mit Mackay oder gegen ihn, für Stirner einsetzten. Anselm Ruest (Pseudonym für Ernst Samuel, 1878-1943) brachte im Stirnerjahr 1906 (Stirner lebte 1806-1856) ein

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grösseres Stirnerbuch sowie ein »Stirner-Brevier« heraus und gründete 1919 die Zeitschrift »Der Einzige«, die sporadisch bis 1925 erschien. Rolf Engert (1889-1962), der eine Reihe von Artikeln und kleineren Schriften zu Stirner verfasste, setzte sich vor allem für eine Fusion der Ideen Stirners mit denen des "Freiwirtschaftlers" Silvio Gesell (1862-1930) ein. Hans Sveistrup (1889-1946) versuchte in einer gelehrten Schrift über »Stirners drei Egoismen« (1932) begriffliche Klarheit zu schaffen. Und Klarheit über Stirner wollte schliesslich auch der jüngste der damaligen Stirnerianer schaffen: Gerhard Lehmann (1900-1987), der in seinem ersten einschlägigen Artikel 1919 stolz anmerkte, er gehöre "einem akademischen Kreise durch Stirner mündig Gewordener an, der sich bereits 1915 gebildet hat." (4)


Der Stirnerbund

Dieser studentische Kreis, dem Lehmann sich vermutlich schon als Gymnasiast angeschlossen hatte, nannte sich »Stirnerbund«. Er wollte sich im März 1919 mit anderen Stirnerianern zu einer »Gesellschaft der tragischen Kultur« (5) konstituieren und die im Januar 1919 von Anselm Ruest und Mynona (d.s. Ernst Samuel und Salomo Friedlaender) gegründete Zeitschrift »Der Einzige« zu deren Organ machen. Schliesslich wurde im April 1919 die »Gesellschaft für individualistische Kultur (Stirnerbund)« gegründet, und als ihre erste Mitteilung in »Der Einzige« erschien eine Art Satzung der Gruppe, unterzeichnet von Gerhard Lehmann. (6)

Die erste öffentliche Veranstaltung der Gesellschaft war ein Vortrags- und Diskussionsabend vor Studenten der Berliner Universität am 11. April 1919. Den zweiten von zwei Vorträgen hielt Lehmann: ein kurzer Aufruf »An die Studenten!« -- eine veritable Publikumsbeschimpfung. (7) In »Der Einzige« wurde umgehend darüber berichtet: "Schwereres Geschütz fuhr Herrn Lehmanns Vortrag über die studentische Herdengesinnung auf. Schule, Erziehung, Militär stempeln den Studenten zum Herdentier für die Viehställe Staat und Kirche, hinter denen in unerreichbarer Höhe die Moral thront, die Moral des Nivellierens..." usw. Emil Kauder, der Referent und Mitstirnerbündler, macht gegen Lehmann geltend: "Nicht die verkehrte Weltordnung hat den Willen zur Einzigkeit zertreten, der Wille zum Ich war nicht vorhanden." Und er schliesst resignativ: "Unser Ziel versteht man noch nicht: die Revolutionierung aller Glaubensformen; daraus die Selbstformung des Ideenkosmos in jedem Einzelnen, der dadurch ein Einziger wird. Keinen neuen Kollektivglauben." (8)

Wenig später, am 19. Mai 1919, veranstaltete die Gesellschaft einen Vortragsabend für ein breiteres Publikum. Hier sprachen Lehmann (»Die vierfache Wurzel des modernen Individualismus«), Ruest/Samuel (»Die dritte Weltepoche«), Mynona/Friedlaender (»Grotesken vom Willen und vom Ich«) und Benedict Lachmann (»Der individualistische Anarchismus«). Lehmann richtete zusätzlich »Programmatische Schlussworte« an die Zuhörer. Auch diese Ansprache des 19-jährigen Lehmann hatte über Strecken den Charakter einer Publikumsbeschimpfung. Er hebt an: "Meine Damen und Herren! Sie haben Anschauungen vernommen, die durchaus nicht in allen Punkten gleiche waren. Sie haben vielleicht daran Anstoss genommen und erwarten nun eine Richtigstellung, eine Ausgleichung der Gegensätze, eine Evangelienharmonie, kurz, Sie erwarten einen recht gefälligen Abschluss. - Das Ganze sei doch als eine Kundgebung zu denken, man müsse doch wissen, woran man sei, wem man denn nun endlich zu glauben habe. - Mit Verlaub, man hat überhaupt nicht zu glauben ... Wer da meint, es genüge, einem Anarchisten, einem Individualisten oder irgendeinem sonstigen Schablonenmenschen zu glauben, der möge in Verwirrung geraten! Wer da meint, im Herdentrott ginge er sicher, der möge stolpern und am besten sich das Genick brechen! Wenn das erreicht ist, dann ist der Zweck unserer heutigen Veranstaltung erreicht." - Es folgt dennoch eine Explikation dessen, was unter individualistischer Kultur zu verstehen sei; bemerkenswert an dieser ist, dass zwar Fichte, Schopenhauer und Bahnsen - und "Gott" sogar zweimal - vorkommen, Stirner jedoch nicht. Schliesslich wetterte Lehmann noch einmal gegen "diese Menschen von heute und gestern, diese schleimig-schmutzigen Spiesser [und] ihre Gemeinschaften, vom Kegelklub angefangen bis zur Parteiorganisation,

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vom Abstinenzverein bis zur studentischen Verbindung mit Band, bunter Mütze und Kuhglocke, vom kirchlichen Erbauungs-, alias Bibelkränzchen bis zum freireligiösen Kartell, Bund der Konfessionslosen etc., alles erstickend in einem Wust von stickigen Phrasen..." (9)

Kein Zweifel: Lehmann war damals ein sehr zorniger junger Mann, der sich nirgends zugehörig fühlte, auch nicht den Individualisten/Anarchisten, die er, wie zitiert, beiläufig auch zu den Schablonenmenschen zählte. Aber er hatte auch einen scharfen Verstand, der ihm wohl sagte, dass das, was er selbst damals seinen Zuhörern vorlegte, noch recht phrasenhaft war - wie etwa die letzten seiner "programmatischen Schlussworte": "Wenn Ihnen das noch nicht genug sein sollte..., wenn Sie durchaus ein absolutes Ziel wünschen, nun wohl: - Wir erstreben eine Erneuerung des ganzen gesellschaftlichen und politischen Lebens, eine Erneuerung, die von dem Element des Staates und der Gesellschaft, vom Ich ausgehen und auf das Ich letzten Endes hinausgehen muss: das nennen wir individualistische Kultur!" (10) Seine eigene Phrasendrescherei konnte ihm nicht verborgen geblieben sein.

Bevor Lehmann daran ging, (sich) hier mehr Klarheit zu verschaffen, richtete er noch "Ein offenes Wort an die 'individualistischen Anarchisten' zur Aufklärung." Er wendet sich darin ausdrücklich nur an die "Eingeweihten", so deren Sorge um die "Einheit" der "Bewegung" ironisierend. Und dieses geheime offene, gleichwohl in »Der Einzige« publizierte Wort geriet ihm zu seiner schärfsten Publikumsbeschimpfung. Die Anarchisten, so hebt er an, sie wollten stets nur alles Mögliche abschaffen, abschaffen, abschaffen. "Bon", hält er ihnen entgegen, "schafft soviel ab wie ihr wollt, aber sagt mir bitte ganz klar und deutlich: Wollt ihr den Menschen, so wie er augenblicklich aussieht, schlotternd vor Angst um seine Profite, nicht Engel, nicht Teufel, nicht Fisch, nicht Fleisch, nach unten tretend, nach oben betend, wollt ihr diesen Menschen, egoistisch, gläubig, muffig, Herz auf der Zunge und an der Stelle des Herzens den Magen, wollt ihr diesen Menschen, wie er ist, bestehen lassen? ...ja oder nein? [...] Nein, meine Herren, es geht nicht ohne die 'ideale Forderung'!" - Später greift er das Problem der unter Anarchisten weit verbreiteten Denkabstinenz auf: "Ich weiss, dass Nietzsche nicht Ihre Sympathie findet... Sie erregen sich über die Zusammenstellung Stirner-Nietzsche... Stirner ist so recht Ihr Mann. Seit ihn Mackay auferweckt hat. Seit ihn Mackay zum Apostel einer neuen Glückseligkeitstheorie, ihn, den Alleszerstörer, zum Propheten des glibbrig-pathetischen, alle Welt beglückenden, fälschlich so genannten 'individualistischen' Anarchismus gemacht hat." Lehmann versucht noch einmal zum Kern des Problems zu kommen, dem die Anarchisten stets mit Phrasen auswichen. Dieser liege nicht in der kurzschlüssigen Praxis, etwa der Frage "Gewalt: ja oder nein?", sondern in der theoretischen Konzeption, jawohl, in "Stirners Phi-lo-so-phie!!" "Er liegt in Stirners Umwertung aller Werte, die dann, von Nietzsche als solche fortgesetzt, die Welt erschüttert hat. Und ich behaupte: wenn Stirner nicht  wiedererweckt worden wäre, die Wirkungen wären trotzdem eingetreten: denn Nietzsche hat im Kern  dasselbe gesagt. Er hat dasselbe verkündet, ja noch mehr, er hat es auf seine  Weise verkündet: ein Kapitalverbrechen! Er hat erkannt, dass der Individualismus in ein anderes Problem mündet: in das Führerproblem. - Der Gedanke ist doch so klar und deutlich: die Menschen sind noch nicht Individualisten genug, um für den Anarchismus reif  zu sein, es gibt nur einige, für welche dies zutrifft. Diese sind zur Führerschaft von selbst bestimmt, sie haben ihr Plus an Willen abzuleiten, sie haben die Masse aufzulösen..." (11)

Lehmann hat hier, im Juni 1919, die sich stirnerianisch gebenden "individualistischen Anarchisten" bereits abgeschrieben, ruft ihnen noch nach, sie mögen mit ihrer "Spintisiererei" selig werden, dies aber dann nicht "Erkenntnis" nennen. Er selbst bleibt nur mit einigen von ihnen in Kontakt - etwa mit Ruest/Samuel, der ebenfalls meint, Nietzscheaner und Stirnerianer zugleich sein zu können - und beginnt, das philosophische Problem, das er in seinen zornigen Reden anzusprechen versucht hat, systematisch anzugehen. (12)


Ambivalenz gegenüber Stirner

Als erstes Ergebnis seiner Studien legte Leh-

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mann Anfang 1922 die Dissertation vor, mit der er sein Studium abschloss: »Über die Setzung 'Individualitätskonstante' und ihre erkenntnistheoretisch-metaphysische Verwertung. Eine Untersuchung über das Wesen des Individuums«. Merkwürdig an ihr ist, dass Lehmann zwar bereits im Vorwort bekennt, stark von Stirner beeinflusst zu sein, dann aber eine ausdrückliche Diskussion Stirners vermeidet. Im Text findet sich nur - in einer Fussnote versteckt, "um den Zusammenhang nicht allzusehr zu unterbrechen" - ein kurzes Stirnerzitat und ein erneutes Bekenntnis: "dass uns jenes wunderbare Werk (»Der Einzige und sein Eigentum«) zu einer schärferen Erfassung des hier vorliegenden Problems verholfen hat." (13) Doch im eigentlichen Text, wie gesagt, kein Wort über Stirner, dafür aber ausgiebige Diskussion anderer Autoren wie z.B. Vaihinger, Driesch, Hartmann, Hegel, Bahnsen, Herbart.

Mit dieser Arbeit, so Lehmann im Vorwort, habe er philosophisches "Neuland" betreten: "wir allein bearbeiten es, und es ist jedenfalls auch unsere Schuld, wenn sich dereinst zeigen sollte, dass wir von seinem Ertrage nicht leben können." Das war ein hellsichtiger Blick in die eigene Zukunft. Sein Doktorvater, der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch (1865-1923), sowie der Zweitgutachter Eduard Spranger (1882-1963) hatten ihm geraten, nicht auf eine universitäre Laufbahn zu reflektieren, sondern etwa das Staatsexamen abzulegen, um sich eine sichere Erwerbsmöglichkeit zu schaffen. (14) Lehmann lehnte dies ab und musste sich lebenslang mit schlecht entlohnten - obwohl oft sehr anspruchsvollen - Arbeiten über Wasser halten.

Zunächst jedoch ging er mit Elan daran, die "Neuland"-Probleme, die niemand ausser ihm bearbeitete und "die in einer kurzen Monographie ihre Beantwortung nicht finden können", (15) weiter zu verfolgen. Schon im nächsten Jahr, 1923, erschienen von Lehmann drei Bücher: »Eros im modernen Denken. Versuch einer Metaphysik der Geschlechtsliebe«; »Psychologie des Selbstbewusstseins. Eine Einführung in die Ich-Philosophie«; »Die Grundprobleme der Naturphilosophie. Eine methodische Betrachtung«.


Suche nach "Überwindern" Stirners

Auch hier fällt auf, dass Lehmann Stirners »Einzigen« formal zwar überschwänglich lobt, ihn dann aber in der Argumentation nicht mehr berücksichtigt, oder, wo er ihn in Detailfragen heranzieht, als unzulänglich darstellt. So schreibt er in »Eros...« über Stirners Buch: "In diesem Werke, der schärfsten Kritik alles Pfaffentums, wird das Ich zum ersten Male aus all dem Schutt und Moder hervorgezogen, in dem es jahrtausendelang begraben lag, und in seiner Stärke, seiner Kraft, seiner Einzigkeit offenbart." Anschliessend stellt er - durchaus zu Recht - fest, dass Stirner sich zum "sexuellen Problem" nur sehr unzureichend geäussert habe. Da könne der russische Dichter Michail P. Arzybaschew (1878-1927) weiterhelfen. Dieser habe, da er selbst - Lehmann suggeriert: im Gegensatz zu Stirner - eine "sinnliche Natur" gewesen sei, das "Verdienst", in seinem Roman »Ssanin« das Bild des "Einzigen" in sexueller Hinsicht vervollkommnet zu haben. Er gehe dadurch insgesamt "viel weiter als Stirner". Ob dies zutrifft, braucht hier nicht einmal entschieden zu werden. Von Bedeutung ist hier nur Lehmanns Schluss. Es geht ihm nicht um die Füllung einer Leerstelle bei Stirner oder um ein Komplement, sondern um Stirners "Überwindung" - durch Arzybaschew: "'Ich selbst' trete nicht mehr wie bei Stirner als Herr in Aktion, sondern ich gehe auf in meinen Begierden, Gefühlen, Gedanken, kurzum in den Affektionen des Augenblicks. Und das erscheint uns als die einzig richtige Konsequenz." (16)

Die in der Stirner-Rezeption so häufig anzutreffende Ambivalenz drückt sich freilich nie deutlich aus. Erhöhende und erniedrigende Passagen stehen in einem insgesamt eher verquasten Kontext, den in voller Länge zu zitieren unzumutbar ist. Man muss, will man sich von dieser Qualität überzeugen, ihn schon selber lesen und deuten. Die ausgezogenen Kernurteile Lehmanns jedenfalls lauten: Arzybaschew gehe "viel weiter als Stirner [...] nicht mehr wie bei Stirner [...] das erscheint uns als die einzig richtige Konsequenz."

Von Nietzsche, den Lehmann noch vor kurzem als "Vervollkommner" Stirners begrüsst hatte, ist in diesem Text keine Rede mehr.

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Auch in Lehmanns zeitgleich erschienener »Psychologie...« spielt Nietzsche, der psychologische Philosoph par excellence,  keine Rolle. Aber auch Stirner fehlt in dieser Schrift, die immerhin als "Einführung in die Ich-Philosophie" firmiert. Dafür diskutiert Lehmann wiederum ausführlich andere Autoren (Eduard von Hartmann, Arthur Drews, Konstantin Österreich, Theodor Lipps), die das "Ich-Problem" monographisch behandelt haben (ohne dass er deren Stellung zu Stirner erwähnt).

Wie Nietzsche, so tritt auch Arzybaschew, den Lehmann in »Eros...« feierte, bald wieder in den Hintergrund. Als Lehmann 1925 den zeitgenössischen "Personalismus" diskutiert und kritisiert, da führt er keinen der beiden einstigen Favoriten und schon gar nicht Stirner ins Feld, sondern den neu entdeckten "Platon Schwedens", Christoffer Jakob Boström (1797-1866), der "einen Personalismus begründete, mit dessen innerer Geschlossenheit und systematischer Durchführung der Personalismus Schelers und Sterns wohl kaum konkurrieren kann." (17) Stirner, der bei ihm, wie bei Ruest, gelegentlich als "Personalist" figurierte, scheint hier bereits verblasst.


Abschied von Stirner

Lehmann arbeitete zu dieser Zeit noch immer an einem grösseren Werk, der »Selbstphilosophie«. Einige Seiten aus der Einleitung zu ihr publizierte er 1925 vorab. Hier benennt er als seine Absicht, ein schon früh gefasstes Programm auszuarbeiten und zu zeigen, "wie gerade durch die Stirner'sche Philosophie, soll heissen durch eine auf Stirner'schen Vordersätzen aufgebaute Philosophie, der Relativismus ad absurdum geführt wird." (18) Das Buch ist nie erschienen, stattdessen ein Jahr später, 1926, im renommierten Leipziger Philosophie-Verlag Meiner, ein anderes: »Über Einzigkeit und Individualität«.

Dieses Werk ist im Zusammenhang zu sehen mit den parallel entstandenen Schriften »Das religiöse Erkennen« (1926) und »Stirners Theorie der Reaktion« (1926). Letztere ist die einzige Arbeit Lehmanns, die spezifisch Stirner - bezeichnenderweise nur einen speziellen Aspekt bei ihm - behandelt. Ein eigenes Stirner-Buch indes hat Lehmann offenbar nie geplant, obwohl er die bisherige Stirnerliteratur als "philosophisch völlig wertlos" (19) ansah. Er nennt Stirner des öfteren als denjenigen, der in der Philosophie zwar ein grosses, ja das zentrale Problem, das der "Einzigkeit", aufgeworfen habe. Gelöst aber habe Stirner es nicht, und auch in der Zeit nach ihm habe dies niemand geschafft, ja es habe nicht einmal jemand das Problem als solches erkannt. Lehmanns denkerische Anstrengungen bis ca. 1926 sind als Versuche zu sehen, mit diesem Problem, das er selbst aus Stirner abgeleitet hatte, fertig zu werden.

Es bereitet beträchtliche Schwierigkeiten, aus Lehmanns Schriften von 1919 bis 1926 seinen Gedankenweg zu rekonstruieren. Gewiss, eine Konstante im Denken des einstigen Aktivisten des Stirnerbundes ist, oft ungenannt im Hintergrund, Stirner. Aber daneben tauchen immer wieder Figuren (wie Nietzsche, Arzybaschew, Boström u.a.) auf, denen er zutraut, besser: von denen er sich wünscht, sie hätten, klarer als Stirner selbst, den Weg zur Lösung jenes Problems (der "Einzigkeit") gewiesen. Eine solche Figur, die aber nicht nur transitorisch auftauchte, war der "antilogistische" "Realdialektiker" Julius Bahnsen (1830-1881), den Lehmann durch Ruest kennengelernt hatte. Das Projekt, aus Stirner und Bahnsen (der Stirner gekannt und rigoros abgelehnt hatte) die Lösung des Einzigkeitsproblems zu entwickeln, verfolgte Lehmann über einige Jahre, aber letztlich ohne Erfolg. (20)

Zur Lösung des lt. Lehmann zentralen, durch Stirner aufgeworfenen Einzigkeitsproblems setzte Lehmann sich nicht nur mit den damals tonangebenden Philosophen auseinander, sondern auch mit den ihm für die "Ich-Philosophie" relevant erscheinenden Theorien aus Psychologie, Soziologie und Theologie. Insbesondere letztere Disziplin nahm er - als einziger der Stirnerianer - erstaunlich ernst. "Gott" hatte Lehmann schon in seinen kämpferischen Reden für den Stirnerbund (vielleicht nicht evoziert, aber immerhin ...) erwähnt. Später promovierte er bei dem protestantischen Religionsphilosophen Ernst Troeltsch zum Doktor der Philosophie. Und dem 1923 verstorbenen Troeltsch, den er einen "unserer grossen Individualisten" nannte (21), widmete er 1926 sein

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Buch »Das religiöse Erkennen«. Darin setzt er sich auch mit Feuerbach - den Stirner bekanntlich als "frommen Atheisten" denunziert hat - auseinander und gelangt zu dem Schluss, Stirner sei dem "Urgeheimnis aller Religion weit näher gekommen" als Feuerbach. Das klingt verdächtig doppeldeutig und wäre, zumal Stirner im Buch nur dieses eine Mal erwähnt ist, erläuterungsbedürftig gewesen. Aber Lehmann vertröstet gerade hier auf eine "andere Stelle" - die er freilich nie mehr ausarbeitete. (22)

Lehmann sah sich 1926 als Philosoph mehr den je auf einsamem Posten, in "isolierter Stellung", oder, wie er stolz und sarkastisch bemerkte, als einen, der "nicht das Glück [habe], einer 'Schule' anzugehören." Trotzig bekannte er, dass er "dem 'Individualismus' abgeneigt ist und einen monistischen 'Solipsismus' für die Grundlage jeder Individualphilosophie hält." Er nannte sich "vogelfrei", meinte aber in grandioser Verkennung der Realitäten des Philosophiebetriebs, er könne aus dieser Position heraus für Stirner und Bahnsen -- denen "beispiellose Ungerechtigkeit" widerfahren sei -- "eine Lanze brechen, um beiden Bürgerrechte in der Philosophie zu verschaffen." Er fühlte sich offenbar auf der Höhe seiner Kraft, glaubte, dass er aus diesen beiden Denkern die - was er allerdings so nicht sagt: grundstürzende - "neue Metaphysik" entwickeln kann. (23)

Vertieft man sich nach diesem einleitenden Aplomb von »Über Einzigkeit und Individualität« in die weiteren Ausführungen, so findet man sich bald in ein Labyrinth aus philosophischem Jargon verstrickt. Wo Lehmann eindeutig auf Stirner eingeht, zeigt sich erneut, wie gross seine Ambivalenz gegenüber diesem Autor ist; konzentriert in einem Satz, in dem er sagen will, "wodurch das Stirner'sche Werk den grossen philosophischen Grundwerken ebenbürtig zur Seite tritt." (24) Ebenbürtig! Gut gemeint? Vielleicht. Dann aber verräterisch. Denn Stirner hätte solche Nobilitierung gewiss schmunzelnd zurückgewiesen. (Lehmann hatte hier konkret Kant im Auge, weil dieser einmal, ähnlich wie Stirner, die Erde als ein "Narrenhospital" bezeichnet habe - was bereits auf Lehmanns damals beginnende Umorientierung zum Kant-Forscher weist - s. später)


Wendung zu Kant

Lehmann behandelt Stirner, obwohl er ihn gelegentlich als die wichtigste Quelle seiner Inspiration preist (wegen des "Einzigkeitsproblems"), auch hier eher am Rande und dann oft forciert "kritisch": Stirner, konzediert er z.B., habe zwar "ein philosophisches 'Problem' getroffen"-- nur schade, dass "es ihm an Kraft der Ausführung gebrach." Lehmann will zwar verwerten, "was Stirner gelegentlich von seiner Erkenntnis berichtet" -- aber alles "Negative" habe "zu weichen oder wenigstens in den Hintergrund zu treten", so dass sich die Aufgabe ergebe, "den Begriff Einzigkeit, ohne auf Stirners Absichten zu reflektieren, nach seinem logischen Inhalte zu analysieren." (25)

Zu diesen "negativen" "Absichten" Stirners zählt Lehmann an erster Stelle dessen "Opposition". Sie dürfe uns "nicht irre machen", insbesondere nicht die "Opposition gegen den 'düpierten Egoisten'", d.h. gegen den homo normalis . Was Lehmann damit gemeint haben könnte, geht aus einer Fussnote hervor, die nicht hier, sondern fünfzig Seiten später, in anderem Zusammenhang, zu finden ist. Dort heisst es: "Die Kritik des 'Einzigen' will eine Kritik der Kollektivwerte sein; aber sie will diese Kollektivwerte ja nicht verneinen, sondern ihre 'Geltung für mich' von meiner Autonomie  abhängig machen. Daher muss sie zuletzt in eine Beurteilung meines 'Reagierens' auslaufen. Wie ich reagiere - ob ich wahrhaft aneigne  (im Sinne Schleiermachers, dessen Ethik bedeutsame Übereinstimmungen mit dem 'Immoralismus' [der Ethik] Stirners zeigt) oder ob ich als düpierter Egoist die Aneignung der Kollektivwerte über den Umweg der Kollektivwerte selbst  vornehme - das ist entscheidend." (26)

So schwierig es ist, diesen Satz zu deuten - Lehmann scheint hier Stirner wirklich "ebenbürtig" neben Hegel stellen zu wollen (?) - so schwierig ist es generell, herauszufinden, zu welchem Ergebnis Lehmann in seinen "jahrelangen systematischen Untersuchungen" zu dem Problem "dessen, was Stirner mit dem Namen 'Einzigkeit' bezeichnete", gekommen ist. (27) Jedenfalls scheint er seine Beschäftigung

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mit Stirner nach den drei genannten Veröffentlichungen des Jahres 1926 stillschweigend aufgegeben zu haben. Aus Briefen Anselm Ruests, mit dem er noch einige Jahre befreundet blieb, lassen sich Bestätigungen dafür finden. Ruest berichtete damals noch frohgemut, er arbeite an einem "Versuch einer peinlich-praezisen Darstellung und Abgrenzung der Stirner'schen Ethik" (18.2.1928) und an einer "neuen Darstellung der Stirner'schen Erkenntnistheorie" (25.6.1928). Lehmann muss diesen Projekten bereits recht distanziert zugeschaut haben. Jedenfalls gibt Ruest ("...ich, der geringere Denker, ich meine, Logiker, Ihnen gegenüber..."; 31.10.1928) Lehmann schliesslich darin Recht, "dass man durch Stirner hindurchgegangen sein muss, andernfalls man heute zu keinem philosophischen Problem etwas sagen kann." (26.1.1929). Ruest scheint also drei Jahre später als Lehmann wie dieser die "entscheidende Wendung, d.i. Stellungnahme zum 'Einzigen'" (6.3.1929) vollzogen, im Klartext: Stirner als erledigt betrachtet zu haben.

Lehmanns "entscheidende Wendung" Mitte der zwanziger Jahre war, wie schon angedeutet, die von Stirner zu Kant. Er erwähnt in seinen Schriften über das Kollektivbewusstsein (1928a) und über die Psychologie der Individualitäten (1928b) Stirner nicht einmal mehr. Seine erste Publikation als Herausgeber von Kants opus postumum  erschien 1925 im Berliner Verlag Walter de Gruyter. Für diesen Verlag, der die Akademie-Ausgabe der Werke Kants bis heute herausgibt, war Lehmann, stets auf der unsicheren Basis eines freien Mitarbeiters, die weiteren sechs Jahrzehnte seines Lebens mit gelegentlichen Unterbrechungen tätig. Ursprünglich "vogelfrei" (s.o.), gelang ihm doch noch die Habilitation, allerdings erst 1939. Aus undurchsichtigen Gründen wurde er jedoch nie Professor.


Letzte Worte über Stirner

Als eine Art Fazit in puncto  Stirner kann man die drei Seiten nehmen, die der Stirnerbündler von 1919 seinem einstigen Helden 1931 in seiner »Geschichte der nachkantischen Philosophie« widmet. Er nennt dort "A. Stirner" [sic!] den "kühnsten und genialsten Vertreter der revolutionären Bewegung" [des Vormärz]. Die Literatur über Stirner, ob pro oder contra, sei "philosophisch völlig wertlos" - mit Ausnahme nur des Buches von Ruest (von 1906; was wohl impliziert, dass Lehmann seine eigenen früheren Schriften nicht zur Stirnerliteratur rechnet). Stirners "Lehre" sei üblicherweise als "Bekenntnis zum vulgären 'Egoismus' und individualistischen Anarchismus" missverstanden worden. Die Schwierigkeit liege bei Stirners Immoralismus. Hier setze "die Gefahr eines nur äusserlichen, oberflächlichen Verständnisses der Stirner'schen Moralkritik ein. "Die wesentliche Richtung des Buches [sei aber] gar nicht anti-ethisch, sondern moralkritisch im tieferen Sinne einer kritischen Begründung der wirklichen Wertvorstellungen." Was unter den "wirklichen" Wertvorstellungen zu verstehen ist, sagt Lehmann freilich nicht. Er beginnt stattdessen mit einem kurzen philosophiegeschichtlichen Durchgang von Kant über Hegel, Feuerbach und Bauer bis zu Stirner und resümiert: Der "im Autonomiebegriff Kants leise anklingende, seiner Natur nach wesentlich dialektische Gedanke der Freiheit  bedurfte nur der Übertragung auf individualistischen Boden, wie ihn die Anthropologie hergab, um die konkrete Gestalt des Stirner'schen 'Eigners' anzunehmen." Lehmann stellt - als Defizit - fest, Stirners »Einziger« sei natürlich keine Sittenlehre, und schliesst in einem Ton, der an seine Rundumschläge von früher erinnert: "Jedenfalls fehlt auch heute noch ziemlich der Massstab für die eigentliche Leistung Stirners, soweit sie eine moralkritische ist. Denn die Ethik unserer Zeit - selbst wenn man Nietzsche dabei mitberücksichtigt - ist genau so dogmatisch, wie es in der damaligen Zeit die Ethik Feuerbachs war." (28)

Sollte dies als verklausulierter Hinweis des Autors auf seine eigenen früheren, noch nicht rezipierten Arbeiten zu verstehen sein? Oder doch auf geplante? Wie auch immer: Lehmann schrieb keine Arbeit mehr über Stirner, und was er später im Rahmen philosophiehistorischer oder editorischer Texte - nicht unbeeinflusst durch die herrschende Ideologie des Staates, in dem er jeweils lebte - gelegentlich über Stirner bemerkte (1943, 1950, 1953,1957), fällt gegenüber seinen Worten von 1931 stark ins Konventionelle zurück.

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Es fällt ausserordentlich schwer, aus den Schriften Gerhard Lehmanns so etwas wie eine kohärente intellektuelle Biographie zu gewinnen. Selbst über den hier interessierenden und ihn ursprünglich stark motivierenden Aspekt seines Denkens, sein Stirnerianertum, das er wohl schon seit Mitte der zwanziger Jahre eher als Jugendsünde betrachtete (die frühen Artikel aus Ruests Zeitschrift fehlen in seinen Bibliographien) lässt sich schwer Aufschluss gewinnen - ausser, dass er von Beginn an eine sich bisweilen kritisch gebärdende, in Wirklichkeit aber ambivalente Haltung zu Stirner hatte. Ein stimmiges Bild ist jedenfalls aus seinen Schriften nicht zu gewinnen. Deshalb war ich erfreut, als ich 1983 eher zufällig in Kürschners Gelehrtenkalender auf den Eintrag über ihn einschliesslich Adresse stiess.


Allerletzte Worte über Stirner

Ich ergriff eilends die Gelegenheit, den 83-jährigen Lehmann brieflich zu bitten, mir etwas über die Wandlung seines Verhältnisses zu Stirner zu schreiben. "Die Wandlung in meinem Verhältnis zu Stirner bezw. mein heutiges Verhältnis", antwortete er mir am 12.9.1983, "das ist ziemlich kompliziert, aber im Grunde ganz einfach. Ich möchte sagen: meine Jugendbegeisterung für Stirner war u.a. bedingt durch die verkehrte Darstellung bei Mackay (1898). Ich kannte M. (gestorben 1933) persönlich und machte getreulich seine Reliquienverehrung mit. Und doch ist sein Buch ein reines Phantasieprodukt bezw. eine Idealisierung. Es ist alles richtig und doch falsch. Aber ich will nicht in Ihr Fettnäpfchen treten." - Welches Fettnäpfchen meinte er?

Lehmann fuhr unvermittelt fort, "die Brutalität des Stirner'schen 'Anspruchs' gegen sich selbst, einschliesslich aller Konsequenzen: sich von der Frau ernähren zu lassen, so lange das Geld reicht, durch Inserate Geld aufzunehmen, ohne es zurückzuzahlen etc., [sei] durch keinerlei historische oder sonstige Erinnerungen zu rechtfertigen, sondern höchstens mit seiner Dummheit. - Damit erledigt sich für mich auch mein Versuch (1931, S. 116), die Stirner'sche Wertkritik 'moralkritisch im tieferen Sinne einer kritischen Begründung der wirklichen Wertvorstellungen' aufzufassen. Das ist ihm [Stirner] nicht im Traum eingefallen." - Punktum!

Lehmann einst ein Anhänger Mackays? Davon gibt es keine Spuren. Im Gegenteil: hatte er doch schon 1919, in seiner ersten im Namen des Stirnerbunds publizierten Schrift, gegen  Mackay und gegen  dessen "individualistischen Anarchismus" als stirnerfremd polemisiert; hatte er doch in seinen frühen Büchern Mackays Texte über Stirner als "philosophisch wertlos", als "Bärendienst" an Stirner bezeichnet. Lehmann war also trotz  Mackay, der als prominenter Stirnerianer galt, Stirnerianer und aktivste Kraft des Stirnerbunds geworden. - Stirners "Brutalität" und gar "Dummheit"? Das war es wohl kaum, was ihn einst an Stirner fasziniert haben konnte. Davon war bei ihm auch nie die Rede gewesen, auch nicht in seinen späten, "poststirnerianischen" Schriften, wo er Stirner eher konventionell verortet.

Solcherart Konstruktionen sind für mich nach meinen detaillierten Studien der von mir - auch deswegen - so genannten Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte Stirners (vgl. »Ein dauerhafter Dissident«, 1996) keine Besonderheit mehr; sie sind vielmehr - in den Fällen, wo der wahre Sachverhalt eruierbar ist - die Normalität: Verdrängungsakte, die durch Fehlerinnerungen gedeckt werden. Das beunruhigende Problem "Stirner" wird nach mehr oder weniger intensiven, aber erfolglosen Bearbeitungsversuchen intellektueller Art, auf andere, wirksamere und bequemere Weise - wie Lehmann selbst schrieb - "erledigt".

***


Abschliessender Exkurs:

In dem Brief, mit dem Lehmann mir am 12.9.1983 antwortete, blieb mir unverständlich, was er mit dem Fettnäpfchen meinte, das er als von mir für ihn aufgestellt argwöhnte. Dies war auch in einem zweiten Brief nicht zu klären, und damit endete unsere Korrespondenz. Ich liess die Frage auf sich beruhen, trieb auch keine weiteren biographischen Studien über Lehmann, zumal ich, nach Einblick in seine nachgelassenen Papiere, wusste, dass in Hinblick auf Stirner nicht mehr viel zu ermitteln war.

Lehmann galt indes, was mir erst später nach-

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drücklich ins Bewusstsein trat, als weltweit anerkannte Kapazität in der Kant-Forschung, sowohl als Herausgeber von Kants opus postumum  wie auch als Verfasser interpretierender Schriften zu Kant. Merkwürdig dabei war, dass er trotzdem kaum Prominenz erlangt hatte, eher still im Hintergrund tätig war; und dass er, obwohl 1939 habilitiert, nie einen Ruf als Hochschullehrer erhalten hatte. Für die Zeit nach 1945 war dies zweifellos eine Folge einiger seiner Publikationen in der Zeit des Nationalsozialismus. Gleichwohl war er offenbar ein kaum ersetzbarer Kant-Experte. Die Akademie der Wissenschaften (zuerst in Ost-Berlin, dann in Göttingen) sowie der Verlag De Gruyter nahmen deshalb keinen Anstoss an Lehmanns Vergangenheit und betrauten ihn nach 1945 weiterhin mit wichtigen Arbeiten zur Kant-Edition.

In den siebziger Jahren begannen jedoch einige jüngere Kant-Forscher, sich um Lehmanns bislang unterbliebene "Vergangenheitsbewältigung" zu kümmern. Nach einer gewissen Inkubationszeit veröffentlichte Werner Stark in der »Zeitschrift für philosophische Forschung« einen Artikel »Kritische Fragen und Anmerkungen...« zu einer Lehmann'schen Kant-Edition (Stark 1984). Es folgten eine Replik Lehmanns und eine Antwort Starks. Wenig später liess Wolfgang Bayerer einen ebenfalls gegen Lehmanns Arbeiten gerichteten »Hinweis auf eine Lücke...« in die »Kant-Studien« setzen. (Bayerer 1986a) Eine Replik, die Lehmann verfasste, wurde diesmal nicht mehr veröffentlicht. Beide Kritiken thematisierten zwar strittige Fragen zur Kant-Philologie, zielten aber, mehr oder weniger offen, primär auf die Person Lehmann (Bayerer 1986b, S. 5: "cum ira et cum studio" verfasst).

Die wahren Motive für diese Angriffe auf Lehmann wurden erst später klar: durch Bayerers - übrigens als Privatdruck verbreitete - Schrift »Charakter als Politikum. Bemerkungen zur Hintergrund-Motivation der überzogenen Negativ-Bewertung des Kant-Herausgebers Ben-zion Kellermann durch den Kant-Herausgeber Gerhard Lehmann während des Dritten Reichs«. Titel und vorangestellte Widmung ("Dem Andenken an Adolf Grabowski, den weltoffenen Gelehrten, den herzensguten Menschen, den armen, gejagten Juden") verraten es: Lehmann sollte als "Nazi", zudem als Unbelehrbarer exponiert und auf diese Weise erledigt werden. Bayerers Schrift ist auf 1986 - also auf ein Datum vor Lehmanns Tod - datiert, wurde allerdings in »Information Philosophie« erst im Oktober 1990 angezeigt. Lehmann, der im April 1987 starb, scheint sie, wie seine Nachlasspapiere nahelegen, nicht mehr zu Gesicht bekommen zu haben.

Bayerer spart hier zunächst nicht mit fachlichem Lob für Lehmann, den "weltweit anerkannten Gelehrten, der bereits [vor 1943] bestqualifizierte Beweise erbracht hatte, dass ihm die unverfälschte, wahre Lehre Kants vertraut war wie wenigen" (S. 12). Rund ein Dutzend ähnlicher Stellen liessen sich zitieren. Selbst jenes Buch Lehmanns, das Bayerer hier mit Schrecken heranzieht, »Die Deutsche Philosophie der Gegenwart« (1943), nennt er ein "partiell übrigens ganz hervorragend konzipiertes Werk" (S. 7). Dies soll offenbar die Objektivität und Fairness des Autors demonstrieren, um den nachfolgenden Schwall von Pejorativa seriös erscheinen zu lassen: dies oder das - meist aus dem Kapitel »Politische Philosophie« - sei abstrus, bizarr-byzantinistisch, lächerlich, schwachsinnig, opportunistisch, skrupellos abgefeimt, hemmungslos zynisch, etc. Denn Bayerer ist fassungslos, dass ein so ausgewiesenermassen fähiger Mann erstens ein NS-nahes Buch hat schreiben können und zweitens nach 1945 "nie revoziert" hat. Obwohl Bayerer "erkennbare Verwirrung und zunehmende Vergreisung" bei Lehmann konstatiert, fordert er erbarmungslos: "Zurückhaltende Höflichkeit ... gar Mitleid ... wäre gerade in diesem Falle absolut fehl am Platze." (S. 26) Dass Lehmann immerhin nicht Mitglied der NSDAP war; dass er - infolgedessen? - auf eine Hochschulkarriere verzichten musste; dass er durch seine als "kriegswichtig" eingestufte Arbeit am Nachlass Kants ("nationale Aufgabe") sich lange Zeit dem Kampfeinsatz an der Front entziehen konnte, fällt bei seinem Urteil nicht ins Gewicht.

Ein anderer Kant-Experte, einer, der das Dritte Reich noch selbst erlebt hatte, Wolfgang

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Ritzel (Jg. 1913), hatte diesen rigorosen Ambitionen einiger Nachgeborener schon zu Zeiten, als sie noch untergründig waren, entgegenzutreten versucht. Er würdigte die Lebensleistung Lehmanns zu dessen 80. Geburtstag in den »Kant-Studien« (Ritzel 1980). Er gab kurz darauf, zusammen mit Ingeborg Heidemann (Jg. 1915), einen Sammelband »Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft: 1781-1981« heraus, der "Gerhard Lehmann zum 80. Geburtstag" gewidmet ist (und seltsamerweise nur im einleitenden Text, fast unterderhand, als "Festschrift" bezeichnet wird - die zudem primär Kants berühmtem Buch [!] und nur sekundär Lehmann "gilt"). Und er verfasste 1988 den Nachruf auf Lehmann in den »Kant-Studien« (in dem er auf Starks Anschuldigungen kurz eingeht, Bayerers auf 1986 datierte Schrift jedoch nicht zu kennen scheint). Lehmanns einstige Nähe zum Nationalsozialismus bagatellisierte er freilich.

Unterdessen arbeitete der Marburger Doktorand Werner Stark (Jg. 1953) mit schier unermüdlichem Einsatz von Fleiss und Akribie weiter an einer Kritik der von Lehmann während der NS-Zeit herausgegebenen Bände der Kant-Akademie-Ausgabe. Teile dieser Kritik hielt er über Jahre zurück, weil er sie nicht, wie er schreibt, "der unsachlichen Polemik" aussetzen wollte, die er von Lehmann erwartete. Nach Lehmanns Tod schliesslich erschienen Starks »Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants«, deren gewaltiger Materialreichtum beeindruckt, schliesslich aber doch den Verdacht nicht überdecken kann, dass diese Riesenarbeit - die den Nachweis erbringen soll, dass die "Lehmann-Bände" der Kant-Akademie-Ausgabe (XX-XXIII) wissenschaftlichen "Standards" nicht genügen und deshalb neu ediert werden müssen - nicht allein wissenschaftlichen Antrieben zu verdanken ist.

Lehmann hätte seine Antwort auf diese buchfüllende Kritik Starks wahrscheinlich mit ähnlichen Worten beschlossen wie schon die auf Starks Artikel von 1984: "Er 'überzeugt' den Leser mit viel Gerede, viel Kleindruck, viel[en] Ziffern, senkrecht und waagerecht, und mit viel Unordnung; er will der Ausgabe nicht nützen, sondern dem Bearbeiter der Ausgabe schaden. Und vor allem will er sich in seinem Durcheinander das Ansehen eines neuen, unbekannten Gelehrten geben, der nicht nur eine solche Edition ebensogut machen könnte, sondern viel besser." (Lehmann 1985)

Stark rechtfertigt seine viele Druckseiten füllende Produktivität gegenüber einem Wort des grossen Kant-Forschers Erich Adickes, der 1896 sich verächtlich über allzusehr erbsenzählende Kant-Spezialisten als "Ausgeburten modernen Kärrnertums" geäussert hatte, mit den denkwürdigen Worten: "Andererseits denke ich (als Bürger eines demokratisch verfassten Staates) sagen zu können, dass sie [Starks »Nachforschungen«] nicht Ausdruck eines anachronistischen Kärrnertums sind, sondern als Teil einer Dienstleistungsgesellschaft verstanden werden sollen. Sie wurden notwendig in der Folge von Ereignissen und Umständen, die 1896 nicht abzusehen waren." (Stark 1993, S. 330)

So zurückhaltend formuliert Stark, auch wenn er in der Regel einen wissenschaftlich-beherrschten Ton pflegt, nicht immer. Kein Zweifel: er will den angesehenen Kant-Forscher Lehmann vom Sockel stossen. Nominell und sachlich geht es ihm freilich einzig um den Nachweis, dass in den "Lehmann-Bänden" der Kant-Akademie-Ausgabe übliche "Standards" nicht erreicht wurden: a) infolge der organisatorischen Struktur der wissenschaftlichen Arbeit unter dem nationalsozialistischen Regime; und b) infolge der Überforderung des Sachbearbeiters Lehmann. Merkwürdig bleibt freilich, zumindest für den Aussenstehenden, dass dies erst mit solch grosser zeitlicher Verzögerung festgestellt wurde.

Dieser abrissartige Anhang über den Weg Lehmanns nach Abschluss seiner stirnerianischen Periode musste sich auf einen bestimmten Aspekt beschränken. Auf die ausserordentlich komplexe Geschichte der Kant-Manuskripte, -Editionen, -Editoren, etc. braucht hier nicht eingegangen zu werden. (29) Jener Aspekt indes, das unnachsichtige Betreiben von "Vergangenheitsbewältigung" durch einige der nachgeborenen Forscher, war hier kurz zu skizzieren, weil wahrscheinlich in ihm begründet liegt, dass Lehmann 1983 argwöhnte, ich

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sei einer der Akteure der sich hinter den Kulissen formierenden Kampagne gegen ihn und ziele darauf ab, seine - bis dato unbekannten - stirnerianischen "Jugendsünden" auszugraben. (30) Das würde erklären, warum er meine Anfrage als ein "Fettnäpfchen" auffasste, das Thema Stirner kurz abblockte und sich auf eine weitere Diskussion nicht einliess.


Anmerkungen:

(1) Engels wollte die Anarchisten diffamieren und wusste sehr gut, dass er dies wirkungsvoll tun konnte, indem er ihnen Stirner als Ahnherrn unterschob - mit Erfolg: sie schwiegen betreten.
Hartmann wollte Nietzsche als schöngeistigen Plagiator hinstellen, nämlich des weitaus stringenteren Stirner - um sich als Überwinder Stirners (und damit Nietzsches) in Szene zu setzen.
Lauterbach betrieb die Herausgabe des »Einzigen« in Reclams preiswerter Universalbibliothek, um möglichst vielen das abschreckende "nihilistische" Resultat konsequent aufklärerischen Denkens zu präsentieren - vor dem nur Nietzsche retten könne.
Vgl. dazu:
Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit. Nürnberg: LSR-Verlag 1994;
Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. Nürnberg: LSR-Verlag 1996

(2) vgl. Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene. Berlin: Verlag rosa Winkel 1997, S. 61-165 (zu den von Stirner inspirierten "anarchistischen" Anfängen S. 71-82)

(3) vgl. Bernd A. Laska: "Anarchismus, individualistischer". Artikel in: Lexikon der Anarchie, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten 1993ff.

(4) Lehmann (1919a), S. 64

(5) Notiz in: Der Einzige (Berlin), Jg. 1, Nr. 10, 23. März 1919, S. 115

(6) Lehmann (1919b)

(7) Lehmann (1919c)

(8) Emil Kauder: Erstes öffentliches Debut des Stirner selbst wieder in den lebendigen Tagesstreit der Meinungen rückenden Bundes. In: Der Einzige, Jg. 1, Nr. 14, 20. April 1919, S. 167

(9) Lehmann (1919e)

(10) ebd.

(11) Lehmann (1919f)

(12) Ich habe Gerhard Lehmann in meiner Wirkungsgeschichte Stirners sehr knapp abgehandelt,
a) weil er dadurch, dass er behauptet, Nietzsche habe im Kern dasselbe gesagt wie Stirner, einer Konfrontation Nietzsche-Stirner ebenso ausweicht wie Mackay. (Vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. Nürnberg: LSR-Verlag 1996, S. 64);
b) weil er, obwohl für einige Zeit Aktivist im "Stirnerbund", weder damals noch später je eine klare Stellung zu Stirner bezogen hat.

(13) Lehmann (1922a), S. 7, 49, 8

(14) s. Vermerk Sprangers "zur Person" Lehmann vom 4. Juli 1935; zitiert bei Stark (1993), S. 166 f
[Zusatz 1.9.2001:]
Warum Eduard Spranger den Doktoranden Gerhard Lehmann, der Stirner ernst nahm, für eine Universitätslaufbahn nicht geeignet hielt, erhellt aus einer Aufzeichnung eines anderen, früheren Doktoranden Sprangers:
"Als ich sagte, ich käme am Schlusse [der Doktorarbeit über Henrik Ibsen] auf Stirner hinaus etc., bezeichnete er [Spranger] diesen als paradox und als einen Geist 4. Ranges...".
Rolf Engert an Käthe Hilt, 13.7.1914 [Brief im Max-Stirner-Archiv Leipzig]
Selbstverständlich hat Spranger es auch für tief unter seiner Würde empfunden, sich selbst je über den "Geist 4. Ranges" öffentlich zu äussern.

(15) Lehmann (1922a), S. 8

(16) Lehmann (1923a), S. 20 f; "Und so wird der 'Einzige' Arzybaschews zum Frauenschänder, dessen innere Einheit nur durch ein gewisses Gleichgewicht der Triebe hergestellt wird."

(17) Lehmann (1925b), S. 223

(18) Lehmann (1925a), S. 14

(19) Lehmann (1931), S. 114

(20) Lehmann (1926b), S. VI, 6 f

(21) Lehmann (1925b), S. 222

(22) Lehmann (1926c), S. 67

(23) Lehmann (1926b), S. V f, 1

(24) ebd., S. 60

(25) ebd., S. 4-7

(26) ebd., S. 61; dieselbe Textstelle in (1926a), S. 309, dort aber nicht als Fussnote und mit einer Abweichung. In (1926a) heisst es "Ethik Stirners", in (1926b) "'Immoralismus' Stirners".

(27) ebd., S. V, 59

(28) Lehmann (1931), S. 114-117

(29) Die knappen Angaben über einige der Protagonisten können nur eine erste Orientierung sein für den, der sich für Lehmanns Biographie insgesamt interessiert (vgl. Bibliographie, Abschn. 3).

(30) Erstaunlich ist, dass Hans G. Helms, der zur Stützung seiner These von Stirner als dem  ideologischen "Protofaschisten" (»Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«, 1966) akribisch - doch mit dürftigem Erfolg - nach NS-Autoren mit Affinitäten zu Stirner suchte, Lehmann zwar als "Chef" des Stirnerbundes kannte (S. 411), sonst aber wenig über ihn und seine Ideen und offenbar gar nichts über seinen späteren Weg als Philosoph, insbesondere in NS-Deutschland, wusste.


Bibliographie:

1. Schriften von Gerhard Lehmann

(nur hier relevante Titel; für weitere Arbeiten, insbesondere zur Kant-Forschung, siehe die Bibliographien unter Punkt 2)

(1918) Der Monistenbund - eine Religionsgemeinschaft. In: Die Aktion (Berlin), Jg. 8, Heft 29/30 (27. Juli 1918), Sp. 373-375

(1919a) Apologetisches. In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 6 (23. Feb. 1919), S. 64-65

(1919b) ["Satzung" der Gesellschaft für individualistische Kultur (Stirnerbund)]. In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 12 (6. April 1919), S. 143

(1919c) An die Studenten! In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 13 (13. April 1919), S. 155

(1919d) Ein metaphysisches Märchen vom Geiste und vom Ich. In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 15/16 (4. Mai 1919), S. 179-180

(1919e) Programmatische Schlussworte. Gesprochen am 19.V.19 anlässlich der 1. öffentlichen Kundgebung der "Gesellschaft für individualistische Kultur (Stirnerbund)." In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 18 (18. Mai1919), S. 214-215

(1919f) Anarchismus - Individualismus. Ein offenes Wort an die "individualistischen Anarchisten" zur Aufklärung. In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 21/22 (15. Juni 1919), S. 253-254;
Neuabdruck in: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. Nr. 1/2 (9/10), 3.2./3.5.2000, S. 42-44

(1919g) Was wir wollen. In: Der Einzige, Jg.1, Nr. 23/24 (29. Juni 1919), S. 286

(1922a) Über die Setzung "Individualitätskonstante" und ihre erkenntnistheoretisch-metaphysische Verwertung. Eine Untersuchung über das Wesen des Individuums. Berlin: Emil Ebering, 1922. - 85 S. (zugl. Diss.; Ref.: Ernst Troeltsch, Eduard Spranger)

(1922b) [Selbstanzeige] Über die Setzung... In: Kant-Studien, Band 27 (1922), S. 236-237

(1923a) Eros im modernen Denken. Versuch einer Metaphysik der Geschlechtsliebe. Stuttgart/Heilbronn: Walter Seifert 1923. 177 S.

(1923b) Psychologie des Selbstbewusstseins. Eine Einführung in die Ich-Philosophie. München: Rösl 1923. (Philosophische Reihe, Band 69) 147 S.

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(1923c) Die Grundprobleme der Naturphilosophie. Eine methodische Betrachtung. Stuttgart/Heilbronn: Walter Seifert 1923. 79 S.

(1925a) Aus der Einleitung zu einer Selbstphilosophie. In: Der Einzige, III. Folge, Heft 2 (1925), S. 3-14

(1925b) Personalistische Strömungen in der Gegenwartsphilosophie. In: Geisteskultur. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Geisteskultur und Volksbildung. Jg. 34, Heft 5/6 (1925), S. 219-223

(1926a) Stirners Theorie der Reaktion. In: Geisteskultur. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Geisteskultur und Volksbildung. Jg. 35 (1926), S. 305-313

(1926b) Über Einzigkeit und Individualität. Leipzig: Meiner. viii+220 S.

(1926c) Das religiöse Erkennen. Untersuchung über Bedeutung und Grenzen der religiösen Begriffsbildung. Karlsruhe: Braun. 89 S. ("Ernst Troeltsch zum Gedächtnis")

(1927) Vorschule der Metaphysik. Berlin: Reuther und Reichard. 82 S.

(1928a) Psychologie der Individualitäten. Ein Beitrag zur Theorie des Charakters. Berlin: Paetel. 132 S.

(1928b) Das Kollektivbewusstsein. Systematische und historisch-kritische Vorstudien zur Soziologie. Berlin: Junker & Dünnhaupt. vii+264 S.

(1929) Kultur und Erziehung. Untersuchungen zur Grundlegung einer Kulturpädagogik. Berlin: Junker & Dünnhaupt. viii+112 S.

(1931) Geschichte der nachkantischen Philosophie. Berlin: Junker und Dünnhaupt. 238 S.

(1933) Die Ontologie der Gegenwart in ihren Grundgestalten. Halle/S.: Niemeyer. 42 S.

(1938) Einleitung: Das Nietzsche-Bild der Gegenwart. In: Friedrich Nietzsche. Auswahl in zwei Bänden. Stuttgart: Alfred Kröner, 5. Aufl., Band I. S. xi-xxv

(1940) Der Einfluss des Judentums auf das französische Denken der Gegenwart. Berlin: Junker und Dünnhaupt. 62 S.

(1943) Die deutsche Philosophie der Gegenwart. Stuttgart: Alfred Kröner. xii+575 S.

(1950) Vorbemerkung [zu "Über das Wesen des Christentums etc."]. In: Ludwig Feuerbach: Kleine philosophische Schriften, hg. u. eingel. v. Max Gustav Lange. Leipzig: Felix Meiner. S. 173-178

(1953) Die Philosophie des 19. Jahrhunderts. 2 Bände. »Geschichte der Philosophie«, Bände VIII, IX. Berlin: de Gruyter. 149/166 S. (Sammlung Göschen Nr. 571/709)
(»Krise der Philosophie im Vormärz«, Band IX, S. 30-52, darin über Stirner S. 37-39)

(1957/60) Die Philosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 2 Bände. »Geschichte der Philosophie«, Bände X, XI. Berlin: de Gruyter. 128/114 S. (Sammlung Göschen Nr. 845/850);
Band X, S. 92

2. Über Gerhard Lehmann:

Fechter, Paul: Gerhard Lehmann und das Collegium logicum. In: ders.: Menschen auf meinen Wegen. Gütersloh: Bertelsmann 1955. S. 266-274

N.N.: Die Schriften von Gerhard Lehmann (veröffentlicht aus Anlass des 65. Geburtstages des bekannten Kant-Forschers und Historikers der Philosophie G. Lehmann am 10.7.1965. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 19, Heft 2 (1965), S. 348-356

Helms, Hans G.: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: Schauberg DuMont 1966 (s. Index)

Lehmann, Gerhard: Die Schriften von Gerhard Lehmann. In: ders.: Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin: de Gruyter 1980, S. 277-284

Wissenschaftliches Antiquariat Herbert Lang & Cie, Bern: Antiquariats-Katalog 148: Philosophie, mit Schwerpunkt Immanuel Kant und Umkreis. Arbeitsbibliothek Dr. phil. habil. Gerhard Lehmann Berlin (1900-1987). Teil 1: A-K; Teil 2: L-Z. Bern (CH) 1988. 220 S.

Laska, Bernd A.: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Max Stirners "Einziger". Eine kurze Wirkungsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1996 (s. Index)

3. Schriften zum "Abschliessenden Exkurs":

Ritzel, Wolfgang: Gerhard Lehmann - zum 10. Juli 1980. In: Kant-Studien, Jg. 71 (1980), S. 346-351

Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781 - 1981. Hg. v. Ingeborg Heidemann und Wolfgang Ritzel. Berlin: Walter de Gruyter 1981. 353 S. (S. [vii]: "Festschrift")

Stark, Werner: Mitteilung in memoriam Erich Adickes (1866-1928). In: Kant-Studien, Jg. 75, Heft 3 (1984), S. 345-349

Stark, Werner: Kritische Fragen und Anmerkungen zu einem neuen Band der Akademie-Ausgabe von Kants Vorlesungen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 38, Heft 2 (1984), S. 292-310

Lehmann, Gerhard: Zum Streit um die Akademieausgabe Kants. Eine Erwiderung. In: In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 39, Heft 3 (1985), S. 420-426

Stark, Werner: Antwort auf die Erwiderung "Zum Streit um die Akademieausgabe Kants" von G. Lehmann. In: In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 39, Heft 4 (1985), S. 630-633

Bayerer, Wolfgang Georg (1986a): Hinweis auf eine Lücke im Text der Akademie-Ausgabe von Kants Bemerkungen zur Bouterwek-Rezension. In: Kant-Studien, Jg. 77, Heft 3 (1986), S. 338-346

Bayerer, Wolfgang G[eorg] (1986b): Charakter als Politicum. Bemerkungen zur Hintergrund-Motivation der überzogenen Negativ-Bewertung des Kant-Herausgebers Benzion Kellermann durch den Kant-Herausgeber Gerhard Lehmann während des Dritten Reiches. Grossen Buseck [bei Giessen]: pro manuscripto [Selbstverlag] 1986

Ritzel, Wolfgang: Gerhard Lehmann zum Gedächtnis. 10. Juli 1900 - 18. April 1987. In: Kant-Studien, Jg. 79 (1988), S. 133-139

Ritzel, Wolfgang: Buchbesprechung »Kant-Forschungen, Band 1«, hg. v. Reinhard Brandt und Werner Stark, Hamburg: Felix Meiner 1987. In: Kant-Studien, Jg. 79 (1988), S. 493-498 (497f)

Stark, Werner: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants. Berlin: Akademie-Verlag 1993. 374 S. (Diss. Univ. Marburg 1991/92)

Leaman, George / Simon, Gerd: Die Kant-Studien im Dritten Reich. In: Kant-Studien, Jg. 85 (1994), S. 443-469 (450f)

Sturm, Thomas: Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Schriften. In: Kant-Studien, Jg. 90 (1999), S. 100-106

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