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ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 2, Heft 1 (5) (1935)

 Band 2, Heft 1 (5) (1935) 
1 Red.: An unsere Freunde und Leser !
5 Wilhelm Reich: Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie
14 J.H. Leunbach: Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik
26 "Jonny": Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms
32 Walter Roner [Wilhelm Reich]: Die Funktion der "objektiven Wertwelt"
44 Anna Hartmann: Kleinbürgerlicher Individualismus
46 Ernst Parell [Wilhelm Reich]: Ein Gespräch mit einem Frisörgehilfen
48 Lasst Blusen sprechen!
50 Julius Epstein: Das neue Homosexuellen-Gesetz Sowjet-Russlands
52 J.H. Leunbach: Magnus Hirschfeld in memoriam
54 Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
61 Ein Abtreibungsprozess in Dänemark [gegen Leunbach]
64 Sexpol-Schulung
64 Geschichte der deutschen Sex-Pol-Bewegung II
71 Besprechungen:
Käthe Misch: Die biologischen Grundlagen der Freud'schen Angsttheorie (E.P.)
Ferdinand Blumenthal: Ergebnisse der experimentellen Krebsforschung und Krebstherapie (E.G.)
Hermann Reiss: Versuch einer mechanistischen Analyse des Seelen- und Nervenlebens (X.)
Marc Lanval: La stérilisation sexuelle (L.)
Herbert Goddard: Die Familie Kallikak (L.)
August Forel: Rückblick auf mein Leben (Wilhelm Reich)
[Auszug aus] Josef Kalnikow: Frauen und Mönche
Isak Dinesen: Seven Gothic Tales (L.)
D.H. Lawrence: Lady Chatterley's Lover (L.)
Willi Bredel: Die Prüfung (Role.)
Jörg Willenbacher: Deutsche Flüsterwitze (Role.)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 2 (1935), Heft 1 (5), S. 1-4

An unsere Freunde und Leser!

Die vorliegende Nummer unserer Zeitschrift erscheint mit unverhältnismässiger Verzögerung. Der Grund für diese Unterbrechung ist nicht so sehr in den in solchen Fällen beliebten technischen Schwierigkeiten zu suchen (die freilich auch nicht gering waren), sondern darin, dass die Sexpol in der letzten Zeit durch eine Reihe ernster Auseinandersetzungen hindurch musste.

Wer aus den bisherigen Veröffentlichungen der Sexpol einen Eindruck von der Wucht und Bedeutung der Probleme gewonnen hat, mit denen wir zu ringen haben, der wird einsehen, dass wir uns diese Auseinandersetzungen und das damit verbundene Stillschweigen gestatten mussten und -- denjenigen unserer Leser, auf die es uns ankommt, zumuten durften.

Im Zuge der Diskussionen, die in unseren Reihen in der letzten Zeit geführt wurden, tauchte immer wieder das Verlangen auf, anstelle oder in Ergänzung unserer bisherigen Zeitschrift eine weitere "populäre" Zeitschrift herauszubringen, um die Auffassungen und Aussagen der Sexpol zu popularisieren.

Wir sind zu dem Entschluss gekommen, auf eine solche Publikation zu verzichten, zugleich aber sehr ernsthaft auf das zu hören, was diese Stimmen eigentlich meinten, ohne es genügend klar auszusprechen.

Wohl ist es bisher der Sexpol gelungen, wissenschaftlich einwandfreie Formulierungen in populärer Form auf dem Gebiete der  e i g e n t l i c h e n  Sexualpolitik zu finden und sich durchaus verständlich zu machen. Dagegen müssen wir rückhaltlos zugeben, dass die Anwendung der wissenschaftlichen Strukturforschung auf dem Gebiete der entsexualisierten seelischen Reaktionen auf das reale Leben der Gegenwart bisher noch nicht gelungen ist und dass offenbar der korrekte Zugang dazu noch nicht gefunden wurde. Es gibt noch keinen unter uns, der in sich die Fähigkeit vereinte, hier populäre Form mit exakt wissenschaftlichem Inhalt zu erfüllen.

Wir sehen ein, dass dieses Brückenschlagen eine Arbeit war die,

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wir dem Leser zumuteten -- und nicht zumuten durften, dass wir selbst, erfasst von der Fülle der Problematik, die sich bei jedem Schritt weiter vor uns auftat, oft im Einzelproblem stecken blieben und es unterliessen, immer und immer wieder die grossen Linien aufzuzeigen, auf denen alle Forschung der Sexpol beruht. Jene Linien, die nicht von der Sexpol künstlich gezogen worden sind, um ebenso künstliche Hypothesen hineinzukonstruieren, sondern die das Leben selbst zieht, und deren Ausdeutung -- nicht mehr und freilich auch nicht weniger -- der Sinn unserer Arbeit ist.

Diese Zeitschrift dient -- um es mit allem Nachdruck noch ein übriges Mal zu sagen -- der Arbeiterbewegung, also jener Bewegung im weitesten Sinne, die nichts Geringeres unternehmen will, als an die Stelle der bestehenden Gesellschaftsordnung die neue Ordnung des Sozialismus zu setzen.

Es ist verständlich, dass die Mehrzahl der Anhänger aller der tausend Variationen, die es innerhalb der Arbeiterbewegung über Weg, Methode und Zielgestaltung gibt, in dieser vorstehenden Erklärung ungefähr den Gipfel der Verschwommenheit erblicken mögen, der überhaupt zu erreichen ist.

Solche Kritiker verharren in dem gleichen Fehler, den wir selbst begangen haben, aber erkannten und nunmehr zu beseitigen versuchen.

Sie sind von der Sonderproblematik der besonderen Situation, in der sie sich befinden, erdrückt worden, und machen ihre Sonderantwort, die sie gefunden haben, zum allgemeingültigen Massstab des gesellschaftlichen Geschehens. Dass in einem solchen Verhalten sich letzten Endes sehr tiefliegende persönlich-menschliche (also "unsachliche") Motive ausdrücken -- dies ans Licht zu bringen ist eine der Aufgaben der Sexpol, aber nicht dieses Aufsatzes.

Wir sehen es als eine unserer vornehmsten Aufgaben an, auf eine Tatsache hinzuweisen, die der Arbeiterbewegung im Kampfe des Tages aus dem Blickfeld geraten ist und deren Nichtberücksichtigung nach unserer festen Überzeugung eine der Ursachen ist, warum die Arbeiterbewegung nicht längst ihr Ziel erreicht hat, sondern im Gegenteil in der Gegenwart durch eine Epoche schwerer Bedrohung, Schwächung und ernster Niederlagen hindurchmuss.

Dies ist die Einsicht, dass unsere moderne Gesellschaft mit ihrem ausgeprägten Klassencharakter nicht etwas ist, das gewissermassen aus dem leeren Raum in den Bereich der Geschichte geraten ist, sondern dass sie -- in allen ihren Erscheinungs- und Wandlungsformen -- lediglich die äusserste Spitze einer ungeheuren Pyramide, der derzeitige Schlusspunkt einer jahrtausendelangen Entwicklung ist, die, in welchen Formen es auch immer sei, gekennzeichnet ist durch geistige, körperliche und ökonomische Unterdrückung der Mehrheit der Menschen durch eine herrschende Oberschicht, nicht zuletzt und vielleicht entscheidend in der Form der sexuellen Unterdrückung.

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Und diese Einsicht, verbunden mit einer leidenschaftslosen Betrachtung der Geschichte, nicht zum wenigsten der Geschichte der Arbeiterbewegung, führt zu der weiteren Erkenntnis, dass das Bewusstsein der Menschen nicht Schritt gehalten hat mit dem Ablauf der Entwicklung, dass Jahrtausende alte Traditionen, Bindungen, Autoritäten in ihrem Bewusstsein verwurzelt sind, die nicht aufzulösen sind allein durch eine noch so überzeugende und objektiv richtige Beweisführung, die sich etwa nur auf die ökonomischen Tatsachen unserer Gegenwart stützt. Sehen wir nicht am Beispiel Deutschlands und aller der anderen in aller Welt blühenden Faschismen, dass das rasende Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung, das objektiv längst zur sozialen Revolution hätte führen müssen, zunächst einmal Panik im Bewusstsein der Massen hervorrief, das sich seiner "Ungleichzeitigkeit" dumpf bewusst wurde und den unwiederbringlichen Verlust aller eingewurzelten und gewohnten Massstäbe fürchten musste ? Und aus der Furcht vor dem sich rasend nähernden Kommenden und Ungewissen, im unklaren Gefühl, die gewohnte Grundlage aufgeben zu müssen, griff man mit dem Instinkt des Ertrinkenden nach den Fetischen, die sich in der Maske der angeblich ewigen Werte anboten -- der Faschismus fand bereiten Boden.

Diese Tatbestände richtig zu sehen, sie in ihre tiefsten Wurzeln zu verfolgen, ihre Mechanismen aufzudecken, das ist eine der Voraussetzungen, die die Führung der Arbeiterbewegung besser als bisher befähigen können, eine wahrhaft revolutionäre und proletarische Politik zu machen. Und diese Voraussetzung schaffen zu helfen sehen wir als die Aufgabe der Sexpol an. Wir sowohl wie unsere Leser müssen sich dabei klar sein, dass eine solche Arbeit sich nicht durch revolutionär klingende Fanfaren leisten lässt, sondern dass hier gründliche wissenschaftliche Arbeit getan werden muss, die auch vom Leser Mitarbeit verlangt und die Bereitschaft, gelegentlich auch durch scheinbar trockene Materie sich hindurchzuarbeiten.

Wenn wir uns nicht weniger vornehmen, als in den Menschen, die uns hören, ein neues Bewusstsein, ein wahrhaftes "Klassenbewusstsein" nicht so sehr zu schaffen als auszulösen und von seinen inneren Widerständen zu befreien, so sind wir uns klar darüber, dass diese Widerstände und damit die Gegnerschaft zu unseren Meinungen besonders stark bei solchen Menschen sein wird, in denen und in deren Organisationen dieselben Faktoren wirksam sind wie in der heutigen Gesellschaft als Ganzes, also Tradition, autoritäre Bindung und dergleichen mehr.

Es kann uns ja auch nicht genügen, wenn man da und dort bereit ist, unsere Fragestellung und vielleicht noch die allgemeine Antwort zu akzeptieren, gleichzeitig aber am Kern der Sache vorbeigeht, dass nämlich Ideologie und Strukturbildung ein in seinem Wesen sexualökonomischer Prozess und daher eben die Sexualpolitik die einzig korrekte Praxis ist, die daraus hervorgeht. Diesem Kern sich

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gegenüberzustellen und die entsprechenden Folgerungen zu ziehen, das erscheint als eigene Bedrohung und als ein Wagnis, dem man sich lieber entzieht.

So ist unsere Arbeit nicht (und kann nicht sein) Massenarbeit, wie es etliche unserer Freunde erträumen, sondern sie kann bestenfalls aus den uns jeweils erreichbaren Massen diejenigen anrufen und mit ihnen sprechen, die geeignet sind und sein werden, die Avantgarde der kommenden Revolution zu bilden. Ohne sie wird die Revolution nicht oder -- was schlimmer ist -- erfolglos sein.

Die Redaktion der Zeitschrift.


ZPPS, Band 2 (1934), Heft 1, S. 32-43

Walter Roner [Wilhelm Reich]
Die Funktion der "objektiven Wertwelt"


Dieser Aufsatz wurde im Juli 1932, bald nach Erscheinen des Sammelbandes «Sexualpädagogische Probleme» (hg. [von Johann Peter Steffes] im Auftrage des "Deutschen Instituts für wissenschaftliche Pädagogik", Münster i.W.: Münster-Verlag 1931] abgefasst. Seiner Publikation standen die "Rücksichten" aller in Frage kommenden Zeitschriften entgegen. Er ist heute aktueller denn je und gilt im übrigen auch als Kritik aller ähnlich gearteten Anschauungen.


Der grundlegende Gegensatz, in dessen Grenzen sich das philosophische und religiöse Denken des Patriarchats bewegt, ist der Gegensatz von sexuell-sinnlich und asexuell-geistig. Er erscheint in der Kulturgeschichte in den verschiedensten Abwandlungen, die sämtlich auf den einen genannten Nenner zurückzuführen sind. In den Fesseln dieser Antithese fing sich die gesamte Moralwissenschaft, ohne sich je aus ihnen befreien zu können, weil sie die Entstehung dieses Gegensatzes selbst nie begriff; und sie konnte ihn nicht begreifen, weil sie zur gesellschaftlich diktierten Aufrechterhaltung dieser Gegenüberstellung eine absolute Welt der Werte a priori annehmen musste. Solchermassen war ihr der Weg zur Erkenntnis der Relativität dieser Antithese versperrt. Wir nennen einige typische Varianten bzw. Abkömmlinge des Gegensatzes von "sexuell" und "geistig": tierisch - menschlich, irdisch - überirdisch, fleischlich - geistig, teuflisch - göttlich, böse - gut, vergängliche Lust - ewige Seligkeit, Sünde - Reinheit, ketzerisch - gläubig etc.

Die nationalsozialistische Ideologie von der "Rassereinheit" ist der konsequenteste Ausdruck dieser Gegenüberstellung. (Vgl. Kap. «Die Rassetheorie» in [Reichs] «Massenpsychologie des Faschismus», 2. Auflage.) Tritt bei einem Wissenschaftler die Neigung, "gut" und "böse" im Sinne von "geistig" und "sexuell" gegenüberzustellen, besonders hervor, wie bei Prinzhorn, Klages, Heidegger u.a., ist im gleichen Masse mit ihrer faschistischen Gleichschaltung zu rechnen.

Die drängenden Aufgaben der proletarischen Bewegung verbieten eine umfangreiche und ins einzelne gehende Kritik dieser Eigenschaft der bürgerlichen Philosophie vom Standpunkt der Sexualökonomie, vorläufig wenigstens. Doch ist eine kurze und prinzipielle Klärung

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einiger Fragen unerlässlich, die unseren wissenschaftlichen Betrieb betreffen, weil er den Zugang zu theoretischen sowohl wie praktischen Fragen der Kulturpolitik im allgemeinen wie der Sexualpolitik im besonderen versperrt. Will man die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion einer Wissenschaft, wie etwa der Jugendkunde, richtig einschätzen, so muss man vor allem die weltanschaulichen Positionen der bürgerlichen Wissenschaft aus den wissenschaftlichen Aussagen, mit denen sie sich zu ihrem Schaden verflechten, herausschälen. Auch auf diesem Gebiete zeigt sich, dass die politische Reaktion die Gefahren, die sie von jeder neuen Entdeckung her bedrohen, viel rascher und gründlicher erfasst als die revolutionäre Wissenschaft den Nutzen der gleichen Entdeckung für die Umwälzung des gesellschaftlichen Seins.

Die Psychoanalyse Freuds schuf die naturwissenschaftlichen Grundlagen einer Erziehung der Jugend nach den Gesetzen der Sexualökonomie, zu deren Begründung sie die wichtigste Voraussetzung war. Im Lager der Psychoanalyse wurde nun die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Entdeckungen nicht nur nicht erkannt, sondern vielmehr in einer Weise ausgewertet, die ihre tatsächlichen Konsequenzen verdunkelte; das bedeutet, dass sich die Vertreter der Psychoanalyse dieser Konsequenzen an keiner Stelle bewusst wurden, dass z.B. der offizielle Pädagoge der Psychoanalyse, Bernfeld, an keiner Stelle die Frage des Geschlechtsverkehrs der Jugend auch nur wissenschaftlich untersuchte. Es ist nun ebenso interessant wie für unsere Aufgaben wesentlich, dass der rechte Flügel der bürgerlichen Pädagogik -- vertreten durch das "Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik" (Leiter: J. P. Steffes, Berlin) -- die von uns vertretene Auffassung über die soziologischen Konsequenzen der Psychoanalyse bis zu einem hohen Grade durchschaute und die Lehre Freuds gerade aus diesem Grunde ablehnt.

Diese Arbeit leistete vornehmlich der Wiener Psychologe und Philosoph Rudolf Allers -- Mitherausgeber der [an Alfred Adler orientierten] «Zeitschrift für ärztliche Psychotherapie», Mitglied der katholischen Leogesellschaft -- in einem ausführlichen Artikel «Sexualpsychologie als Voraussetzung einer Sexualpädagogik» [im eingangs genannten Sammelband]).

Dieser Artikel gewinnt für uns seine Bedeutung aus drei Gründen: erstens durch die Ablehnung der Psychoanalyse, zweitens dadurch, dass ein überzeugter Katholik sie vertritt, drittens, weil er uns zeigt, wie die idealistische Fragestellung nach absoluten, überindividuellen Werten mit der Beurteilung der Sexualität und der Stellungnahme zu ihr nicht nur zusammenhängt, sondern vielmehr zentral durch sie bestimmt ist.

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Im Vorwort schreibt der Leiter des Instituts, Steffes:

Die sexuelle Zone hat im Rahmen der menschlichen Entfaltung eine ungeheure Bedeutung: physiologisch-vital im Dienste der Reife, der Fortpflanzung und Eugenik; psychologisch im Sinne von wesenhafter Ergänzung, Ausweitung und Vertiefung; soziologisch als Grundlage des familiären, volkhaften und staatlichen Aufbaus; metaphysisch als Ab- und Nachglanz des göttlichen Schöpfertums; religiös als naturhafte Voraussetzung der Existenz und der Ausbreitung des Reiches Gottes. So erweist sich das sexuelle Moment eingeordnet in ein grosses Sinn- und Zwecksystem, das ihm selbst eine erhabene Weihe verleiht.

Hier finden wir metaphysische Auffassung zugleich mit finaler Beurteilung, sowie die typischen reaktionären Zuordnungen der Sexualität zum "Wesen" der Person und des Staates.

Die politische Reaktion erkennt die soziologische Bedeutung der Sexualität im Negativ, d.h. die Rolle der Sexualverneinung. Schon in der Vorrede ist die Wertordnung in Beziehung zur Sexualerziehung gebracht:

Das Bestreben des Erziehers wird dahingehen müssen, der heutigen Jugend in vollem Verständnis und in voller Würdigung ihrer Eigenart (was gesagt werden muss, damit die Jugend nicht davonrennt. W. R.) eine christlich religiöse, weItanschaulich geordnete und gefestigte Werteordnung zu vermitteln, die sie befähigt, im Drange der Erlebnisse und Bedürfnisse nie die gesunde Orientierungslinie zu verlieren, und die sie von innen heraus charakterhaft so festlegt, dass sie von den Stürmen der sexualen Welt nicht entwurzelt wird, sondern zur vollen Verwirklichung der Werte kommt, die in der Geschlechtsbestimmung des Menschen der Möglichkeit nach ruhen.

Das klingt wie eine Ansammlung von sinnleeren Phrasen, aber wie immer: Hinter jeder Phrase steckt eine Wirklichkeit; der Hüter der Werteordnung (lies: bürgerlichen Werteordnung) weiss, was er will. Hören wir nun Allers.

Allers ist nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch sonst Anhänger der Individualpsychologie [Alfred Adler], so dass wir die Möglichkeit haben werden, auch die Motive zu fassen, die die Individualpsychologie in die Welt beförderten.

Allers beginnt mit einer Kritik der kausalen Betrachtungsweise der Psychoanalyse; ihr Fehler sei, das Studium der sexuellen Entwicklung mit der des Kleinkindes zu beginnen und von hier Aussagen zu machen. Denn:

Alle Entwicklung erhält ihren Sinn erst von dem Ziel her, auf das hin sie sich bewegt, und kann auch nur von dort herbegriffen werden. (S. 5.)

Der "Wille zur Macht" und sein Widerpart, der "Wille zur Gemeinschaft", die die Ziele der Entwicklung bestimmen, wären "absolut ursprüngliche letzte Gegebenheiten und nicht weiter auf noch anderes zurückführbar". Darin sieht Allers, wie Adler und alle seine Schüler, auch wenn sie Kommunisten sind, den grundlegenden Unterschied gegenüber den Auffassungen der Freudschen Psychoanalyse. Denn dieser bedeute die "Libido" eine absolut letzte Potenz im Menschwesen, aus der erst durch besondere Umwandlung so etwas wie Wille zur Gemeinschaft hervorgehen könne.

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Daher verschliesst sich für die Psychoanalyse jede Möglichkeit, Sexualität oder Sexualverhalten als "Ausdruck" für etwas anderes (also z.B. für den Willen zur Macht W. R.), Ursprünglicheres anzusehen. Die hierin gelegene Verkehrung des Sachverhaltes hat ihre Wurzeln in der biologistisch-naturalistischen (letzten Endes sogar rein materialistischen) Grundanschauung, welche die Psychoanalyse von je vorausgesetzt hat und ausserhalb derer ihr System schlechthin gar nicht aufrechterhalten werden kann.

Der Metaphysiker und gläubige Christ Allers macht also der Psychoanalyse den Vorwurf der "sogar rein materialistischen" Grundanschauung. Und er hat von seinem Standpunkt aus mit diesem Vorwurf durchaus recht. Der Materialismus der Psychoanalyse verträgt sich in keiner Weise mit irgend einer Metaphysik, auch nicht mit dem Finalismus der Individualpsychologie und ihrer Weltanschauung. Der Kern des psychoanalytischen Materialismus ist gerade ihre Libidotheorie, d.h. die Lehre von der psychischen Energie und der energetischen Funktion der seelischen Prozesse. lm Gegensatz dazu postuliert der Individualpsychologe Allers, dass die Sexualität als Sonderfall des mitmenschlichen Verhaltens überhaupt angesehen werde, denn nur so werde verständlich,

dass eine den Seinsgesetzlichkeiten gemässe Einstellung zur mitmenschlichen Umwelt, welche wir als Gemeinschaft bezeichnen, Voraussetzung einer normalen Einstellung auch im Sexualen sei; d.h. Abwegigkeiten in der Sexualentwicklung und dem bereits entwickelten Sexualverhalten gründen letztlich in unrichtiger Gestaltung der Einstellung zum Mitmenschen überhaupt.

A llers geht als konsequenter metaphysischer Finalist vom Ziel aus und beurteilt von da her die Abweichungen. Aber woher stammt die "unrichtige Gestaltung der Einstellung zum Mitmenschen" ? Die Grundentdeckung der Psychoanalyse ist, dass diese unrichtige Einstellung zum Mitmenschen (notabene: zu welchem ?) zusammen mit der bereits entwickelten "Abwegigkeit" im Sexualverhalten selbst Folgen einer vorausgegangenen Störung durch bestimmte Einflüsse der Erziehung sind, die zu untersuchen gerade Allers am eifrigsten meidet und meiden muss. Und dies aus folgendem Grunde.

Die Individualpsychologie war in dem Augenblicke, wo sie sich mit ihrem Finalismus in Gegensatz zum Freudschen Kausalismus, mit ihrem Anspruch, eine Weltanschauung zu sein, in Gegensatz zur Wissenschaft überhaupt brachte, die erste metaphysische Entartung der Psychoanalyse, wenn wir von Jungs "kollektivem und überindividuellem" Unbewussten absehen. Wenn der Wille zur Gemeinschaft umfassender und primärer ist als die Libido, wenn diese bloss ein Ausdruck von jenem ist, so hat man seine "sozialistische" Gesinnung "bewiesen", ohne die Metaphysik abstreifen zu müssen. Warum strebt der Säugling, wenn er nach Nahrung schreit, "über sich hinaus" ? Nach Adler und Allers, weil er einen Willen zur Gemeinschaft hat, wenn er nicht gar dadurch seiner Mutter seine Macht zeigen und sie dadurch beherrschen will. Nicht, weil Veränderungen im elektrolytischen Gleichgewicht der Gewebe seiner Eingeweide eine

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Spannung erzeugen, die ihn einfach schreien lässt, ohne dass er eine Ahnung davon hat, dass eine Mutter und eine Aussenwelt überhaupt existieren. Dass das Kind zur Mutter erst viel später psychisch hinstrebt, wenn sich die Erfahrung wiederholt hat, dass eine bestimmte Person durch eine bestimmte lustbringende Handlung die Spannung und Unlust beseitigt, dass sich erst auf dieser Grundlage ein Wille zur Gemeinschaft überhaupt herausbilden kann, ist für einen Gläubigen ein Buch mit sieben Siegeln, denn wo käme dann der Anspruch nach "objektiven Werten" zu seinem Recht, die in Widerspruch stehen zu den natürlichen Bedürfnissen. Wir werden sofort beweisen, dass die Forderung der Existenz einer absoluten Wertwelt, jenseits der Natur und Erfahrung, im Kopfe des Metaphysikers vor aller Untersuchung von Tatbeständen vorhanden ist und zu ihrer Aufrechterhaltung die Verleugnung gerade derjenigen Fakten benötigt, deren klare Erkenntnis ihr den Boden untergräbt. Die ganze Argumentation dieser "Wissenschaftler" geht nach dem Satze vor, dass nicht sein darf, was nicht sein soll. Hier der Beweis.

Allers begibt sich, man muss sagen, mutig (weil völlig ahnungslos) auf das Gebiet des Widerspruchs von "Wert" und "Gesundheit". Wir danken ihm dafür, dass er klar ausspricht, was seine Gesinnungsgenossen meist in Phrasen verschleiern. Was ist also im Bereich des Sexuellen normal und was abnormal ?

So wie es biologisch gesehen durchaus normal sein könnte, dass der Mensch, irgendeines ihn lockenden Gegenstandes ohne Rücksicht auf Eigentumsbegriff und Rechtssatzung sich bemächtige -- tatsächlich sehen wir ja solches beim Kleinkind -- so könnte manches sexuale Verhalten in der Ebene des Biologischen völlig normal sein, dennoch aber abwegig in einer anderen. (l.c. S.16.)

In welcher anderen Ebene ?
AIlers fragt selbst:

Mit welchem Rechte darf man dann von Abnormem oder Abwegigem überhaupt sprechen ? Dies ist nun eine Frage zunächst der Sexualethik und nicht der Sexualpsychologie.

Kommen wir noch nicht mit der weiteren Frage, mit welchem Recht und von wem dazu berufen die Sexualethik über abnorm und normal Aussagen machen darf, was die Inhalte ihrer Aussagen bestimmt. Allers meint ganz ernstlich, der objektive Geist diktiere die Normengebung, wir meinen dagegen, dass durchaus irdische Geister dies besorgen. Hören wir weiter:

Hier zeigt sich eben deutlich an, dass Psychologie sozusagen sich nicht selbst zu genügen vermöge (vermöge!), dass sie, um Fragen ihres eigensten Problemenkreises zu beantworten, ja sogar schon, um sie richtig formulieren zu können, sich selbst transzendieren und an ausserpsychologischen Tatbeständen, nämlich solchen einer Wertlehre, zu orientieren gezwungen sei.

Wir sind ebenfalls der Ansicht, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse an Weltanschauungen gebunden sind, fragt sich nur an welche. An eine derartige, die zur Erkenntnis der Welt hindrängt,

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oder an eine, die von ihr wegführt. Für uns ist die wirkliche Erkenntnis frei von weltanschaulichen Stellungnahmen, die Konsequenz aus der Erkenntnis dagegen durchaus weltanschauliche Praxis. Für Allers und seine Gesinnungsgenossen muss die Wissenschaft von vorneherein, um überhaupt Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, sich "transzendieren", an einer Wertlehre orientieren, das heisst auf der Hut sein, ob der objektive Geist dazu auch ja sagt. Als dialektische Materialisten stellen wir einfach fest, dass die Onanie des Kleinkindes natürlich gegeben ist, dann werten wir diese Feststellung zur Kritik der Religion und zur wissenschaftlichen Fundierung der Erziehung (gleich Weltanschauungsfrage) aus. Allers sieht sich erst ängstlich um, was sein objektiver Geist zu der blossen Feststellung der Onanie der Kinder als einer sexuellen Handlung sagen könnte, und danach trifft er seine Feststellungen. Und das nennt sich Wissenschaft, nicht ohne sich darauf etwas einzubilden. Es lohnt, diesen objektiven Geist näher zu betrachten.

Umgekehrt aber zeigt sich -- und das ist höchst beachtlich --, dass Erscheinungen, die wohl, rein biologisch angesehen, nicht als abnorme, zumindest nicht in dem Sinne einer vitalen Schädigung aufzufassen sind, sich aber, gemessen an der Wertordnung, als fehlgerichtete erweisen, dennoch in einem tiefen Sinne ungesunde heissen müssen, soferne sich in ihnen Grundhaltungen der Person ausdrücken oder kundgeben, welche danach angetan sind, den Menschen mit der ihn umgebenden Wirklichkeit in Konflikt zu bringen und daher Leiden zu stiften. (l.c. S.17)

Zeigt sich, was m.E. bei hinlänglich vorgetriebener Analyse unabweislich aufdringlich wird, dass bestimmte Weisen sexualen Verhaltens, ohne im bloss Vitalen schädigend zu wirken, Anzeichen einer tiefergreifenden Zerfallenheit des Menschen mit der Wirklichkeit seien, so rechtfertigt sich damit zugleich, allen auf bloss biologischen Erwägungen und Erfahrungen gegründeten Einreden zum Trotz, die moralische Verurteilung eben dieser Verhaltungsweisen. In der Tat bedeuten die sog. Perversionen ... als solche keine vitale Schädigung; sie sind für die Lebensdauer und Lebenstüchtigkeit, soferne unter Leben nur die Erhaltung des biologischen Funktionierens begriffen wird, völlig irrelevant. Wenn. von ihnen trotzdem in einer Sexualpathologie gehandelt wird, so bestätigt sich darin eben der Gedanke, dass diese Erscheinungen doch letzten Endes pathologische, nicht aber in der Ebene des Vitalen, sondern in der höheren des Personalen genannt zu werden verdienen. (l.c., S.17)

Was zu beweisen war! Die höheren Werte fordern die Verurteilung der sexuell abnormalen Erscheinungen, also sind sie überhaupt keine vitalen Schädigungen, "als solche biologisch und für die Gesundheit belanglos", auch wenn der gestörte Libidohaushalt die Arbeitsfähigkeit zerstört, der Melancholiker sich umbringt, der Sadist Mädchen mordet. Also ist die Onanie des Kleinkindes und der Geschlechtsverkehr des Jugendlichen abnormal, denn dadurch entstehen tatsächlich Konflikte mit der Wirklichkeit. Also ist die Angstneurose einer sexuell unbefriedigten Frau oder ihr Versuch, sich der Krankheit durch ausserehelichen oder vorehelichen Verkehr zu entledigen, ein "abwegiges Verhalten", denn es bringt Konflikte mit dem Gatten, den Eltern und den objektiven Werten. Das ist logisch, nicht im Scherz gemeint, sondern ganz ernst, wie sofort ersichtlich werden wird.

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Die Vertreter der objektiven Werte, nach denen sich das Handeln und Beurteilen von Normalem und Abnormalem zu richten haben, leugnen ja im allgemeinen, um es sich leichter zu machen, die biologischen Tatsachen, wie etwa die sexuelle Bedürftigkeit des Kleinkindes. Allers ist nicht so plump, er weicht der Schwierigkeit -- anders aus, in einer Weise, die uns die Beweisführung über die gesellschaftliche Funktion der logischen Deduktionen überhaupt möglich macht. Er gibt den Widerspruch zwischen biologischem und ethischem Soll zu. Er gibt auch zu, dass dieser Widerspruch Pathologisches zeitigt, auch wenn er sich wieder aus dieser Feststellung herauszuwinden versucht. Die Frage ist nur, welche Gründe dieser Widerspruch selbst hat. Der Christ und jeder ihm Geistesverwandte fordert vom Standpunkt eines abstrakten, ewigen, überirdischen Soll. Der liberale Bürger, der materialistische Forscher, der gleichzeitig weltanschaulich Metaphysiker ist [Freud z.B.], glaubt in seinen wissenschaftlichen Aussagen anethisch zu sein. Der dialektische Materialist bekennt sich zu einer anderen Werteordnung. Dasselbe in Grün ? Wir werden das sofort entscheiden können.
[ ... ? ... ]
...spruchs zwischen "Wert" und biologischem Anspruch, indem er zunächst mit der Voraussetzung des Metaphysikers bricht, dass die Wertwelt wissenschaftlicher Untersuchung unzugänglich sei. Er rückt sie selbst in den Bereich dieser Welt. Um beim Beispiel von Allers zu bleiben: Er fragt etwa nach der Herkunft des Eigentumsbegriffes und entdeckt das Klassenverhältnis, die Ausbeutung und andere schöne Dinge mehr. Will der abstrakte Ethiker nicht ein geistiges Luder sein, so muss er entweder sofort seinen "Wert" umstellen, oder aber er muss, um weder vor sich selbst als geistiger Akrobat zu erscheinen noch auch seine bürgerliche Position zu riskieren, die Gründe des Wertes: "Eigentum ist unantastbar", verleugnen. Indem der dialektische Materialist aber die Werteordnung selbst ableitet, verändert sich sofort auch die Stellung zum Widerspruch; dann ergibt sich eine "Werteordnung", die das Ethische, Seinsollende in der Beseitigung des Widerspruchs zwischein biologischem und ethischem Anspruch erblickt. Muss der Metaphysiker, um seine Wertwelt zu halten, das wissenschaftliche Erkennen einschränken, so ist für den Marxisten die Heranziehung aller möglichen Erkenntnis zur Festigung und Durchsetzung seiner Wertwelt unerlässlich. Wissenschaftliche Weltanschauung steht gegen die Weltanschauung der objektiven Werte. Jene hebt die objektive Wertwelt selbst auf, die sich gerade auf dem aufbaut, was sie verurteilt, die nur dann und nur solange bestehen kann, wie ihre Grundlage anerkannt ist. Da die abstrakte Wertwelt ihre eigene Herkunft, soll sie sich nicht selbst aufgeben, nicht zu erkennen vermag, muss sie sich ins Transzendente versetzen. Indem wir ihre irdische Herkunft erkennen, gelangen wir zur Kritik ihrer Basis, dadurch zur revolutionären Praxis auf jedem Gebiet. Die Aufhebung der gesell-

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schaftlichen Voraussetzungen des Eigentums-"Wertes" hebt auch den Widerspruch zwischen biologischem Soll, d.h. Nahrungsbeschaffung, und ethischem Soll, d.h. Privateigentum an Produktionsmitteln, auf. Was vor dem Erkennen der irdischen Zusammenhänge als objektiver Wert positiv erlebt wurde, verfällt mit solchem Erkennen automatisch negativer Bewertung. Es ist sehr bemerkenswert, dass im sexuellen Leben nur das Bürgertum den Widerspruch zwischen biologischem und ethischem Soll anerkennt und zugunsten des letzteren entscheidet, das Proletariat hingegen, soweit es nicht verbürgerIicht ist, das ethische mit dem biologischen Soll in eines vereinigt, also den Widerspruch aufgehoben hat, ideologisch in seinem Fühlen, praktisch durch Vollzug der sozialen Revolution, die die abstrakt-metaphysische Wertwelt aufhebt.

Wir kennen aber unsere Metaphysiker. Sie werden jetzt unabweislich mit der Logik kommen und sagen: Es liesse sich wohl die Entstehung eines Urteils "gut" oder "böse" genetisch ableiten, nicht aber der Wert des Tatbestandes "gut" oder "böse" selbst. Also wir könnten wohl feststellen, warum der eine den puberilen Geschlechtsverkehr als gut oder böse anerkennt, nicht aber vermögen wir den Wert, etwa "Keuschheit", selbst abzuleiten. Denn das Soll liesse sich niemals aus dem Sein ableiten; wenn Keuschheit schädlich ist, so folge daraus noch nicht, ob man keusch leben solle oder nicht. Sehr schön diese Logik. Abstrakt logisch ist das absolut richtig; nur interessiert uns hier die Logik gar nicht, vielmehr interessiert uns das Festhalten unserer pädagogischen Lehrer und Professoren an der logischen Deduktion. Indem sie nämlich diese Trennung von Sein und Soll, von Theorie und Praxis herstellen, entheben sie sich der Notwendigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, können sie in voller Unschuld fortfahren, auf der einen Seite festzustellen, dass Keuschheit gesundheitschädlich sei und auf der anderen Seite daran festzuhalten, dass die Keuschheit ein objektiver, weder beweisbarer noch widerlegbarer Wert sei. Denn die Wertwelt berührt doch bekanntlich die Seinswelt nicht, sie sei ihr disparat, selbst transzendent, also folgt aus der wissenschaftlichen Feststellung nichts. Man kann ruhig weiter Wissenschaftler genannt werden und riskiert doch nicht einen Konflikt mit der Wirklichkeit, etwa den Verlust der Dozentur.

Mit dieser Logik, dieser Trennung von Sein und Soll, steht es aber in Wirklichkeit so:

a. Abstrakt logisch: Wenn ich einem Kranken klarmache, dass sein Leiden nur auf seine keusche Lebensweise zurückzuführen ist, so kann er "logisch" ebensowohl den Schluss ziehen, weiter keusch zu leben, wie auch den, die Keuschheit aufzugeben. Abstrakt logisch bestimmt das Sein das Soll nicht.

b. Der Wirklichkeit entsprechend, also nach dem Gesetz der dialektischen Einheit von Sein und Soll, Theorie und Praxis, wird der gleiche Kranke, sobald er den Zusammenhang zwischen Leiden und

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Askese wirklich erkannt hat, schleunigst nur einen Schluss ziehen, nämlich den, die Keuschheit aufzugeben, was zu verhindern eben die Aufgabe des logischen Denkens und der Urteile nach den Gesetzen der objektiven Wertwelt ist.

In der Wirklichkeit entscheidet nämlich die Wertwelt nur soIange, wie man den genannten Zusammenhang nicht herstellt; ist dies einmal geschehen, so entscheidet das Lust-Unlust-Prinzip eindeutig. Auf dem Gebiete der Sexualität hebt also wie auf allen anderen Gebieten der dialektische Materialismus den Gegensatz von Wissenschaft und Ethik und damit auch die heutige Funktion der Logik in der Wissenschaft auf.

Wir haben nun zu beweisen, dass die Welt der Werte, Tugenden etc. die Welt der Asexualität ist; dass somit jedes Denken, das eine, absolute Wertwelt fordert, die Verneinung des Sexuellen zur wichtigsten Voraussetzung hat. Was ist nun "Tugend" als einer der wesentlichsten objektiven Werte ? Es sei schwer, meint Allers, dies zu bestimmen, aber immerhin treffen sich "in der menschlichen Person ... die vier Seinsbereiche: belebte Natur, seelische Gemeinschaft, objektiver Geist und jenes transzendente Reich, das wir vielleicht das der Gnade nennen können." Als Wesen der Tugend sei die "Reinheit" anzusprechen, und "Unberührtheit ist wohl das naheliegendste Synonym (= dasselbe meinender zweiter Ausdruck), das sich bei der Frage nach dem Wesen der Reinheit einstellt." Obwohl nun "die sexuale Reinheit weder Weg zu, noch Voraussetzung für Reinheit überhaupt zu sein vermag", "steckt (dennoch) in solcher Überwertung des Sexualen und solcher Einschränkung des Begriffs von Reinheit gerade auf Sexuales ein richtiger und berechtigter Ansatz."

Wert und Unwert sind demnach geformt und gedacht nach asexuellem bezw. sexuellem Leben. Die Erkenntnis des Lust-Unlust-Prinzipes stürzt diese Welt der Werte erstens durch den Nachweis, dass die Bejahung solcher Werte selbst Derivat bewusst zwar negierter, unbewusst jedoch umsomehr bejahter Lust ist, zweitens durch die praktische Konsequenz, die aus dem Lust-Unlust-Prinzip folgt: die Einheit von Denken und Handeln. Wir betonen diesen Gegensatz von abstrakt-logischem und dialektisch-materialistischem Standpunkt, weil wir sehen, dass der abstrakte Logiker die Psychoanalyse, wie Allers, als 'hedonistische' Lehre ablehnen muss. Denn aus der Erkenntnis der Gesetze des Lust-Unlust-Prinzips folgt nach der materialistischen Dialektik im Einklang mit dem Leben die Bejahung der Lust. Diese Feststellung ist keineswegs eingeschränkt durch die Anerkennung des Realitätsprinzips, denn dieses verneint nicht die Lust, sondern enthält bloss die Beachtung der Möglichkeit, dass Lustgewinn aufgeschoben werden muss, wenn bestimmte Seinsverhältnisse solches fordern. Da aber das Realitätsprinzip des Patriarchats ein anderes ist als das der Welt ohne Privateigentum an

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Produktionsmitteln, verringert sich auch der Gegensatz von Realitätsprinzip und Lustprinzip.

Um ein konkretes Beispiel zu nehmen. Für den Jugendlichen der bürgerlichen Gesellschaft besteht eine strenge Kluft zwischen seinem puberil-genitalen Lustprinzip und der realen Forderung der Gesellschaft, die Befriedigung der Genitalität bis zur Ehe aufzuschieben. Für die sozialistische Gesellschaft fällt dieses Realitätsprinzip weg, weil sie kein Interesse an der Ehe hat und daher der Jugend keine Einschränkung mehr auferlegt. Da aber unsere Freunde, die Logiker, die Erscheinungen von der Wertwelt her beurteilen, muss ihnen dasWesen der Pubertät folgerichtig nicht als sexuelle Reifung, sondern als Periode der "Ichfindung" erscheinen, und sie haben sogar relativ Recht.

Was ist nach ihrer Meinung die Reifung ?

Wenden wir diese Anschauungsweise nun auf das Sexualverhalten Pubeszierender an, so ist an erster Stelle zu sagen, dass es ein Irrtum sei, wenn man in der sexualen Reifung das Wesen oder auch nur das hauptsächlichste Moment der Pubertät erblicken wollte. Das Wesen dieser Entwicklungsvorgänge muss vielmehr dahin bestimmt werden, dass sich darin die Konstituierung der zunächst definitiven Persongestaltung und des Charakters, die Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich und damit die Klärung der Stellung des Ichs zum und im Nicht-Ich vollziehe: Ichfindung ist das Wesen der puberalen Umgestaltungen.

In einfaches Deutsch übersetzt heisst das, dass der Jugendliche in der Geschlechtsreife sein Ich nach den Forderungen der heutigen Gesellschaft orientieren muss, dass er gegen seine sexuellen Strebungen einen mächtigen Wall von abwehrenden Haltungen aufzubauen hat, wodurch sein Charakter in der Tat seine Prägung erfährt. Die "Ichfindung" unserer gottgläubigen Wissenschaftler und Pädagogen besteht in einem Versuch des Sichzurechtfindens mit der Welt, in einem Sich-ihr-Anpassen. Das gilt besonders für das kleinbürgerliche Mädchen, gilt aber nur halb für das proletarische. Es ist klar: Beurteilt man die Pubertät vom Standpunkt der Wertwelt, so besteht sie tatsächlich in der Bildung der Sexualabwehr. Da aber die Wertwelt absolut gedacht ist, so muss es auch das eigentliche Wesen der Pubertät in diesem Sinne sein. Auf keinen Fall darf aber von diesem Standpunkt aus weitergeforscht werden, welches die Mechanismen dieser Ichfindung sind, wogegen sie sich richten, warum die Ichfindung gerade in diesem Alter, nicht früher und nicht später erfolgt.

Die psychoanalytische Forschung hat zwar die Sexualität und die Abwehrmechanismen entdeckt, aber sie vermied es eifrig, das Wesen der heutigen Pubertät aus dem Widerspruch zwischen biologischen und geselIschaftlichen Seinsbedingungen abzuleiten; sie verschob und verschleierte die Frage, indem sie das Wesen der Pubertät in einem Wiedererwachen des Ödipuskomplexes erblickte, ohne zu fragen, warum der Ödipuskomplex gerade in einem bestimmten Alter

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wieder erwacht, und welche äusseren Bedingungen es sind, die die puberile Regression zu kindlichen Sexualpositionen bedingen.

Wir dürfen diese Auseinandersetzung nicht abschliessen, ohne uns noch ein Musterbeispiel individualpsychologischer plus wertweltlicher Argumentation anzuhören, die sich aus dem Bestreben, der analytischen Sexualtheorie auszuweichen, mit Notwendigkeit ergibt.

Zunächst stellt Allers fest, dass der Mann in seinem Sexualverhalten periodisches Schwanken zwischen eruptiver Sexualität und Mangel jeden Verlangens zeige, während sich die Frau dauernd auf einer gewissen Höhe der Erotisierung halte, dafür aber weder Höhepunkte noch Nullpunkte aufweise. (Eine typisch bürgerliche, höchst vage Behauptung, die nur dadurch möglich wird, dass man den Unterschied in der gesellschaftlichen Beurteilung und Behandlung der männlichen und der weiblichen Sexualität nicht beachtet). Auf der anderen Seite wird für das Mädchen in den Entwicklungsjahren eine sexuelle Phase überhaupt geleugnet. Allers merkt den Widerspruch und fragt selbst:

Wie ist es nun zu verstehen, dass gerade bei der Entwicklung der weiblichen Sexualität, welcher solcher Auffassung zufolge für die Gesamtperson eine viel grössere Bedeutung und intimere Nähe zu deren Wesenskern eignen soll, dies manifeste Hervortreten eindeutig sexualer Phasen nicht die Norm darstelle?

Armes Mitglied der Leogesellschaft und des ärztlichen Vereins für Psychotherapie zugleich ! Unsere Frauen sind sexuell dauernd erregt und dürfen doch, nach den Gesetzen der Wertwelt, keine sexuelle Entwicklung in der Pubertät durchmachen ! Halt, man ist ja auch Individualpsychologe, das trifft sich ausgezeichnet:

Der hier gemeinte, nicht gerade leicht ausdrückbare Zusammenhang liesse sich vielleicht in etwa folgender Weise darlegen: Bedeutet Erotik in der Tat bei der Frau eine 'kernnähere' Schichte als dies für den Mann zutrifft, für den diese ganze Sphäre mehr peripheren Charakter besitzt, lebt gewissermassen die Frau von je schon irgendwie im Erotischen ... so bedarf sie, um ihres eigentlichen Wesens in der spezifischen Ausgestaltung als sexuales und in der spezifischen Hinordnung auf das andere Geschlecht inne zu werden ... manifesten sexuellen Erlebens in weit geringerem Masse als dies für den Mann der Fall sein muss. Dessen, so könnte man sagen, man ja immer schon zutiefst inne ist, braucht man sich nicht erst zu vergewissern. Nur wer seiner Stellung innerlich nicht sicher ist, sucht sich die Bestätigung von aussen; das 'Spieglein an der Wand' befrägt die Königin nur, weil sie ihre Stellung als die 'Schönste im ganzen Land' notwendig als unaufhörlich gefährdet weiss.

Wie vorteilhaft ist es doch, die Sexualität als Ausdruck des Willens zur Macht zu erkennen ! Demnach hat der Mann seine sexuellen Eruptionen dann, wenn er sich seiner selbst nicht ganz sicher ist, um sichs zu beweisen, indem er sich auf den andern "hinordnet"; und seine sexuellen Nullpunkte hat er dann, wenn er im Selbstbewusstsein schwelgt. Die Frau dagegen ist ihrer Sexualität so gewiss, dass sie sich's nicht erst durch sexuelles Erleben zu beweisen braucht. Und auf ähnlichen Grundlagen versuchen sogar

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manche Pädagogen, die der revolutionären Partei angehören (wie etwa Salkind), die sexuelle Erziehung der Zukunft aufzubauen. Demnach werden wir im proletarischen Zukunftsstaat unserer Sexualität so gewiss sein, dass wir es nicht notwendig haben werden, sie zu erleben, wodurch es gelungen sein wird, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben und das sexuelle und ökonomische Leben des Patriarchats wieder herzustellen: die Asexualität. Da man aber gleichzeitig "Dialektiker" ist, hat man bewiesen, was zu beweisen war, man ist sexuell und nicht sexuell zugleich. Wie sich aber die Wertwelt dazu verhalten wird, ist noch ungewiss. Vielleicht kehrt sie zufolge solcher "Sexualpädagogik" als "Negation der Negation" auf "höherer" Ebene wieder.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 1 (5), S. 54-61

Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung

Im Bericht des Zentralvorstandes der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Int. Ztschr. f. Psa. 1935/1) fehlt die Darstellung eines peinlichen Ereignisses. Wir ergänzen daher den offiziellen Kongressbericht zur Orientierung der Mitglieder der I.P.V.

Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern (26.-31. August 1934) wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Damit ist die erste Etappe eines schweren, 11 Jahre lang andauernden Kampfes um die korrekte naturwissenschaftliche Psychologie und Sexualtheorie abgeschlossen worden.

Eine ausführliche Darstellung der Motive dieses Ausschlusses und der Differenzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung kann hier nicht gegeben werden. Wir sparen sie uns für den Zeitpunkt auf, in dem weitere voraussehbare Katastrophen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse eine genaue historische Begründung erfordern werden. Hier soll nur kurz dargestellt werden, wie sich heute bürgerliche wissenschaftliche Vereine gegen die Arbeit von Forschern wehren, die bestrebt sind, die wissenschaftliche Forschung unbekümmert ernst zu nehmen.

Die Art, in der der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk, dass sie dem Aussenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird. Die Sexpol hat es sich zum Grundsatz gemacht, groteske, scheinbar sinnlose Methoden des Kampfes nicht einzelnen Funktionären von Organisationen zuzuschreiben, sondern immer wieder auf die objektiven Verhältnisse hinzuweisen, die hinter derartigen persönlichen Methoden wirken. Es ist notwendig, wenn man den Ausschluss begreifen will, sich klarzumachen, in welch peinlicher Situation sich der derzeitige Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung befindet. Als Organisation hat er eine ihrem Wesen und theoretischen Ursprung nach revolutionäre Wissenschaft zu vertreten. Doch die Vertreter dieser Organisation sind derart verwachsen mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Gross- und Mittelbourgeoisie, sind selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, dass sie mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mussten; dies geschah in dem gleichen Masse, in dem sich die politische Situation in der Welt reaktionär gestaltete und jede korrekte wissenschaftliche Arbeit mit Vernichtung der Existenz der Wissenschaftler bedrohte. Darüber hinaus hatten die führenden Vertreter der psychoanalytischen Bewegung niemals die Konsequenzen aus der psychoanalytischen Sexualtheorie und klinischen Erfahrung ziehen wollen. Die Leitung der I.P.V. konnte gegen Wilhelm Reichs wissenschaftliche und klinische Anschauungen nichts einwenden. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre wurde seine Arbeit (Genitalitätslehre und Charakteranalyse) von einer grossen Anzahl von Mitgliedern der I.P.V. als konsequente Fortführung der ursprünglichen revolutionaren Lehre Freuds betrachtet. Mit guter Begründung konnte man ihn also nicht ausschliessen.

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Man forderte daher schon seit Jahren, dass er freiwillig austrete. Reich wies das zurück und erklärte, dass er niemals freiwillig austreten werde. Da bot sich in einem Durcheinander von Missverständnissen die Gelegenheit, sich von der schweren Belastung, die Reich für die I.P.V. bedeutete, zu befreien. Die ursprüngliche Absicht, die Gesellschaftsfähigkeit der Psychoanalyse unauffällig und leise zu sichern, misslang allerdings.

Reich erhielt vor dem Kongress folgenden Brief:
[am 1.8.1934, unterzeichnet von Carl Müller-Braunschweig; vgl. Wilhelm Reich: Menschen im Staat. Frankfurt/M: Stroemfeld 1995. S.252]

"Sehr geehrter Herr Kollege !
DerVerlag will zum Kongress einen Kalender mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung herausbringen. Die Situation lässt es nun dringend geboten erscheinen, dass Ihr Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser Massnahme einverstanden erklären würden. Sie sind als wissenschaftliche und schriftstellerische Potenz in der internationalen psychoanalytischen Gelehrtenwelt zu bekannt, als dass Ihnen, wie einem Neuling etwa, durch diesen Fortfall der geringste Schaden erwachsen könnte. Und überdies wird mit der Anerkennung der Skandinavier-Gruppe auf dem Kongress und Ihrem zukünftigen Erscheinen in der Liste dieser neuen Gruppe das jetzige Problem gegenstandslos werden. Darf ich Sie um umgehende Äusserung bitten?"

Reich antwortete [am 1.8.1934] mit einem ausdrücklichen Protest gegen die geplante Massnahme und schrieb gleichzeitig an das Zentralsekretariat der I.P.V. folgenden Brief :

"Sehr geehrtes Frl. Freud !
Ich erhalte heute die Mitteilung, dass im jetzt erscheinenden Taschenkalender mein Name ausgelassen wurde. Man gibt mir davon indirekt Kenntnis und erwartet, dass ich 'sine ira auf Anführung verzichten' werde. Mir ist dabei sehr vieles unverständlich, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten, welchen Sinn diese Massnahme hat.
Zunächst weiss ich nicht, ob der Akzent in der fraglichen Mitteilung auf 'sine ira' oder auf 'verzichten' liegt. Es ist mir auch ein Rätsel, weshalb man sich nicht direkt an mich in einer derart entscheidenden Frage wandte, vorausgesetzt, dass als Beweggrund nicht mehr in Frage kommt als gewisse taktische Rücksichten. Mir ist weiter unerklärlich, was man dadurch zu erzielen hoffte, da ich doch zum Kongress einen Vortrag angemeldet habe und ich keine Möglichkeit sehe, mich dort vor der deutschen Öffentlichkeit zu verstecken. Dass man, noch immer nur 'gewisse' Rücksichten vorausgesetzt, nicht zur Auskunft griff, mich in eine andere Gruppe zu übertragen, dass überhaupt derartiges ohne mein Wissen, hinter meinem Rücken geschieht, macht es mir wahrscheinlich, dass sehr Peinliches im Gange ist. Der Welt muss die Auslassung meines Namens ein Zeichen sein, dass ich entweder ausgeschlossen wurde oder selbst austrat. Da ich das Letzte nicht beabsichtige, das Erste meines Wissens nicht zutrifft, kann der eingeschlagene Weg, aus der Schwierigkeit herauszufinden, kaum zum Ziele ihrer Bereinigung führen. Ich hatte schon im vergangenen Jahre Gelegenheit zu zeigen, dass ich tiefes Verständnis für die Verlegenheit, die ich darstelle, habe, trotzdem aber aus sachlichen Gründen nichts selbst dazutun kann, sie zu beheben. Ich bitte Sie daher, mir mitzuteilen, ob die Auslassung meines Namens mit Wissen des Zentralvorstandes erfolgte, wenn ja, welche Gründe dafür sprachen und weshalb ich davon nicht verständigt wurde; es ist für mich auch wichtig zu erfahren, welche Beziehung diese Massnahme zu meiner Mitgliedschaft in der I.P.V. hat.
Ich bitte Sie gleichzeitig, dem Vorstand der I.P.V. mitzuteilen, dass ich gegen diese Massnahme protestiere und noch einmal ersuche, die bestehenden Differenzen und schwelenden Fragen wie üblich vor der Öffentlichkeit unserer Leser- und Mitgliedschaft auszutragen. So peinlich die Umstände und der Zwang der Verhältnisse auch sein mögen, und zwar für alle Teile: Ich muss mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden. Die uns alle bewegende, in mancher Hinsicht sowohl für die Zukunft der Psychoanalyse wie die ihres Forschungsgebietes entscheidenden Erörterungen brauchen das Licht der Welt nicht zu scheuen."

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Am 8. August erhielt Reich von Anna Freud folgenden Bescheid:
"Sehr geehrter Herr Doktor !
Das Kongressprogramm ist eben in Druck und wird erst in den nächsten Tagen an die Mitglieder verschickt werden. Die Verständigung, wann Ihr eigener Vortrag angesetzt ist, haben Sie sicher inzwischen erhalten.
Ihre Beschwerde gegen die Deutsche Vereinigung leite ich mit gleicher Post an Dr. Jones weiter. Mir war von der ganzen Angelegenheit nicht das mindeste bekannt, ich frage Jones, ob er etwas davon gewusst hat. Er wird Ihnen direkt Nachricht geben."

Am Vorabend des Kongresses traf Reich zufällig ein Mitglied des internat. Vorstandes in der Halle des Kongresssaales. Dieser teilte Reich privat folgendes mit: Vor acht Tagen hätte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung den Ausschluss Reichs beschlossen. Dieser Beschluss sei tatsächlich durchgeführt worden, bedeute aber "nur eine Formalität", da man mit Bestimmtheit damit rechne, dass die Aufnahme der skandinavischen Gruppe auch die Frage der Mitgliedschaft Reichs in befriedigender Weise lösen werde. Kurz darauf erfuhr Reich, dass der frühere Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des Internationalen Lehrausschusses, Max Eitingon, schon vor einem Jahr in einer geheimen Vorstandssitzung den Ausschluss Reichs aus der deutschen Vereinigung und damit auch aus der internationalen durchgesetzt hatte. Von diesem Beschluss hatte bis zum Kongress niemand etwas erfahren. Als der Ausschluss Reichs bekannt wurde, reagierten die anwesenden Kongressteilnehmer teils mit Unglauben, teils mit Empörung, teils mit der tröstlichen Stellungnahme, das Ganze wäre ja nur eine Formalität, und Reich würde jederzeit in die skandinavische Gruppe aufgenommen werden. Niemand zweifelte daran, dass der Vorstand der I.P.V. den Ausschluss nicht bestätigen werde. Doch es stellte sich sehr bald heraus, dass der Ausschluss Reichs durch den Vorstand der I.P.V. bestätigt war.

Entscheidend war in der ganzen Frage die Haltung der Norweger. Der Vorstand der I.P.V. versuchte die Aufnahme der norwegischen Gruppe mit der Begründung [Bedingung, BAL] zu verknüpfen, dass sie sich verpflichten sollte, Reich nicht als Mitglied aufzunehmen. Doch die Norweger vertraten den korrekten Standpunkt: "Wir lassen uns keine Bedingungen diktieren. Entscheidet, ob ihr uns aufnehmt oder nicht. Wenn ihr uns nicht aufnehmt, dann treten wir aus." Das scharfe und aufrechte Auftreten der anwesenden Norweger (Schjelderup, Hoel, Raknes) machte grossen Eindruck und schüchterte den Vorstand ein. Sie wurden als Ortsgruppe der I.P.V. ohne jede Bedingung eingegliedert; doch die schwedische Gruppe wurde von der norwegischen getrennt, um sie dem Einfluss Reichs zu entziehen. Reich hielt nach seinem Ausschluss sein Referat nur mehr als Gast.

Man darf ruhig sagen, dass der Kongress völlig unter dem Eindrucke dieser peinlichen Affäre stand.

Am Vorabend der Geschäftssitzung wurde, um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, eine gemeinsame Sitzung mit je einem Vertreter der verschiedenen Ortsgruppen und Reich unter dem Vorsitz von Anna Freud abgehalten, in der man "Reichs Argumente hören wollte." Das Ganze war eine Geste, denn man kannte seine "Argumente" sehr gut. Reich konnte dort nur mehr wiederholen, was er in seinen Schriften und in seiner Korrespondenz mit den I.P.V.-Funktionären seit Jahren vertreten hatte: Der Forderung des I.P.V.-Vorstandes, freiwillig auszutreten, könnte er nicht Folge leisten. Wenn der I.P.V.-Vorstand ihn ausschloss, so könnte er nichts dagegen unternehmen. Er verstünde zwar den bereits vollzogenen Ausschluss vom Standpunkt der Todestrieb-Theoretiker durchaus, denn seine eigenen Anschauungen hätten sich so weit von den heutigen offiziellen Lehrmeinungen entfernt, dass ein gegenseitiges Verstehen nicht.mehr möglich wäre. Er erklärte aber gleichzeitig, dass er sich als den konsequentesten und legitimsten Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen, klinisch-naturwissenschaftlichen Psychoanalyse betrachte und von diesem Standpunkt aus den Ausschluss nicht anerkennen könne. Die Nichtanerkennung des Ausschlusses durch ihn hätte zwar keinerlei organisatorisches Gewicht; doch er müsste darauf bestehen. dass die Gründe des Ausschlusses im offiziellen Organ der I.P.V. publiziert werden. Dies wurde zugesagt, aber nicht eingehalten. Dass sich später das Gerücht verbreitete, der Vorstand hätte sich mit Reich bezüglich "des Austritts geeinigt", entsprach nur der tiefen Verlegenheit, die der bereits vor einem Jahr vollzogene Ausschluss für alle Beteiligten bildete.

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Die meisten Kollegen in der I.P.V., mit denen Reich seit 16 Jahren in engem persönlichen bezw. sachlichen Kontakt gestanden hatte, trösteten sich über das Ganze mit der bereits erwähnten Auskunft hinweg, dass es sich ja nur um eine formale Angelegenheit handle und der Wiedereintritt in die I.P.V. durch die norwegische Vereinigung möglich wäre. Die Vertreter der norwegischen Gruppe erklärten Reich gegenüber, dass er Mitglied ihrer Vereinigung werden könnte. Reich entgegnete, dass er sich die Vor- und Nachteile eines Wiedereintritts überlegen müsste, jetzt noch nichts sagen könnte, dass er sich aber verpflichtet fühlte, die norwegischen Mitglieder auf die Komplikation aufmerksam zu machen, die seine Wiederaufnahme für sie als Gruppe bedeuten würde. Es ist besonders hervorzuheben, dass zahlreiche Mitglieder sämtlicher Ortsgruppen der Welt, die am Kongress anwesend waren, es für eine Selbstverständlichkeit hielten, dass Reich wieder Mitglied werde.

Zu erwähnen ist noch das komplette Versagen der Opposition, die sich auf Anregung Reichs unter Führung von Otto Fenichel gebildet hatte. Fenichel war den Anforderungen der Situation, die offenes und mutiges Auftreten erforderte, in keiner Weise gewachsen. Es zeigte sich, dass bürgerliche Psychoanalytiker, die keinen Anspruch erheben, dialektische Materialisten genannt zu werden und nur fachlich mit der heutigen Richtung der Psychoanalyse unzufrieden sind, viel eindeutiger waren als diejenigen, die sich dazu berufen fühlten, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Fenichel fiel später vollständig um, als er mit allen Mitteln gegen die Wiederaufnahme Reichs in die norwegische Gruppe agitierte.

An dieser Stelle muss ausdrücklich betont werden, dass die dialektisch-materialistische Psychologie vollkommen identisch ist mit der personellen Sexualökonomie, und dass niemand das Recht hat, sich dialektisch-materialistischer Psychoanalytiker zu nennen, wenn er nicht auch die Konsequenzen zu tragen bereit ist, die mit derVertretung der Theorie der Sexualökonomie verknüpft sind. Die Sexpol lehnt jede Verantwortung für die von Fenichel unter der Bezeichnung "dialektisch-materialistische Psychologie" vertretene Anschauung ab.

Die peinliche Rolle, die bei dem Ganzen Fenichel spielte, erfuhr noch eine Verschärfung. In der IMAGO (1934, 4. Heft) erschien vom Redakteur Robert Wälder im Auftrage der Leitung der I.P.V. eine längere Besprechung der »Zeitsschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie« (Herausgeber: Ernst Parell), die mit folgenden Sätzen endet:

"Es hat schon viele Richtungen gegeben, welche sich der Psychoanalyse bedienen, ihr mehr oder weniger grosse Stücke unter Ablehnung anderer entnehmen, anderes für ihre Zwecke modifizieren und präparieren, nach der Parole: 'Herausbrechen und anderswo einfügen'. Wie ist es zu rechtfertigen, gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksamkeit zu widmen? Nun, an der Spitze dieser Bewegung steht ein Mann, der durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich gewirkt hat. Seine Arbeiten haben, wenngleich durch eine gewisse Neigung zur Einfachheit vielfach schematisierend, doch im ganzen befruchtend gewirkt. Die Wiederbelebung des allmählich in Vergessenheit geratenen Gedankens vom aktualneurotischen Kern der Psychoneurosen; der Rat, in der klinischen Analyse stets von der oberflächlichsten Schicht, vom behaviour, auszugehen und erst allmählich, ohne Kurzschluss, zum Unbewussten vorzudringen; die häufige Mahnung an das Vorkommen der im Bilde einer positiven Übertragung auftretenden latenten negativen Übertragung, die gewiss leicht übersehen wird; der - in dieser Form übertriebene - Rat, in Widerstandssituationen sich der Analyse der Widerstandsmotive zu widmen und das etwa gleichzeitig ausströmende Material beiseite zu lassen; dies und manches andere hat die Diskussionen zu Fragen der Technik vielfach belebt, und es gibt viele, die diesen Anregungen Reichs für ihre technische Sicherheit viel zu danken haben. Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muss denn in aller Klarheit gesagt werden, dass die hier vorliegenden 'wissenschaftlichen' Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, dass niemand, der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen, als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankenguts, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für ihre Zwecke verwenden."

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In der »Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie« hatte Otto Fenichel (l. Nummer) einen Aufsatz »Die Psychoanalyse als Keim einer dialektischen materialistischen Psychologie« publiziert. In der scharfen Ablehnung der Zeitschrift und ihrer Autoren, die mit Namen angeführt wurden, wie Reich und Parell, fehlt der Name Otto Fenichel, und auch sein Aufsatz war nicht erwähnt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Anschauung, die die Sexpol über diese Tatsache gebildet hat, zu Recht besteht. Klar ist jedoch, dass die I.P.V.-Leitung mit ihrer Warnung, Reich auf seinem Wege zu folgen, vollständig Recht hat. Denn Reich hat die Todestrieblehre, die bürgerlichen Moralanschauungen, die Inkonsequenzen zwischen Theorie und Praxis, die Akademismen und die Grundeigenschaft jeder bürgerlichen Wissenschaft, von den Hauptproblemen durch spitzfindige Detaillierung nebensächlicher Fragen abzulenken, über Bord geworfen. Er hat aus dem Gebäude der Psychoanalyse gerade das "herausgebrochen", was ihr nicht nur die Feindschaft der Welt im Beginne eingetragen hatte, sondern ihr auch eine grosse Zukunft sichert: Die Lehre vom Unbewussten, die Lehre von der kindlichen Sexualität, die Lehre von der Verdrängung und vom Widerstand, die Lehre vom somatischen Kern der Neurose, die Lehre vom Gegensatz zwischen Trieb und Aussenwelt etc. Diese aus dem Lehrgebäude der Psychoanalyse "herausgebrochenen" Stücke erfahren durch die charakteranalytischen und sexualökonomischen Spezialisten der Sexpol auf klarer dialektisch-materialistischer Basis gerade die konsequenteste theoretische und praktische Durchführung. Reichs Orgasmuslehre ergänzte diese Kernstücke einer revolutionär naturwissenschaftlichen Psychologie um den Gesichtspunkt der Ökonomie des Seelenlebens und schuf ein tragfähiges Gegengewicht gegen die metaphysischen Theorien vom biologischen Willen zum Leiden. Seine Theorie der Therapie und charakteranalytischen Technik legten die ersten Grundlagen der künftigen Neurosenprophylaxe. Seine Theorie der Sexualökonomie brach endgültig mit der sexuellen Verschämtheit der offiziellen Psychoanalyse, indem sie den Widerspruch zwischen Natur und Kultur theoretisch auflöst.

Der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte laut der Erklärung der Zentralsekretärin der I.P.V.. Frl. Anna Freud, nicht wegen seiner eigenen wissenschaftlichen Entdeckungen und Anschauungen, die zu vielen Theorien Freuds im Gegensatz stehen (Orgasmustheorie und Charakteranalyse), auch nicht wegen seiner revolutionären Gesinnung, denn es gäbe, wie gesagt wurde, viele Analytiker in der I.P.V. trotz abweichender wissenschaftlicher Theorien oder trotz kommunistischer Gesinnung. Die Trennung von Reich sei notwendig wegen der spezifischen Art, in der er aus der wissenschaftlichen Arbeit politische Konsequenzen ziehe. Gemeint war die Sexualpolitik. Diese Konsequenzen und die Vereinigung von Wissenschaft und Politik wären für die I.P.V. untragbar. In der Kritik der »Zeitschrift für politisch Psychologie und Sexualökonomie« hebt Wälder aus der Einführung der Redaktion der Sexpol folgenden Passus ablehnend hervor:

"Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Weltanschauung oder Politik lehnen wir ab...." "Wir wollen der bewusst reaktionären Wissenschaft eine bewusst revolutionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen können, dass wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu treiben; dagegen muss der reaktionär gesinnte Wissenschaftler, um seine soziologische Rolle zu erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz solchermassen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit verleugnen. Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, dass die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, dass das Sollen mit Eigengesetzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konsequente unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automatisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung."

Wälder ist offizieller Redakteur der »Imago«. Die I.P.V. trägt daher die Verantwortung für folgende Sätze:

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"Politik und Psychologie sind hier in unklare Symbiose getreten. Wir sind sicher, dass die Psychologie dabei nicht zu gewinnen hat. Wir treffen hier auf die zuerst vom Marxismus propagierte, später von anderen politischen Richtungen in ihrer Weise übernommene Formel, dass Erkenntnis stets Ausdruck eines Seins ist und auch Ausdruck eines Seins sein soll; die wahre, echte Erkenntnis ist dann im Sinne dieser Theorie diejenige, in der das eigene Sein zum Ausdruck kommt. In der marxistischen Literatur, zu der die vorliegende Zeitschrift zählt, ist die sogenannte proletarische Wissenschaft mit dem Index der Echtheit versehen. In anderen, neueren Richtungen wird mit nicht geringerer Sinnwidrigkeit jene Wissenschaft für die echte gehalten, welche Ausdruck eines anderen, nicht ökonomisch, sondern irgendwie anders, etwa national, angesetzten Seins ist. All diesen Theorien fehlt die Einsicht in den Sachverhalt, dass es Wissenschaft, Erkenntnis vom Gegenstand, nur insoweit gibt, als das erkennende Subjekt sein Sein transzendiert. Wissenschaft ist, möchte man sagen, wesensmässig bodenlos. Freilich bricht der Ausdruck des Subjektiven in die Erkenntnis des Objektiven, das Ausdrucksfeld in das Darstellungsfeld ein; aber das ist eine Fehlerquelle wissenschaftlicher Arbeit."

Wie vornehm lässt sich doch derart transzendiert reden! Wie harmlos ersetzt der objektive, unpolitische Wissenschaftler Robert Wälder das Wörtchen "Sein" durch "eigenes Sein", um dann "bodenlose" Wissenschaft betreiben zu können! Doch reden wir nicht vom Transzendieren, sondern fragen wir Wälder, ob Aichhorn sein Sein transzendiert hatte, als er in einem grundlegenden Buche über die verwahrloste Jugend in geschicktester Weise die Frage der genitalen Konflikte und Nöte der Jugend umging; ob das Sein transzendiert war, als die Todestrieblehre geschaffen wurde; ob Laforgues Lehre, die Polizei diene der Befriedigung des Strafbedürfnisses der Masse, einer solchen Transzendierung entspricht; oder die Lehre, dass "die Kultur" die Sexualunterdrückung fordere; oder Glovers These, die Kriege könnten vermieden werden, wenn man die Diplomaten analysierte; oder Róheims Theorie, dass "die Frau eigentlich nur befriedigt wird, wenn sie nach dem Geschlechtsverkehr an einer Entzündung erkrankt"; oder ist es ein Zeichen bodenlos transzendierter Wissenschaft, wenn man nicht den Mut aufbringt, offen der Kritik Reichs an der heutigen Psychoanalyse entgegenzutreten und sich hinter geschäftsordnungsmässigen Formalismen verschanzt? Niemand ist es übelzunehmen, wenn er sich in dieser korrupten und gefährlichen Zeit schützt. Doch gegen die Usurpation der wissenschaftlichen Kompetenz durch transzendierte Wissenschaftler muss man sich energisch wehren. Wissenschaft ist kein Bridgespiel in einem anheimelnden Salon. Wälder hole sich die Bestätigung dieser Ansicht bei Freud selbst!

Es ist nicht Ahnungslosigkeit, sondern entspricht völlig dem Geiste, der gegenwärtig die I.P.V. beherrscht, dass ein offizieller Redakteur einer sich radikal nennenden wissenschaftlichen Organisation Karl Marx in einem Atemzuge mit Hitler, Engels, Bebel, Karl Liebknecht, Lenin, Rosa Luxemburg in einem Atemzuge mit Goebbels, Göring, Julius Streicher zu nennen wagt. Es ist durchaus ein Problem der Sozialpathologie, dass die Richtung, deren Sprachrohr Wälder ist, sich ebenso benimmt, wie die Gruppe der sogenannten "deutschen Juden". Man wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds Bücher von Adolf Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter der Führuing C. G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden und "Untermenschen" Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds, soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte, wahrhafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit objektivem Geist.

Die I.P.V. ist die Organisation, die die Pflege der Freud'schen Naturwissenschaft zur Aufgabe hat. Die sozialistische revolutionäre Bewegung der Welt muss sich zur Bewältigung ihrer riesenhaften Aufgaben im Kampf gegen Mystizismus, Borniertheit und Untertanentum alles zu eigen machen, was die bürgerliche Welt an Erkenntnissen produziurt. Wir wissen, dass der Naturwissenschaftler Freud mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet. Es gilt jenen gegen diesen zu schützen, seine Arbeit fortzuführen und in den Dienst der sozialistischen Freiheitsbewegung zu stellen. Es gilt, der sozialistischen

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Bewegung der Welt ein Heer klinisch gut geschulter, zum Kampfe gegen den Mystizismus in jeder Form entschlossener Psychologen, Pädagogen und Psychotherapeuten theoretisch und praktisch vorzubereiten; der künftigen Sexualhygiene der Masse der Erdbevölkerung eine sichere Basis zu schaffen; der nationalistischen und ethisierenden Psychologie à la Jung eine dialektisch-materialistische, d. h. naturwissenschaftliche Psychologie entgegenzustellen; die Lustangst der Menschen zu begreifen und zu zerstören; die Strukturforschung zu derart brauchbaren Ergebnissen zu führen, dass sich daraus praktisch die sozialistische Umstrukturierung der Menschen ergibt; die anti-religiösen Triebkräfte, d. h. die sexuellen Lebensansprüche gegen die mystischen, den Menschen beherrschenden Neigungen zu entfalten; kurz, es gibt reichlich wichtige und unerlässliche Aufgaben. Darum geht es im wesentlichen, und nicht etwa um die Borniertheit eines Redakteurs, der Karl Marx und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt.

Aus eben dem gleichen Grunde mahnen wir die wenigen Psychoanalytiker, die sich Sozialisten nennen, nicht daran zu vergessen, dass eine Naturwissenschaft für einen Sozialisten nur insofern Bedeutung hat, als sie - früher oder später - der rationell bewussten Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins zu dienen vermag. Denjenigen Psychoanalytikern, die erklären, Freunde der Sexpol zu sein, wollen wir hier in freundschaftlicher Weise, aber hoffentlich endgültig klarmachen, dass es nicht darauf ankommt, "freundschaftliche Gefühle" zu hegen, sondern praktische Hilfe und Arbeit zu leisten, unbeirrt die Konsequenzen aus der theoretischen Erkenntnis zu ziehen, und sich endgültig von denjenigen Eigenschaften der bürgerlichen Psychoanalyse zu befreien, die nicht nur ihre Bedeutung für die sozialistische Bewegung herabmindern oder sogar vernichten, sondern auch der Psychoanalyse selbst als Naturwissenschaft jede Zukunft rauben.

Wer dies aus strukturellen oder sozialen Gründen nicht zu leisten vermag, der stehe still beiseite. Niemand wird ihm seine Passivität übel nehmen, aber wer unter der Maske der Freundschaft sabotiert, sich auf den berühmten "objektiven Standpunkt" zurückzieht, um dann plötzlich gegen uns aggressiv zu werden; wer schliesslich sein schlechtes Gewissen, das er der wissenschaftlichen Arbeit und der sozialistischen Bewegung gegenüber bekommt, mit Ausreden und "Theorien" zu verhüllen versucht, wird von uns ohne jede Rücksicht bekämpft und vor der Öffentlichkeit blossgestellt werden. Letzten Endes werden sie, wir fürchten zu spät, erkennen, dass ihnen die Vorsicht und das ebenso berühmte taktische Verhalten gar nichts genützt haben. Sie werden erkennen, dass es in dieser Zeit, die von jedem alles fordert, nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder im Lager der politischein Reaktion moralisch und wissenschaftlich zugrundegerichtet weiterzubestehen, oder aber mit den Konsequenzen zu rechnen, die eine revolutionäre wissenschaftliche Arbeit heute mit sich bringt. Wir haben es gelernt, von niemand mehr zu fordern, als er geben kann, aber man kann von uns nicht verlangen, dass wir uns die Unanständigkeiten und Feindseligkeiten zahm gefallen lassen, die sich aus einer unehrlichen Einstellung heute mit Notwendigkeit ergeben. Wer glaubt, die revolutionäre Bewegung täuschen zu können, irrt. Es gibt Situationen im Kampf, die den Unehrlichen unweigerlich entlarven und vernichten. Es ist daher auch im Interesse der Arbeiterbewegung gelegen, wenn jeder rechtzeitig die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennt und sich danach richtet.

Die Leitung der I.P.V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt, dass reaktionäre Zeitströmungen, und mögen sie noch so eindrucksvoll und einschüchternd sein, auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform wird die heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht geringe Verlegenheit versetzen.

Hier besteht weiter zu recht, was Wilhelm Reich am 17.3.33, wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers, an die Leitung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages schrieb:

"Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. Freud, mit, dass auf Beschluss der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein Buch »Charakteranalyse« im Verlag demnächst herauskommen sollte, rückgängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluss mit der Rücksicht auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht erscheinen liessen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu

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vertreten. Ich sehe in meiner Stellungnahme dazu von meinen Rechten als eingeschriebenes und aktives Mitglied der WV vollkommen ab, vermag sogar den Standpunkt der Kommission und der Inhaber als Vorsichtsmassnahme zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen. Darüber hinaus sehe ich mich aber verpflichtet, im Namen der psychoanaIytischen Bewegung bezw. eines Teiles dieser Bewegung auf die Illusionen aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission hinzugeben scheinen.

1. Die politische Reaktion identifiziert schon lange die Psychoanalyse mit dem 'Kulturbolschewismus', und zwar mit Recht. Die Entdeckungen der Psychoanalyse widersprechen restlos der nationalistischen Ideologie und bedeuten eine Gefahr für deren Bestand. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die Vertreter der Psa. nunmehr diese oder jene Schutzmassnahme ergreifen, ob sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologisch-kulturpolitische Charakter der Psychoanalyse lässt sich durch keinerlei Massnahme aus der Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen (kindliche Sexualität, Sexualverdrängung, Sexualität und Religion) macht sie vielmehr zu einem Todfeind der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben an eine 'unpolitische', das heisst der Politik völlig disparate Natur der Wissenschaft verstecken: Das wird nur der wissenschaftliclien Forschung schaden, aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo sie in der Tat liegen, und dementsprechend zu bekämpfen. (Z. B. Verbrennung der Bücher Freuds.)

2. Da die Psychoanalyse nach übereinstimmender Ansicht ihrer Vertreter über die medizinischen Aufgaben hinaus kulturpolitische Bedeutung hat und in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen wird, gewiss nicht auf Seiten der politischen Reaktion, bedeutet jeder Versuch einer Anpassung oder Verhüllung des Wesens der Bewegung sinnlose Selbstopferung. Und dies umsomehr, als eine starke Gruppe von Analytikern entschlossen ist, den kulturpolitischen Kampf nicht aufzugeben, sondern weiterzuführen. Die Existenz dieser Gruppe, gleichgültig ob innerhalb oder ausserhalb der I.P.V., ist politisch kompromittierend, auch wenn ihre Hauptvertreter physisch vernichtet werden sollten. Ich sehe keine Möglichkeit für die Leitung der I.P.V., sich von dieser Gruppe abzugrenzen. da sie vollständig und im Gegensatz zu anderen Gruppen in voller Konsequenz auf dem Boden der psychoanalytischen Entdeckungen steht.

3. So schwierig und kompliziert die Beziehungen der Psychoanalyse zur revolutionären Arbeiterbewegung sind, so ungewiss in ihrem Endausgang die Auseinandersetzung zwischen Psa. und Marxismus auch ist -- an der Tatsache, die objektiv und von persönlichen Stellungnahmen unabhängig ist, dass die analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiterbewegung ist, lässt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher die wichtigste Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern. Erste Voraussetzung dazu bleibt, sich keinen Illusionen hinzugeben, zu wissen, dass die oft genannten Güter der Kultur nur eine Sachwalterin haben, die Arbeiterklasse und die zu ihr stehende Intelligenz, die derzeit im deutschen Reiche schweres, blutiges Lehrgeld zahlen. Der geschichtliche Prozess hat mit Hitler keineswegs seinen Abschluss gefunden. Wenn jemals der Nachweis der historischen Daseinsberechtigung der PsychoanaIyse und ihrer soziologischen Funktion erforderlich war: Die jetzige Phase der geschichtlichen Entwicklung muss ihn erbringen."


ZPPS, Band 2 (1934), Heft 1 (5), S. 71-73

Besprechung:
Käthe Misch: Die biologischen Grundlagen der Freud'schen Angsttheorie
(Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Jg. 1935, Heft 1)

Käthe Misch gibt einen Überblick über die Beziehungen der Angst zur Libidostauung und zum sympathischen Nervensystem. Sie schreibt: "Ich glaube, durch die Untersuchungen, deren Ergebnis hier in Kürze folgen, nachweisen zu können, dass ich ... einen wenn auch kleinen Schritt weiter in dem Verständnis der Freud'schen Angsttheorie gekommen bin". "Der Angstanfall ist begleitet von einer stürmischen Erregung im symphatischen Nervensystem. ... Zur Angst gehört demnach eine körperliche Komponente, die essentiell zu sein scheint. Die nächste Aufgabe bestand darin, festzustellen, wodurch die krankhafte Veränderung im vegetativen System zustande kommt. Wir können nun beweisen, was von vornherein für den Analytiker nicht unwahrscheinlich war, dass die Sympatikuserregung eine mehr oder minder direkte Folge einer Libidostauung ist. ... Bei sexuellen Erregungen, die mit Befriedigung enden, ist der weitere Verlauf der Erregungswelle im vegetativen System so, dass im Moment des Orgasmus oder schon kurze Zeit vorher die Sympatikuserregung umschlägt in eine Erregung des Parasympatikus, um nach einiger Zeit ... wieder in den Gleichgewichtszustand überzugehen. ... Wir haben als eine Entstehungsbedingung der Angst die Libidostauung gefunden. ... Bevor wir in der Aufrollung der Angsttheorie weitergehen. ... Ich hoffe den Beweis erbracht zu haben, dass die Freud'sche These, Angst sei die Folge einer Libidostauung, somatisch nachgeprüft werden kann. ... Auch dürfte das genauere Studium des Zusammenhangs zwischen dem somatischen Phänomen Libido und der Angst die Handhabung der analytischen Technik nicht unerheblich beeinflussen." Der Name Reich kommt nicht vor.
Hierzu ist zu sagen:

1) Wilhelm Reich hatte bereits 1926 zum ersten Male in seinem Buche «Die Funktion des Orgasmus» in den Kapiteln «Angst und vaso-vegetatives System» und «Sexualerregung und autonomes Nervensystem» dargelegt, dass Sexualität und Angst entgegengesetzte Erregungen am vegetativen System sind:

"In seiner ersten Publikation über die Angstneurose stützt sich Freud auf den Tatbestand, 'dass in ganzen Reihen von Fällen die Angstneurose mit der deutlichsten Verminderung der sexuellen Libido, der psychischen Lust, einhergeht', und folgerte daraus, dass 'der Mechanismus der Angstneurose ... in der Ablenkung der somatischen Sexualerregung vom Psychischen und einer dadurch verursachten abnormen Verwendung dieser Erregung zu suchen' sei.

Diese "Ablenkung vom Psychischen" kann nur durch eine Verdrängung der Wahrnehmung der genitalen Sensationen zustande kommen; sie bedeutet somatisch nichts anderes, als Aufhalten der Überleitung vom vegetativen ins sensomotorische System; dabei fällt dem Bewusstsein (dem System Bw. Freuds) offenbar eine wichtige Rolle zu. Das Bewusstsein beherrscht nach Freud den Zugang zur Motilität. Das Bewusstwerden der Sexualerregung, d.h. des psychischen Anteils der Libido, der als Sexualwunsch zum Ausdruck kommt, ist eine notwendige Vorbedingung des Empfindlichwerdens der Sexualorgane; dieses entspricht bereits einer partiellen Überleitung der Erregung ins Sensorische (Lustempfindung), und wir sehen in der Tat in den Analysen, dass die Angst ansteigt, sobald auch die Wahr-

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nehmung der genitalen Erregung verdrängt wird, und dass sie nachlässt, wenn diese geduldet wird. Kommt es nicht zur orgastisch-motorischen Befriedigung, wird die Sexualerregung auch nicht in psychoneurotischen Symptomen gebunden, so erfolgt gewöhnlich eine neuerliche Absperrung der genitalen Sensibilität und die Angst stellt sich samt den vasomotorischen Erscheinungen wieder ein. Freilich ist diese Angst nicht mehr reine Stauungsangst, sondern sie bekommt auch den Sinn der 'Angst' des Ichs vor seinen sexuellen Bedürfnissen. Doch nimmt mit dem Grade der Nichtwahrnehmung (Verdrängung) der Sexualerregung die Sensibilität des Genitales ab und die Rückstauung der Erregung ins autonome Nervensystem zu; diese somatischen Vorgänge sind meist durch psychische Hemmungen, z.B. durch Angst vor dem Koitus, bedingt."

(Reich, Die Funktion des Orgasmus [1927], S. 71)

"Es bedarf einer kleinen Korrektur an der bisherigen Auffassung der Genese der Aktualangst. Die Auffassung, dass die vasomotorischen Symptome der Angstneurose Freuds nur Angstäquivalente seien, kann zugunsten der anderen aufgegeben werden, dass die freiflottierende Angst eine Begleiterscheinung einer bestimmten Form vegetativer Irritation der Herztätigkeit ist. Denken wir uns ferner an die Stelle des Nikotins somatische Sexualstoffe, die nicht in physiologisch korrekter Weise abgebaut wurden, so sehen wir die Ätiologie der Aktualangst klar vor uns: Die Libidostauung bedingt eine Irritation des vaso-vegetativen Systems in Form der Herzneurose, die immer im Zentrum der angstneurotischen Symtomatologie steht; die Angst geht, wie bei der Nikotinvergiftung, beim Basedow, bei der Angina pectoris unmittelbar aus der Irritation der Herztätigkeit hervor und das Problem der Verwandlung von Libido in Angst fällt weg." (l.c. S.66)

"Wir sehen ferner, dass die wichtigsten automatischen Funktionen bei den vorbereitenden Sexualakten vom vasovegetativen System bestritten werden, so die Vasodilation bei der Erektion, die Sekretion der Bartolini'schen Drüsen beim Weibe und die allgemeine Durchblutung der Genitalien. Man kann nun sagen, dass die Sexualerregung bei der Erwartungslust (analog wie bei der Erwartungsangst) zunächst das kardiale System auf dem Wege vegetativer Innervation erfasst, sich aber im weiteren Verlaufe, sofern keine Hemmungen vorliegen, auf das genitale Organsystem verschiebt und dadurch das kardiale entlastet."

2) Käthe Misch konnte ihr Cholinexperiment erst anstellen auf Grund der Reich'schen Auffassung, dass die Libidostauung überhaupt ein Ausdruck einer vasovegetativen Erregung ist.

Reich hat das Cholinexperiment in seiner Arbeit über den «Urgegensatz des vegetativen Lebens» 1934 ausführlich zitiert und in seine Theorie vom Libido-Angst-Gegensatz eingebaut. Käthe Misch zitiert aber nicht die Quelle der Theorie, auf deren Grund sie ihr Experiment ausführte.

3) Ihre heuristische These über die Verwertbarkeit der neuen Angsttheorie für die Technik kommt reichlich spät, denn Wilhelm Reich hat in vielen Jahren klinischer Arbeit gerade diesen Gesichtspunkt für die Theorie der charakteranalytischen Therapie und ihrer Technik praktisch befriedigend durchgeführt. (Vgl. «Charakteranalyse», II. Kapitel).

4) Freud hat seine ursprüngliche Theorie der Angst aufgegeben. Es kann also nicht gesagt werden, dass das Misch'sche Experiment "die Freudsche Angsttheorie bestätige": "Die Frage, aus welchem Stoff die Angst gemacht wird, hat an Interesse verloren. ... Nicht die Verdrängung schafft die Angst, sondern die Angst ist früher da, die Angst macht die Verdrängung. ... Dass es die Libido selbst ist, die dabei in Angst verwandelt ist, werden wir nicht mehr behaupten." (Freud, Neue Vorlesungen, S. 118, 119, 130)

5) Käthe Misch, deren wissenschaftliche Qualitäten wir hoch einschätzen, ist der so peinliche Unfall passiert, eine längst erarbeitete wissenschaftliche Theorie über die Angst ohne Zitat des Autors dieser Theorie, die sie sehr wohl kennt, in dieser Weise neu zu entdecken. "Wir erkennen in der Sympatikus-Gruppenwirkung die Angst, in der Vagus-Gruppenwirkung die Sexualerregung wieder." So fasste Reich seine Auffassung in «Der Urgegensatz» zusammen. Den Inhalt dieser Arbeit hatte Reich Käthe Misch zu Weihnachten 1933 ausführlich vorgetragen. Ebenso hatte Reich mit Käthe Misch anlässlich ihrer Experimente in Berlin ausführliche Besprechungen über seine Angsttheorie.

Die Bedeutung dieser peinlichen Affäre liegt in folgendem: Käthe Misch stand am 13. PsA. Kongress [der Artikel ist ein Abdruck ihres Vortrages dort, am 28. August 1934] und auch nachher unter dem Drucke der Hetze, die

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gegen Reich geführt wurde. Sein Name durfte offenbar nicht genannt werden. Doch die Sache betrifft mehr als bloss ein Plagiat. Hätte Käthe Misch die Reich'sche Fortführung und Umgestaltung der Freud'schen Annahme aus dem Jahre 1895, nachdem diese von Freud selbst fallen gelassen worden war, im Sinne der korrekten naturwissenschaftlichen Arbeit ohne Zitierung aufgenommen; hätte sie dann, wie Reich es tat, aus den Zusammenhängen zwischen Sexualität und Angst, beider zum autonomen Nervensystem und der Funktion des autonomen Nervensystems zur Funktion der gesellschaftlichen Sexualunterdrückung, der Religion, des Mystizismus, der faschistischen Ideologie etc. die korrekten Konsequenzen gezogen, so wäre nicht viel daran gelegen gewesen, das Verfügungsrecht über die genannte Theorie aufs schärfste zu vertreten. Es geht nicht an, dass der Autor einer Theorie, die notwendigerweise zu revolutionären Konsequenzen führt, von einer angeblich objektiv wissenschaftlichen Organisation ausgeschlossen, verleumdet, als Mitglied im Stich gelassen wird, dass er, wegen der korrekten Durchführung revolutionär wissenschaftlicher Anschauungen von der politischen Reaktion aufs schärfste verfolgt wird, während sich ein anderer Wissenschaftler aus der ganzen gefährlichen Arbeit nur die Rosinen herausholt. Wer die Ehre beansprucht, das Libido-Angst-Problem als Wissenschaftler zu bearbeiten und einer Lösung zuzuführen, der muss es auch riskieren, all das auf sich zu nehmen, was korrekte, unbeirrbare wissenschaftliche Arbeit in der heutigen Zeit an Gefahren notwendigerweise mit sich bringt.

Dass Käthe Misch dem Druck in so horrender Weise nachgab, ist sehr beklagenswert.

E. P.


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