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ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 4, Heft 3 (14) (1937)

 Band 4, Heft 3 (14) (1937) 
137 Wilhelm Reich: Der dialektische Materialismus in der Lebensforschung
149 Wilhelm Reich. Dialektisch-materialistische Facharbeiter contra geistige Irrlichter der sozialistischen Bewegung
162 August Lange: Zum heutigen Geschlechtsleben der Jugend
177 Irma Kessel: Aus dem Tagebuch meines Kinderhauses
198 Bericht einer norwegischen Mutter (und dessen Diskussion)
203 Th[eodor] Hartwig: Der Sinn der "religiös-sittlichen" Erziehung
205 Aus dem Institut für sexualökonomische Lebensforschung: Die Eröffnung des ausführenden Laboratoriums in Oslo
206 Der Besuch Professor du Teils von der Universität Nizza
207 Sexpol-Korrespondenz [Spanien, Palästina, Österreich, Russland, Schweiz]
222 Sexpol-Bewegung: Die Sexpol in der internationalen Diskussion [Norwegen, Dänemark, C.S.R., Frankreich, Holland, Amerika]
226 Besprechungen:
Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen (L.)
Lucien Henry: Les Origines de la Réligion / David Forsyth: Psychology and Religion (M.)
Léon Trotski: La révolution trahie / Victor Serge: Destin d'un révolution (lei.)
Willi Schlamm: Diktatur der Lüge (H-P)
Bernhard Menne: Krupp, Deutschlands Kanonenkönige (M.)
Agnes Smedley: China kämpft (H.)

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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 3 (14), S. 203-205

Der Sinn der "religiös-sittlichen" Erziehung

von Prof. Theodor Hartwig, ehem. Vorsitzender der «Internationale proletarischer Freidenker»

In den meisten kapitalistischen Staaten gilt für die Schulerziehung der Jugend noch das Wort: "Ohne Religion keine Erziehung". Denn, so argumentiert das Bürgertum, indem es ein beliebtes Schlagwort des Klerikalismus übernimmt: "Ohne Religion keine Moral !"

Wie sieht diese Moral aus und welches Interesse hat die herrschende Klasse, gerade eine religiös fundierte Moral für die Jugenderziehung zu akzeptieren ? -- Nun, jede Religion beinhaltet Autoritätsgläubigkeit, eine gewisse Weltfremdheit, vor allem aber Ergebenheit in ein durch die gottgewollte Gesellschaftsordnung auferlegtes Schicksal.

Insbesondere das Christentum hat es verstanden, durch Weckung von Schuldgefühlen aller Art, Demut und Unterwürfigkeit in die Seelen der Arbeitssklaven zu pflanzen. Willig ertragen diese Verdammten ihr schweres Los auf Erden, um dereinst im Jenseits für alle Entbehrungen entschädigt zu werden.

Es ist bisher -- selbst von Freidenkern -- viel zu wenig beachtet worden, dass im Mittelpunkt der christlichen Moral das Gebot der Keuschheit steht. Ja, unter der Herrschaft des Christentums ist es dahin gekommen, dass man das Wort Moral geradezu nur im Sinne von Sexualmoral gebraucht. Und zwar im Sinne von Enthaltsamkeit und nicht etwa nur im Sinne der Ablehnung jeder sexuellen Vergewaltigung von minderjährigen oder sozial abhängigen Personen.

Die christliche "Moral" beherrscht die seelische Struktur der meisten Erwachsenen, die ihrerseits bemüht sind, schon dem Kleinkind Sexual-

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angst beizubringen. Insbesondere der Katholizismus hat sich in der Beichte ein Instrument geschaffen, um die Menschen von früher Jugend an "moralisch" zu erfassen. Und aus seinem innersten Wesen heraus muss die katholische Kirche unnachgiebig auf allen ihren Forderungen beharren, die sich auf das Sexualleben der Menschen beziehen: Priesterzölibat, Unlöslichkeit der Ehe, Abtreibungsverbot.

Dem aufgeklärten Menschen mag dieser scheinbar unzeitgemässe Starrsinn sonderbar vorkommen, und doch erweist sich da die Kirche wieder einmal als besser versiert in praktischer Psychologie. Man lese die Ehe-Enzyklika des gegenwärtigen Papstes und man wird -- bei aller persönlichen Gegnerschaft -- die tiefe Einsicht in die seelische Struktur der heutigen Menschen anerkennen müssen. Der Papst weiss genau, dass die Frauen, durch die Wirtschaftskrise zermürbt, neuerlich die Vorteile der Ehe schätzen gelernt haben: Hier sind sie nur einem einzigen Mann versklavt, während sie als Einzelgängerinnen -- im harten Konkurrenzkampf stehend -- oft genötigt waren, vielen Männern sexuell zu Willen zu sein, von denen sie ökonomisch abhängig waren. In der Ehe ist die Frau mehr oder weniger versorgt, und sie ist daher bereit, das Bibelwort anzuerkennen: "Er soll dein Herr sein !" (Hier haben wir -- nebenbei bemerkt -- auch die Erklärung dafür, dass die Frauen in Deutschland, durch den Nationalsozialismus entrechtet, sich dennoch für denselben einsetzten). Ja, die Frau ist sogar an der Unlöslichkeit der Ehe interessiert, selbst, wenn sie unglücklich ist. Was sich dann "christliche Moral" nennt.

Die Familienautorität des Mannes ist wieder hergestellt. Alle Männer partizipieren nunmehr wieder an den sexuellen Dividenden, welche diese Gesellschaft zu vergeben hat. Bei dem Geschäft profitieren am meisten die Proleten, die im "trauten Familienkreise" ihre Minderwertigkeitsgefühle abreagieren können, von denen sie im Betrieb geplagt werden, wo sie -- ihrer Menschenwürde beraubt -- zu blossen Handlungen der Maschine degradiert sind. Der Prolet wird im Kreise seiner Familie zum Diktator und mag er nach aussen hin noch so revolutionär tun. So wird die heutige Familie -- auch jene des Lohnsklaven -- zur Keimzelle des Kapitalismus.

Damit ist der Klassencharakter der religiösen Erziehung enthüllt. Die religiöse Frau ist die -- sexuell -- bequemere Frau. Religiöse Kinder sind "bravere" Kinder; allerdings ist ihr seelisches Rückgrat zerbrochen. Nebenbei ist der durch die Familie gebundene Arbeiter in der Aufrechterhaltung der "Ordnung" interessiert; er hat mehr zu verlieren als seine Ketten. Der Kapitalismus hat wahrlich alle Ursache, die religiös-sittliche Erziehung der Jugend in der Schule zu fördern.

Wenn der Nationalsozialismus in Deutschland heute versucht, ohne den seelischen Beeinflussungsapparat der Kirche auszukommen, so stützt er seine autoritären Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugenderziehung auf einen neuen Mystizismus, der übrigens eine verdammte

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Ähnlichkeit mit der Religion des einst "auserwählten Volkes" hat. Ob der Mythos von Blut und Boden auf die Dauer ausreichen wird, um die psychologischen Erfahrungen der Kirche zu ersetzen, wird erst die Zukunft lehren. Vorläufig erliegen tatsächlich zahlreiche Proleten der imperialistischen Ekstase des Faschismus genau so, wie einst die leibeigenen Bauern der religiösen Ekstase, als die Wirtschaftskriege noch im Zeichen der Religion ausgekämpft wurden.

Jedenfalls hat es bisher der Sozialismus wenig verstanden, die Jugend für seine Ideale zu begeistern. Es mag dies nicht zuletzt daran liegen, dass die ältere Generation selbst noch -- wie oben angedeutet wurde -- an Sexualhemmungen leidet und daher entgegen den proletarischen Klasseninteressen bei der Jugenderziehung in kleinbürgerlichem Sinne wacker mittut und so dazu beiträgt, den Gang der revolutionären Entwicklung zu verzögern. Mit der bloss freidenkerischen Propaganda als Gegengewicht der religiös-sittlichen Erziehung ist da noch wenig getan.


ZPPS, Band 4 (1937), Heft 3 (14), S. 226

Rezension
Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen
Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1936

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Aus einer Reihe von Eindrücken, die bei der Lektüre des letzten Buches von Anna Freud entstehen, seien drei hervorgehoben, die mir besonders charakteristisch erscheinen. Einmal fällt hier wieder die ausserordentlich weitgehende Schematisierung der Begriffe Ich, Es und Über-Ich auf, wie wir sie in der gesamten psychoanalytischen Literatur finden. Kaum etwas spricht noch dafür, dass diese Begriffe einst abkürzende Bezeichnungen höchst lebendiger Prozesse waren. Auch Anna Freud hat diese Begriffe verabsolutiert und arbeitet mit ihnen wie mit scharf abgegrenzten Systemen.

Aus dieser Starrheit lässt sich zweitens auch erklären, dass Anna Freud die Charakteranalyse im Grunde nicht verstehen konnte, obgleich sie sicher von sich aus eine Bereitschaft dazu hatte. Die Art ihres Denkens in den vorher genannten abgrenzbaren Systemen hindert sie, gerade das IneinanderspieIen im charakteranalytischen Prozess zu erfassen. Für sie sind die Bearbeitung des Ichs und des Es zwei von einander getrennte Dinge. So schreibt sie: "Eine Technik, die extrem nach der anderen Seite arbeiten, also die Analyse der Widerstände ausschliesslich in den Vordergrund rücken würde, hätte in ihren Ergebnissen auch die Lücken auf der andern Seite. Wir bekämen auf diese Weise ein vollständiges Bild des Ich-Aufbaus im Analysierten, würden aber auf die Tiefe und Vollständigkeit seiner Es-Analyse verzichten müssen." (S.32) Sie kann sich demnach nicht vorstellen, dass gerade die genaueste Analyse des Ich die beste Möglichkeit gibt, das Es aus allen Tiefen herauszuholen, in die es ja gerade durch die Abwehrhaltung des Ich hineingedrängt war, -- wenn man diese Vorgänge in der psychoanalytischen Sprache benennen will.

Geradezu erschütternd ist aber das Missverhältnis zwischen Beobachtung und Auswertung, wie wir es schon in ihren pädagogischen Schriften kennen gelernt haben. Es würde zu weit führen, es an allen Stellen nachzuweisen. Ich greife hier nur als Beispiel einige Punkte aus ihrer Behandlung der Pubertätsfrage heraus. Sie beschreibt zunächst wieder mit grosser Klarheit und vollkommen richtig die wichtigsten Pubertätserscheinungen, ihre Verläufe, Vielfältigkeiten etc. Sie stellt dann eine Fülle von Vermutungen und Hypothesen über die Entstehung, die Kämpfe auf, die zu den Erscheinungen geführt haben. Dabei lässt sie sich zu folgender Behauptung hinreissen: "Das analytische Studium der Neurosen hat nun schon seit langem zu der Vermutung geführt, dass im Menschen eine Neigung zur Abweisung bestimmter Triebe, besonders der Sexualtriebe, ohne alle Erfahrung und ohne spezielle Auswahl aus phylogenetischer Erbschaft schon von vornherein vorhanden ist..." (S.181) Sic! Und bei der Beurteilung der Verstandestätigkeit kommt sie zu nicht minder merkwürdigen Ergebnissen: "Reale Gefahr und reale Entbehrungen spornen den Menschen zu intellektuellen Leistungen und Lösungsversuchen an, während reale Sicherheit und Überfluss eher dumm und bequem machen." (S.189) Wir werden uns bei dieser Einstellung nicht wundern, wenn sie die Verstandesarbeit, die das Ich in der Latenzzeit leistet, viel höher bewertet als die intellektuellen Leistungen in den Zeiten gesteigerter Sexualität.

Bei all ihren Untersuchungen vergisst sie nur eine: wie nämlich alles aussehen würde, wenn der Jugendliche die ihm zukommende sexuelle Befriedigung ohne Angst und Schuldgefühle geniessen könnte. Was dann mit der Angst vor dem Trieb und mit den Perversionen und andern schrecklichen Dingen geschähe.

Die Zusammenstellung dieser 3 Punkte erfolgte nicht zufällig. Sie haben alle eine gemeinsame Grundlage: Die Unfähigkeit, das Leben in Bewequng sehen zu können und nicht an die Naturgegebenheit bestehender Tatsachen glauben zu müssen. Sie sind wieder ein Beweis dafür, dass auch das richtigste und klarste Beobachtungsmaterial nichts nützt, wenn die Grundhaltung durch all die uns bekannten Momente des bürgerlichen Wissenschaftlers starr bleiben muss.

[Lotte] L[iebeck]


ZPPS, Band 4 (1937), Heft 3(14), S. 228-230

Besprechung:
Léon Trotski: La révolution trahie, Paris: Grasset 1936
(Leo Trotsky: The Betrayed Revolution, London: Faber & Faber 1936)
Victor Serge: Destin d'un révolution, Paris: Grasset 1936

Diese beiden Bücher sind wohl einige der umfassendsten Untersuchungen der Entwicklung in der Sowjetunion in den letzten Jahren und bringen eine Fülle von Material zum Beweis für die These, dass Russland sich immer stärker vom Sozialismus wegentwickelt, weil die Bürokratie und die bevorzugten Schichten, auf die sie sich stützt, andere Interessen haben als die breiten Massen und deshalb in

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einen Gegensatz zu diesen treten und so den Weg zu einer neuen Klasseneinteilung einschlagen, ohne dass diese sich jedoch vorderhand voll herauskristallisiert hätte.

Für uns ist hier von besonderem Interesse, was Trotzki und der belgische Kommunist, der bis vor einem Jahr Gelegenheit hatte, die Entwicklung selbst mitzuerleben, uns über Dinge wie Stellung der Frau, Familienleben, Sexualleben der Jugendlichen und Prostitution zu sagen haben. Das Material leidet darunter, dass diese Dinge, wie sich aus der Einstellung der beiden Autoren von selbst ergibt, nur nebenbei angeschnitten und nicht zum Gegenstand gesonderter Untersuchung gemacht werden. Doch ergibt sich trotzdem für uns manches Interessante.

Ausgangspunkt für die rückschrittliche Entwicklung der Familienverhältnisse ist für Trotzki die Abschaffung der Brotkarten Anfang 1935. Seit diesem Zeitpunkt wenden die besser bezahlten Arbeitnehmer sich immer mehr von der "gesellschaftlichen" Ernährung ab und kehren zu dem dank ihrer hohen Löhne immer besser versorgten Familienmittagstisch zurück. Das bedeutet in Zusammenhang mit der immer schlechter werdenden Bezahlung für Frauenarbeit eine neue Bindung der Frau an den Kochtopf, besonders in den Schichten, wo der Mann genug verdient, um hochwertige Nahrungsmittel sich kaufen, aber nicht genug, um sich Dienstboten leisten zu können, deren Zahl übrigens immer zu- und deren Entlohnung immer abnimmt. Die Festigung der Familienbande nimmt auch auf dem flachen Lande zu: "Der Kolchos liefert durchwegs dem Landwirt nur Getreide und Futter für sein Vieh. Fleisch, Milcherzeugnisse und Gemüse entstammen fast vollständig dem Privateigentum der Kolchosmitglieder. In dem Moment, wo die wichtigsten Nahrungsmittel Früchte der familiären Arbeit sind, kann von Kollektivernährung keine Rede mehr sein". (Trotzki).

Mit der wirtschaftlichen Festigung der Familie geht eine ideologische Festigung derselben einher, und das ist kein Zufall: "Das drängendste Motiv für den augenblicklichen Familienkult ist ohne jeden Zweifel der Bedarf der Bürokratie nach einer festen Rangordnung der gesellschaftlichen Beziehungen und nach einer Jugend, die diszipliniert wird durch vierzig Millionen Heime, die der Obrigkeit und dem Regime als Stützpunkte dienen". (Trotzki) Kurz, die Familie ist auch hier die "Urzelle des Staates", genau wie in den bürgerlichen Ländern.

Diese wiedererstarkte Familienwirtschaft weist auch dieselben Schattenseiten auf wie in den kapitalistischen Ländern. Die "Vernunftehe" lebt wieder auf: "Der Beruf, das Gehalt, die Stellung, die Anzahl der Streifen auf dem Ûrmel gewinnen immer steigende Bedeutung, denn Dinge wie Schuhe, Pelze, Wohnungen, Badeeinrichtung und -- höchster aller Wunschträume -- Auto hängen davon ab. Allein der Kampf um ein Zimmer vereint und entzweit in Moskau jedes Jahr nicht wenige Paare. Die Verwandtschaftsfrage hat eine ausserordentliche Bedeutung erlangt. Es ist bedeutsam, als Schwiegervater einen Offizier oder einen einflussreichen Kommunisten zu haben, als Schwiegermutter die Schwester eines grossen Tiers." (Trotzki)

Hand in Hand mit der Wiedererstarkung der Familienbande geht ein Wiederaufleben der Prostitution, von der Trotzki sagt: "Es kann sich nicht um ein  berbleibsel der Vergangenheit handeln, denn die Prostituierten rekrutieren sich aus den jungen Frauen." Serge will diese Erscheinung vor allem mit "der sehr niedrigen Entlohnung der überwältigenden Mehrheit der jungen Frauen" erklären, die die Mädchen auch veranlasst, "gut verdienende Heeresangehörige oder Parteimitglieder zu heiraten." Ein besonders trauriges Kapitel sind die grausigen äusseren Umstände, unter denen die Prostitution, weil illegal und wegen der Wohnungsnot, arbeitet.

Einen Eindruck von dem Ausmasse der Prostitution, die nach Serge noch weit hinter der anderer Länder zurückbleibt -- wegen der Konkurrenz der Nichtprofessionellen -- gibt eine von Trotzki zitierte Meldung in den «Iswestija», nach der bei einer der in den Grossstädten der Union üblichen nächtlichen Razzien in Moskau fast 1000 Prostituierte auf einen Schlag verhaftet worden sind, wonach ihnen nach Serge administrative Verbannung nach dem Norden oder nach Sibirien droht.

"Die Mädchen führen ihre Freier in dunkle Hinterhöfe, halb abgerissene Kirchen, finstere Gänge, verlassene Gärten, Rumpelkammern. Nachtwächter werden verhaftet, weil sie ihnen Windfangwände von grossen Geschäftsportalen stundenweise vermietet haben. Badeanstalten sind manchmal ihre Zufluchtsorte. Man sieht Trustchauffeure nachts ihre Wagen anbieten."

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Über die Sexualverhältnisse im allgemeinen gibt Serge folgende Pauschalansicht an: "Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind einfach und eher gesund trotz der Brutalität, die der junge Mann oft aufweist, der falschen Verachtung für kleinbürgerliche Vorurteile, der wirklichen sexuellen Freiheit (Les rapports entre les sexes y sont simples, plûtot sains, malgré la brutalité souvent affectée du jeune mâle, le faux dédain des préjugés petits-bourgeois, la réelle liberté sexuelle). Die gemeinschaftliche Erziehung in allen Instanzen ergibt im grossen ganzen gute Resultate. Man bemüht sich um einander, man liebt sich, und die Zahl der glücklichen Verbindungen ist sicher nicht geringer als anderswo. Die Jungfräulichkeit hat einen Teil ihres Werts verloren, ohne dass die Eifersucht merklich nachgelassen hätte. Arm wie sie ist, ist diese Jugend ganz von dem Kampf ums Dasein beansprucht. Sobald sie einigermassen vor dem Hunger sicher ist, denkt sie an die Kleidung, die Koketterie stellt ihre Ansprüche, und nach dem Vorbild, das die Privilegierten ihr geben, bemüht sie sich, Kleidung und Manieren des Westens nachzunahmen. Ein französisches oder deutsches Modeblatt geht von Hand zu Hand und wird eifrigst diskutiert." Demgegenüber stellt Trotzki von den Privilegierten fest: "Die Laster, die die Macht und das Geld um die sexuellen Beziehungen herum erzeugt, blühen in der Sowjetbürokratie, als stellte sie sich als Ziel, die Bourgeoisie des Westens einzuholen."

Was die Auswirkungen des Abortverbotes betrifft, so bringt Trotzki eine Nachricht, nach der "195 von Engelmachern verstümmelte Frauen", davon 33 Arbeiterinnen, 28 Angestellte, 65 Kolchosbäuerinnen und 58 Hausfrauen die Jahresernte für 1935 von einem einzigen Dorfkrankenhaus im Ural gewesen ist.

lei.


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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 3(14), S. 230-231

Besprechung:
Willy Schlamm: Diktatur der Lüge. Zürich:Der Aufbruch 1937

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Nach dem Erscheinen der vorigen Nummer dieser Zeitschrift mit dem Aufsatz Sigurd Hoels über den Moskauer Prozess ging uns obiges Buch zu, das sich gleichfalls mit diesen Prozessen und den sonstigen Wandlungen der russischen Herrschaftsmethoden befasst. Es ist interessant festzustellen, dass Schlamm im 4. Kapitel seiner Arbeit (S. 74-89) fast genau die gleichen Gedankengänge bringt, die Hoel in seiner Untersuchung vorlegt.

Als Ganzes bringt Schlamm ein sorgfältig zusammengestelltes Tatsachenmaterial von erschütternder Eindringlichkeit und enthebt den Leser somit der Arbeit, sich diese Tatsachen selbst mühsam zusammensuchen zu müssen. Die Wenigsten erfahren ja auch solche Details wie die Tatsache, dass der Staatsanwalt Wyschinski früher führender Politiker der rechten menschewistischen Fraktion war -- und dass der Mann, der in der Prawda die ideologische Kampagne gegen die Verurteilten leitete, Saslawski, vor der Oktoberrevolution die Bankzeitung Den redigierte (Lenin spricht in Aufsätzen aus dem Jahre 1917 stets nur von "Saslawski und anderen Schurken").

Leider wird die Wirkung dieser Materialzusammenstellung abgeschwächt durch Art und Ton der Verarbeitung und Erklärung. Schlamm spielt mit der Sprache, verliebt sich in Wortspiele, und dadurch verliert der anklagende Ton an Eindringlichkeit. Die Darstellung Schlamms ist eine Streitschrift, zwar an die Arbeiter und Intellektuellen gerichtet, aber er irrt sich, wenn er sich davon eine Wirkung verspricht. Solange die Massen, die sich in den Arbeiterparteien befinden, nicht durch die unwiderlegbaren Tatsachen selbst überzeugt werden, solange sie nicht vor die unmittelbare Notwendigkeit gestellt werden, um ihrer selbst willen mit den Methoden, die jetzt in der SU Sozialismus genannt werden, zu brechen, solange kann ein noch so flammendes Pamphlet keinen Widerhall finden.

Das allgemeine Gefühl aller derer, die sich mit den kürzlichen und besonders den gegenwärtigen Ereignissen in Russland beschäftigen, ist das des Nichtbegreifens, des Schreckens, der Unsicherheit und des Verlierens aller gewohnten Massstäbe. Schlamm hilft aus diesem Konflikt nicht heraus. Denjenigen, die Russland und alles, was dort geschieht, als Fetisch und unantastbar betrachten, stellt er seinerseits abstrakte Moralkategorien entgegen -- aber Stalins Handlungsweise kann nicht durch Schimpfen auf ihn und seine Taten bewältigt werden, sondern nur durch gründlichste und ernsthafteste Untersuchung, wie es in Russland zu

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einer Entwicklung kommen konnte, die ein solches Handeln von Stalin für ihn notwendig und unabweislich macht. Diese Arbeit muss noch geleistet werden. Gleichwohl ist aber Schlamms Buch ein erstes mutiges Wort.

H-P


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