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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 3, Heft 1-2 (8-9) (1936)

 Band 3, Heft 1/2 (8/9) (1936) 
1 Der kulturpolitische Standpunkt der Sexpol
8 Ein Briefwechsel über dialektischen Materialismus
22 Ernst Parell: Die Sexpol als Organisation der dialektisch-materialistischen Psychologie
24 Wilhelm Reich: Fortpflanzung eine Funktion der Sexualität, 1. Teil
31 Nic Hoel: Unklarheit in Sexualpolitik und Sozialhygiene in England
38 "Waller": Au secours de la famille
43 Karl Teschitz [Karl von Motesiczky]: Aus der internationalen Sexpol-Diskussion [u.a. zum Anarchismus]
49 K.S.: Sex-Appeal und kapitalistische Gesellschaftsordnung
52 Gespräch mit einer vernünftigen Mutter
62 Irma Kessel: Über kindliches Kriegsspiel
67 Sexpol-Bewegung [ Kampf gegen Pornographie; Wilhelm Stekels "Klinik für Eifersüchtige"; Abortus provocatus]
72 Sexpol-Korrespondenz
73 Besprechungen:
Fritz Sternberg: Der Faschismus an der Macht (Rv.)
Christian Schjelderup: Paa vel mot hedenskapet (Auf dem Weg zum Heidentum) (K.T.)
Heinz Liepmann: Das Vaterland (L.)
Edward Charles: The Sexual Impulse (Leu.)
Liebe und Leben (Zeitschrift; Hg. Theodor Hartwig) (Leunbach)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 3 (1936), Doppel-Heft 1-2 (8-9), S. 1-7

Der kulturpolitische Standpunkt der Sexpol

Die politische Reaktion überschreit sich in den verschiedenen Lagern mit der einhelligen Behauptung, dass die Kultur die Blüte der Gesellschaft sei und behütet werden müsse. Doch was sie mystisch und laut vertritt, verneint sie praktisch. Die soziale Revolution dagegen will praktisch lebensbejahend sein und alle wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen.

Im Kapitalismus stehen die Bedürfnisse der Menschen im Dienste der chaotischen Wirtschaft des kapitalistischen Interesses. Der internationale revolutionäre Sozialismus erstrebt die Umkehrung des Verhältnisses: Die Wirtschaft soll planmässig in den Dienst der menschlichen Bedürfnisbefriedigung gestellt werden.

Im Kapitalismus lebt die Mehrheit der Erdbevölkerung in realer Not und in illusionärer Befriedigung. Der Sozialismus erstrebt eine Wirtschaft, die an die Stelle der illusionären Befriedigung und der realen Not die allgemeine Befriedigung des lebendigen Lebens setzt. Sicherung des Lebensglücks auf Erden ist seine Parole.

Im Kapitalismus sind die Massen Spielball ungelenkter Wirtschaftsprozesse und intriganter Diplomaten, die sich dieser Wirtschaft bedienen und Kriege in Gang setzen, wenn sie mit ihrer Diplomatenkunst zu Ende sind. Doch weshalb setzt sich die Idee der Planwirtschaft und des rationellen Lebens in der Masse der Erdbevölkerung so schwer oder gar nicht durch? Weshalb errang die politische Reaktion nach dieser langjährigen Weltwirtschaftkrise einen so ungeheuren Vorsprung?

Die breite Masse versteht nichts von dem, was vorgeht und interessiert sich nicht dafür. Sie kennt nur ihre leibliche und seelische Not, doch nicht deren objektiven Grund.

Es zeigt sich, dass die materielle und kulturelle Unterdrückung des Lebens innerhalb der Massen der Unterdrückten selbst, sei es in

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Form von Passivität, sei es in Form von politischen Einstellungen, die ihren realen Interessen widersprechen, Verankerung gefunden hat. Es zeigt sich, dass die menschliche Struktur jeder Autorität hörig ist, und das Leben, das sie verwirklichen will, fürchtet. Und die revolutionäre Bewegung hat bisher der Masse nicht klar gemacht, was Freiheit konkret bedeutet. Zu dieser katastrophalen Lebensverneinung innerhalb der breiten Masse der Erdbevölkerung trägt eine Unklarheit über die Beziehung von Natur und Kultur, Trieb und Moral, Sexualität und Arbeit wohl das allermeiste bei. Die Angst vor dem "sittlichen Chaos" im Falle einer sozialen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse beherrscht nicht nur die politische Reaktion in ihrer Führung, sondern auch breite Teile der sozialistischen Führerschaft nicht minder als die von lebensverneinender Moral verseuchten Massen.

Unsere Absicht kann im Augenblicke nichts anderes sein, als zu einer Erklärung eines unlösbar erscheinenden, aber in Wirklichkeit lösbaren Widerspruches unseren Beitrag zu liefern.

Der Gegensatz von Trieb und Kultur, Sexualleben und Arbeit besteht heute zurecht. Denn die moralische und autoritäre Unterdrückung des Lebens hat die Menschen mit asozialen gefährlichen Instinkten ausgestattet. Der Hunger erzeugte den Diebstahl, die moralische Askese erzeugte die sexuelle Vergewaltigung. Es bestehen also Gründe für die Angst vor Chaos zurecht. Doch man vergass dabei, dass die Verrottung und Zermürbung der natürlichen menschlichen Sexualität einmal entstand und das Chaos längst erzeugt hat. Man hält das, was die heutigen Menschen in Familienleben und Krieg, in Banditentum und Verbrechertum zur Schau stellen, für ihre natürlichen, ererbten "Anlagen" und schliesst daraus, dass die Notwendigkeit der moralischen Regulierung und Bremsung im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts naturgegeben sei; dass die menschliche Kultur kaputt ginge, wenn man die moralische autoritäre Ordnung beseitigen würde.

Man übersah, obgleich das Leben es auf Schritt und Tritt demonstriert, dass der Kern des Kulturprozesses der Sexualitätsprozess des Menschen ist, wie die Basis beider die wirtschaftliche Produktion. Eine revolutionäre Kulturbetrachtung kann die heutige Kultur nicht bejahen. Sie kann auch weder die autoritäre Zwangsmoral noch die Triebunterdrückung bejahen. Sie muss den Widerspruch zwischen Natur und Kultur, Trieb und Moral lösen und die Einheit beider Teile zustande bringen. Voraussetzung dazu ist, dass sie unterscheiden lernt, was natürlicher Lebensanspruch und was gesellschaftlich feindlicher, durch die Moral zustande gekommener asozialer Trieb ist. Die Kulturfrage kann nicht gelöst werden, wenn man nicht ihren Kern, die sexuelle Lebensweise der Menschen, rationell und lustbejahend erfasst.

Die Kulturbewegung des Sozialismus scheiterte bisher daran, dass

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sie ebenso wie der Konservativismus an die absolute Gegensätzlichkeit von Kulturbildung und Sexualität glaubte, und es nicht wagte, an das Ungeheuer des drohenden sittlichen Chaos konkret heranzugehen. Eine sozialistische Kultur kann sich niemals gegen das lebendige Leben wenden, sie kann nur die prächtigste Blüte des jeweiligen Lebens sein. Zur Verdeutlichung:

Was ist sexuelles Chaos ?

Sich im Ehebett auf das Gesetz der "ehelichen Pflicht" zu berufen.
Eine lebenslängliche sexuelle Bindung einzugehen, ohne vorher den Partner sexuell kennengelernt zu haben.
Ein Proletariermädchen zu "beschlafen", weil sie "zu so etwas schlecht genug ist", und gleichzeitig einem "anständigen Mädchen derartiges" nicht zumuten.
Geil von einem schmutzigen Hurenleben oder infolge Abstinenz die "Hochzeitsnacht" zu erwarten.
In der Entjungferung den Höhepunkt männlicher Potenz zu erblicken.
Mit 14 Jahren gierig jedes halbnackte Menschenbild im Geiste abzutasten, um dann mit 20 Jahren als Nationalist oder Oxfordianer für die "Reinheit und Ehre der Frau" einzutreten.
Einem Julius Streicher zu ermöglichen, seine perversen Phantasien zehntausenden Jugendlichen einzubläuen.
Kinder für Selbstbefriedigung zu bestrafen und Jugendliche glauben zu machen, dass sie durch den Samenerguss Rückenmark verlieren.
Die pornographische Industrie zu dulden.
Durch erotische Filme die Jugendlichen sexuell zu erregen, um Geschäfte zu machen, aber ihnen die natürliche Liebe und Befriedigung, noch dazu mit Berufung auf die Kultur, zu versagen.

Was ist nicht sexuelles Chaos ?

Aus gegenseitiger Liebe die körperliche Hingabe ohne Rücksicht auf die herrschenden Gesetze und Moralvorschriften zu wollen und danach zu handeln.
Kinder und Jugendliche von den sexuellen Schuldgefühlen zu befreien und sie ihrem Alter entsprechend leben zu lassen.
Nicht zu heiraten oder sich dauernd zu binden, ehe man den Partner körperlich genau kennenlernte.
Kinder nur dann in die Welt setzen, wenn man sie wünscht und aufziehen kann.
Keinen Anspruch auf Liebe oder Hingabe zu erheben.
Nicht aus Eifersucht den Partner zu morden.
Nicht mit Prostituierten zu verkehren, sondern mit Freunden des eigenen Lebenskreises.

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Nicht in Haustoren wie die Jugendlichen unserer Kultur, sondern in hygienischen ungestörten Räumen den Beischlaf ausüben zu wollen.
Eine unglückliche zermürbende Ehe nicht aus moralischer Rücksicht zu halten, u.s.f.

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Das Kulturgeschwätz wird nicht aufhören, und die revolutionäre Kulturbewegung wird nicht siegen, wenn diese Fragen nicht gelöst sein werden.

Das Ziel der sexualpolitischen, kulturrevolutionären Arbeit kristallisiert sich an Hand der Ereignisse ohne Klügelei heraus:

Die Menschen haben die ursprüngliche natürliche Lebensfunktion mit allem Lebendigen gemeinsam. Man pflegt es Triebleben oder Gefühlsleben zu nennen. Dieses vegetative Leben strebt nach Entfaltung, Betätigung, Lust, vermeidet Unlust und erlebt sich selbst in Gestalt strömender, drängender Empfindungen. Sie sind die Kernelemente jeder vorwärtstreibenden, also revolutionären Weltanschauung. Auch dem sogenannten "religiösen Erleben" und dem "ozeanischen Gefühl" liegen vegetative Lebenserscheinungen zugrunde. Es glückte vor kurzem, in einigen dieser vegetativen Erregungen elektrische Ladungsvorgänge der Gewebe zu erkennen. Begreiflich, denn der Mensch ist nur ein Stück der Natur, die elektrisch betrieben ist.

Dem religiösen Gefühl des Einsseins mit dem Weltall entspricht somit eine Naturtatsache. Doch die Mystifizierung des organischen Wellengangs vollbrachte an Stelle der Entfaltung seine völlige Lahmlegung. Christus führte die gläubigen Armen gegen die Reichen. Das Urchristentum war im Grunde eine kommunistische Bewegung, deren vorwärtsstrebende, lebensbejahende Kraft durch die gleichzeitige Sexualverneinung ins Gegenteil, ins Asketische und überirdische verkehrt wurde. Zur Staatskirche geworden, verleugnete das internationale, die Erlösung des Menschen anstrebende Christentum seinen eigenen Ursprung. Ihre Kraft verdankt die Kirche den mächtigen, lebensverneinenden Veränderungen der menschlichen Struktur durch die metaphysische Fassung des Lebens: Sie lebt durch das Leben, das sie tötet.

In der marxistischen Wirtschaftstheorie brach sich die Erkenntnis der wirtschaftlichen Voraussetzungen des vorwärtsstrebenden Lebens Bahn. Die Sowjetunion bewies ihre Richtigkeit. Doch ihre Einschränkung durch grob ökonomistische und mechanistische Anschauungen verursachte eine bedrohliche Veränderung zur Lebensverneinung mit all ihren wohlbekannten Anzeichen. Der Ökonomismus unterlag in diesen Jahren schwerster politischer Kämpfe, weil er die Formung des vegetativen Lebenswillens als "Psychologie" verdammte und sie den Mystikern überliess.

Im Neuheidentum des deutschen Nationalsozialismus brach sich das vegetative Leben abermals Bahn. Der vegetative Wellengang wurde von der faschistischen Ideologie besser erfasst als von der

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Kirche und ins Irdische herabgeholt. Die nationalsozialistische Mystik der "Blutwallung" und der "Verbundenheit mit Blut und Boden" bedeutet somit gegenüber der altchristlichen Anschauung von der Erbsünde einen Fortschritt; er erstickt jedoch in neuerlicher Mystifizierung und in reaktionärer Wirtschaftspolitik. Die Lebensbejahung biegt neuerdings in Lebensverneinung um, wird zur Bremsung der Lebensentfaltung in der Ideologie der Askese, des Untertanentums, der Pflicht und der Volksgemeinschaft mit den Kapitalisten. Trotzdem kann man nicht die Sündenlehre gegen die Lehre von der "Blutwallung" verteidigen; man muss die "Blutwallung" vorwärtstreiben, sie zurechtbiegen.

Aus diesem Verhältnis von Altchristentum und Neuheidentum gehen viele Missverständnisse hervor. Die einen reklamieren das Neuheidentum als die Religion des Proletariats; sie spüren die fortschrittliche Tendenz, sie sehen nicht ihre mystische Umbiegung. Die andern wollen die Kirche gegen die faschistische Ideologie in Schutz nehmen und meinen dabei, revolutionär zu handeln. Mag sein, dass dies aktuell politisch richtig ist, doch auf die Dauer führt es irre. Unter den Sozialisten gibt es viele, die das "religiöse Empfinden" nicht völlig missen möchten; sie haben recht, sofern sie die vegetative Entfaltungstendenz meinen; sie haben unrecht, sofern sie die reale Abbiegung und Bremsung des Lebens nicht sehen. Niemand wagt noch, an den sexuellen Kern der Lebensentfaltung zu greifen, und jeder nützt seine eigene Sexualangst unbewusst aus, um das Leben zwar in Gestalt des religiösen oder revolutionären Erlebens zu bejahen, es jedoch im nächsten Atemzuge praktisch durch SexuaIverneinung in Lebensverneinung zu verkehren. Derart ergänzen einander religiöse Sozialisten und ökonomistische Marxisten.

Das umseitige Schema veranschaulicht das Gesagte:

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Schema der kulturpolitischen Entwicklung

Die sexualökonomische Forschung hat aus ihrer naturwissenschaftlichen Grundlage und den sozialen Vorgängen den korrekten Schluss gezogen: Der Lebensbejahung muss in ihrer subjektiven Form als Bejahung der Sexuallust und in ihrer objektiv gesellschaftlichen Form als sozialistischer Planwirtschaft zur subjektiven Bewusstheit und zur objektiven Entfaltung verholfen werden. Die Lebens-

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bejahung muss organisiert erkämpft werden. Die Lustangst der Menschen ist dessen mächtigster struktureller Gegner.

Die durch die gesellschaftliche Störung des natürlichen Lustablaufs entstandene organische Lustangst bietet in Gestalt von Bescheidenheit, Moralität, Führerhörigkeit etc. den Kern der Schwierigkeiten aller Art dar, denen die massenpsychologische und sexualpolitische Praxis im Alltag begegnet. Man schämt sich zwar, impotent oder zur Spendung von Lebensglück unfähig zu sein, wie man sich schämt, politisch reaktionär zu sein. Die sexuelle Potenz ist das hohe Ideal geblieben, Revolutionärsein ebenso; jeder Reaktionär tritt heute als Revolutionär auf. Doch man hört nicht gern, dass einem das Lebensglück zerbrochen wurde und man eine vertane Zukunft hinter sich hat. Deshalb wehrt sich das Alter immer mehr gegen die konkrete Lebensbejahung als die Jugend. Deshalb wird die alternde Jugend konservativ. Man möchte nicht erkennen, dass man es sich besser hätte einrichten können, dass man nun verneint, was man einmal bejahte; dass zur Verwirklichung der eigenen Lebenswünsche eine Umstellung des gesamten Lebensprozesses erforderlich ist, die viele liebgewordene Ersatzbefriedigungen und Illusionen zerstört. Man flucht nicht gern den Exekutoren der autoritären Staatsgewalt und der asketischen Ideologie, weil sie "Vater" und "Mutter" heissen; man resigniert zwar, aber man verzichtet nie.

Doch die Entfaltung des Lebens ist nicht aufzuhalten. Nicht ohne Grund fasste man den gesellschaftlichen Prozess als Naturprozess auf. Die "historische Notwendigkeit" de's Sozialismus ist nichts anderes als die aktuelle biologische Notwendigkeit der Lebensentfaltung. Die Umbiegung ins Asketische, Autoritäre, Lebensverneinende kann vielleicht wieder einmal gelingen; doch am Ende steht der Sieg der Naturkräfte im Menschen: die Einheit von Natur und Kultur. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass das Leben gegen die Fesseln der ihm auferlegten Lebensweise in hellste Rebellion geriet. Der Kampf ums "neue Leben" setzte erst jetzt richtig ein, zunächst noch in Form schwerster materieller und seelischer Zerrüttung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Doch wer das Leben zu begreifen fähig ist, verzagt nicht. Wer satt ist, stiehlt nicht. Wer sexuell glücklich ist, braucht keinen "moralischen Halt" und hat sein naturwahrstes "religiöses Erleben". Das Leben ist so einfach wie diese Tatsachen. Es wird nur kompliziert durch die lebensängstlich gewordene menschliche Struktur.

Die allgemeine theoretische und praktische Durchsetzung der Einfachheit der Lebensfunktion und der Sicherung ihrer Produktivität heisst Kulturrevolution. Ihre Grundlage kann nur die sozialistische Planwirtschaft sein.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2 (8-9), S. 22-24

Die Sexpol als Organisation
der dialektisch-materialistischen Psychologie
von Ernst Parell

1. In der letzten Zeit häuften sich Stimmen der Symphatie aus Kreisen kommunistischer Parteiangehöriger für die Ideologie und Praxis der Sexpol. Einige meinten, es wäre das Beste, wenn sich die Urheber der Sexpolbewegung mit der "Komintern" aussöhnen könnten und in die Partei zurückkehren würden. Es gibt vereinzelte kommunistische Gruppen, die sogar behaupten, dass heute eine politische Arbeit ohne die Erkenntnisse der politischen Psychologie der Sexpol undenkbar wäre.

Diejenigen Freunde, die diesen Vorschlag unterstützen, müssen einige Umstände bedenken, die die Frage ins rechte Licht rücken. Die Urheber der Sexpolbewegung hatten jahrelang innerhalb der kommunistischen Partei und Internationale für die Revolutionierung der Sexualreformbewegung gearbeitet, gekämpft und man muss hinzufügen, auch gelitten. Unter ihren scharfen Gegnern befanden sich nicht nur Polizeivertreter der verschiedenen Länder, sondern auch Vertreter der Komintern. Das ist hier nicht als Vorwurf, sondern nur als Tatsache gemeint. Darüber unterrichtet die «Geschichte der Sexpolbewegung», die in der «Zeitschrift für politische Psychologie [und Sexualökonomie]» abgedruckt ist.

2. Der Ausdruck "aussöhnen" wäre dann richtig, wenn die verantwortlichen Sexpolgenossen je "böse" geworden wären. Das ist durchaus nicht der Fall, im Gegenteil, gerade in der Sexpolliteratur finden sich unmissverständliche Versuche, den sonst unerklärlicben Tatbestand begreiflich zu machen, dass revolutionäre Organisationen gegen die Revolutionierung eines der wichtigsten Gebiete des menschlichen Lebens derart scharf auftraten. Gerade auf Grund dieser ernsten Versuche, Unverständliches zu begreifen, hat sich eine Reihe neuer wichtiger Erkenntnisse ergeben. Eine davon ist die, dass die Komintern die Umwälzung von 300 Jahren Kapitalismus anstrebt, die Sexpol dagegen die Notwendigkeit der Umwälzung einer Jahrtausende alten

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menschlichen Struktur vertritt. Und darin konnten sich die organisch zueinander gehörenden Gruppierungen der revolutionären Arbeiterbewegung nicht verstehen; es war durch die Praxis der Komintern bewiesen.

3. Die Sexpol lehnt den Standpunkt ab, dass "konterrevolutionär" ist, wer die Kominternpolitik scharf kritisiert. Der kommunistische Parteiangehörige hat es gelernt, die Komintern mit der Revolution, und alles, was ausserhalb ist mit "Konterrevolution" gleichzusetzen. Er meint es zwar ehrlich, hat aber dennoch unrecht. Niemand wird behaupten, dass, im korrekten Sinne gefasst, Leo Trotzki oder die revolutionären Sozialisten oder Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands Konterrevolutionäre sind. Es gehört ein tüchtiges Mass an mangelhafter Schulung oder an eitler Überheblichkeit dazu, derartige Monopolanprüche zu erheben. Es hätte zumindest durch die Praxis besser bewiesen sein müssen. Die Sexpol ist, wie in dieser Zeitschrift wiederholt ausführlich dargelegt wurde, die Organisation, die den bisher völlig vernachlässigten "subjektiven Faktor der Geschichte", in ihrem Sinne: die psychische Struktur der breiten unpolitischen Masse der Bevölkerung, theoretisch zu verstehen und praktisch zu bewältigen versucht. Sie behauptet, dass die falsche Politik der verschiedenen Arbeiterparteiführungen, die sich gegenseitig beschuldigen, selbst der Nichterfassung der Rolle des lebendigen Menschen in der Geschichte zuzuschreiben ist. Wir können nicht wissen, aus welchen Kreisen der Bewegung der Arbeiter und des Mittelstandes sich die Kräfte ergeben werden, die die Aufgabe der Sexpol begreifen und praktisch stützen werden. Es muss unmissverständlich ausgesprochen werden, dass es ein Unsinn ist, bloss revolutionäres Wollen oder revolutionären Mut für das Ganze der Aufgabe zu halten; zu glauben, dass der proletarische SA-Mann, der Hitler folgte, weniger mutig oder viel dumpfer war als der revolutionäre RFB-Mann; dass einer der vielen eingesperrten Anarchisten oder SAPisten weniger revolutionär, weniger theoretisch geschult oder ungeschult wäre als irgendeiner aus den kommunistischen Reihen. Solange man die Mehrheit der Bevölkerung nicht gewonnen hat, hat man kein Recht, sich für den Vertreter der Mehrheit der Bevölkerung zu halten. Ebensowenig ist es heute angebracht, sich für den geborenen Führer zu halten, weil wir gar nicht wissen können, wer im künftigen Ringen seine Führereigenschaften beweisen wird. Kurz, die Sexpol kann sich keiner der bestehenden Arbeiterorganisationen einordnen, denn das würde eine Lähmung ihrer praktischen und ideologischen Betätigung bedeuten. Es gelingt ihr, den Widerspruch zwischen Selbständigkeit und Überall-Einfluss-Gewinnen allmählich zu lösen. Die Sexpol steht nicht gegen die oder gegen jene Arbeiterpartei, sondern behandelt positiv einen für die kommende Entwicklung lebenswichtigen Abschnitt, den jede sozialistische Organisation selber bewältigen müsste, sofern sie ihr Ziel ernsthaft anstrebt. Im Verlaufe der weiteren ideologischen

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Kämpfe wird sich ja herausstellen, und zwar mit voller Sicherheit, wer die heute drängenden massenpsychologischen Probleme begriffen hat und wer nicht.

Die Sexpol ist die Organisation, die die Wissenschaft der Sexualökonomie (dialektisch-materialistischen Psychologie) zur theoretischen Grundlage hat; als eine Organisation, die auf dem naturwissenschaftlichen Prinzip des dialektischen Materialismus beruht, verwirklicht sie nur die Forderung der Einheitlichkeit von Theorie und Praxis, wenn sie die wissenschaftliche Forschung politisiert und die Politik mit wissenschaftlichem Denken über den über den Menschen und seine seelischen Funktionen zu erfüllen versucht. Nur solange die Sexpol diese drei Prinzipien verwirklicht, darf sie sich als die Organisation der dialektisch-materialistischen Psychologie bezeichnen und für sich ift Anspruch nehmen, dass sie den "subjektiven Faktor der Geschichte" praktisch erfasst.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2 (8-9), S. 43-49

Aus der internationalen Sexpol-Diskussion
[u.a. zum Anarchismus]
von Karl Teschitz

Wir stehen mit Genossen aus fast allen sozialistischen Gruppen in regem Briefwechsel. Demgegenüber kommt die öffentliche Diskussion nur langsam in Gang. Die sozialdemokratische Presse -- mit Ausnahme der Freidenker -- schweigt uns tot, die Kominternpresse hat uns ein für alle Mal unter die Konterrevolutionäre eingereiht.

Die unabhängige sozialistische Presse brachte z.T. sehr freundliche Besprechungen: So z. B. «Neue Weltbühne», «Unser Wort», «Internat. Ärztliches Bulletin», auch «Arbeiderbladet», das Organ der keiner Internationale angeschlossenen norwegischen Arbeiterpartei.

Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Sex-Pol findet sich in der holländischen Zeitschrift «Bevrijding», ferner auch ein grundsätzlicher Artikel in der spanischen «Revista blanca». Beide stehen auf dein Boden des Anarchismus bzw. Anarchosyndikalismus. Das ist an sich nicht überraschend. Von jeher waren die Anarchisten diejenigen unter den sozialistischen Gruppen, die auf die Befreiung und Revolutionierung des persönlichen Lebens, auf die Aktivierung des revolutionären Willens das grösste Gewicht gelegt haben, die sich darum auch schon frühzeitig mit dem Problem der sexuellen Befreiung befassten.

Unter den Einwänden sind diejenigen am interessantesten, die aus der anarchistischen Ablehnung des Marxismus, der zentralisierten Partei sowie jeder autoritären Organisation überhaupt stammen. Wir glaubten zwar, wir seien Marxisten, sagen diese Genossen. Aber:

"Es ist richtig, dass die Auffassungen von Marx betreffend ökonomischer Basis und ideologischem Überbau nicht angegriffen werden. Die Auffassungen von Reich bringen aber eine so komplett veränderte Einstellung auf theoretischem und praktischem Gebiet, dass wir es in Wirklichkeit mit einer theoretischen

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Erneuerung des Marxismus zu tun haben. Wäre das nicht der Fall, dann würde es nicht so viel Widerstand geben." (Jong und Kuysten in «Bevriiding», Juni 1935)

"Reich hat seinen Ausschluss (aus der kommunistischen Partei, der Ref.) wohl verdient, denn sein Buch ist eine heftige Attacke auf einen der grundlegenden Irrtümer des Marxismus: des mechanisch verstandenen Marxismus, sagt er, des autoritären Sozialismus im ganzen gesehn, sagen wir." («Revista blanca», 8. November 1935)

Die Analyse, die die Sex-Pol von der Rolle der Autorität gibt, findet bei diesen Genossen besondere Beachtung. Doch gerade hier findet man einen Widerspruch in unserer eigenen Auffassung.

"Wie ist es möglich, dass Leute, die den psychologischen Grund und die Gefahr der Autorität, wie sie sich auch offenbart (Familie, Staat, Kirche, Partei) kennen, noch immer eine Schlinge um den Arm haben, wenn es der Komintern gilt ?" (Hornstra in «Bevrijding» Feb. 1935)

In diesem Zusammenhang greift Hornstra das Bekenntnis eines Mitarbeiters von Heft 3/4 zur Arbeit innerhalb der kommunistischen Partei an. Ebenso vermisst er bei den Kritikern des deutschen Autoritätsprinzips eine entschiedene Kritik des gleichen autoritären Prinzips in Russland, ein positives Bekenntnis zu den Arbeiter- und Bauernräten, die seiner Meinung nach schon zu Beginn der russischen Revolution auf Befehl der kommunistischen Parteizentrale in Blut erstickt worden sind (Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes).
Noch klarer entwickeln Jong und Kuysten den anarchistischen Standpunkt in ihrer Kritik an unserer Meinung über die Partei.

"Reich's Standpunkt betr. der Notwendigkeit einer straff organisierten und disziplinierten Partei und betr. des Staates sind inkonsequent. Wenn nämlich die Praxis seiner Theorien zur Zerstörung der Bindung an den Führer, der Autoritätsgläubigkeit, der Unselbständigkeit führt, wie ist es dann möglich, Mitglieder für dgl. Parteien zu finden, -- angesichts der Tatsache, dass alle diese Parteien bisher bürokratische, diktatorische Instrumente waren und nur bestehen konnten durch die geistige Ohnmacht des Proletariats."

Während sich die Entwicklung vom Urkommunismus zur Klassengesellschaft ohne ideologischen Bruch vollzog, sei eine komplette ideologische Revolution vor Aufhebung der Klassenteilung notwendig.

"Die Auffassung von Engels, das Absterben des Staates betreffend, ist nur zu begreifen, wenn man annimmt, dass der ökonomisch-revolutionäre Kampf durch die grosse Mehrheit eines unmündigen Proletariats geführt wird, das dann auch weder ökonomisch noch politisch Recht zur Mitbestimmung erhält. Die politische Partei hat offenbar die Aufgabe, diese Unmündigkeit aufzuheben und Bedingungen zu schaffen, unter denen die ökonomische Macht in die Hände der Arbeiter übergeht und die Regierung über Menschen durch Verwaltung von Gütern ersetzt wird. Der Verlauf der russischen Revolution hat aber deutlich erwiesen, dass in einem solchen Falle die politische Partei, die den Produktions- und Machtapparat, d.h. den Staat in die Hände bekommt, alle Kennzeichen einer herrschenden Klasse entwickelt. ... Eine Entwicklung also, völlig im Gegensatz zu der von Engels geschilderten."

Zum Schluss stellen Jong und Kuysten fest, es sei bemerkenswert, dass die theoretischen Grundlagen für eine Erneuerung des Anarchis-

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mus gerade von marxistischer Seite kommen. Der Anarchismus darf allerdings nicht in der bisherigen dogmatischen Abgeschlossenheit verharren, sondern muss den Fortschritten des wissenschaftlichen Denkens aufgeschlossen sein.

Die «Revista blanca» (8. und 15. Nov. 1935) meint, der Hauptgedanke Reichs lasse sich in dem Satz zusammenfassen: "Die Grundlage aller geistigen Sklaverei ist die sexuelle Sklaverei." Darum sei sexuelle Befreiung mit Hilfe einer besonderen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit notwendig, um in den Köpfen des Proletariats eine revolutionäre Ideologie zu schaffen.

Die Gedanken Reichs sind für die revolutionäre Bewegung wichtig. Doch es erheben sich folgende Einwände: Befreiung von kleinbürgerliehen Vorurteilen in sexueller Hinsicht macht den Menschen noch nicht zum Revolutionär. Ein sexuell freier Mensch könnte trotz allem jedes menschlichen Solidaritätsgefühls bar sein. Man dürfe auch nicht die Bedeutung der Unterdrückung gewisser sexueller Tendenzen für die menschliche Solidarität und Zivilisation ausser Acht lassen, worauf ja auch Freud in seinem gesamten Werk hingewiesen hat.

Für den Kampf um den freien revolutionären Sozialismus müsse man die Ergebnisse aller psychologischen Forschungsrichtungen verwenden, auch derjenigen, die die Sexualität nicht in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Man dürfe sich nicht, wie Reich, darauf beschränken, den verschiedenen Parteien bessere psychologische Argumente zu liefern oder die sexuellen Fragen in den politischen Kampf mit einzubeziehen. Sondern in dieser Epoche der "roten und weissen Diktaturen" käme es darauf an, den Kampf grundsätzlich für einen freien, gegen jeden autoritären Sozialismus zu führen.

Die hier erhobenen Einwände leiten über zu einer Reihe anderer nicht typisch anarchistischer Auffassungen, die in der holländischen Diskussion aufgetaucht sind. Sie betreffen:

1) Die sexualökonomische Auffassung der Beziehung von Sexualbefriedigung, Sublimierung und Arbeitsleistung. Hier vertritt («Vrijdenker», 14.IX.1935) Jef Last (Mitglied der K.P.H.) in der Abwehr eines sehr oberflächlichen Angriffs auf die Sex-Pol eine ähnliche Auffassung, wie die «Revista blanca».

"Wir sind uns bewusst, dass gesellschaftlich wie persönlich Beschränkung des Sexuellen Voraussetzung ist für die Sublimierung. Die gewaltigen wissenschaftlichen, künstlerischen und andern Arbeitsleistungen der weissen Rasse sind nur durch Sublimierung möglich gewesen, die einer sexuellen Moral entstammte, deren Strenge nirgends auf der Welt und zu keiner Zeit ihresgleichen gehabt hat. Die Menschheit lernte eine neue Art von Glück kennen. Nicht glücklich sein in Harmonie mit der Natur in und ausser uns selbst, sondern glücklich sein, insoweit es unserm Willen gelingt, diese Natur zu beherrschen und zu verändern. Symbol dieser Beherrschung und dieses Veränderungswillens wurde die Arbeit und daher unser Arbeitsethos."

Die Sexualmoral wurde -- gegenüber Altertum und Mittelalter -- mit der vom Kapitalismus geforderten Arbeitsanspannung ungeheuer verschärft, brach jedoch zusammen, als mit steigender Mechanisie-

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rung die Arbeit für den Arbeiter ihren Sinn verlor. Auch der Sozialismus wird eine gewisse Sexualeinschränkung verlangen, die aber nicht an der Sexualmoral des Privatkapitalismus gemessen werden darf. -- Mit Reichs Sublimierungstheorie erklärt sich Last an anderer Stelle ausdrückIich nicht einverstanden. Last vergisst, dass das von ihm vertretene Glück in der Masse einer illusionären Befriedigung entspricht.

2) Eine Kritik der Anwendung der Begriffe rational und irrational hinsichtlich der Bauern und des Mittelstandes (Jong und Kuysten in «Bevrijding», Juni [1935[). An der Landwirtschaft habe sich das Marx'sche Konzentrationsgesetz nicht bewährt. Die bestehende Not treibt den individuell produzierenden Bauern zur Suche nach einem Ausweg aufgrund der bestehenden Produktionsverhältnisse, solange dieser Ausweg noch nicht fühlbar deutlich versperrt ist. Es wäre im Gegenteil irrational, wenn aus einer gegebenen Situation automatisch die Einsicht für die Zukunft folgte. Ähnliches gilt für den Mittelstand, besonders für die freien Berufe. Diese Menschen könnte man wohl mit antikapitalistischen, nicht aber mit sozialistischen Parolen erfassen, ihre Sympathie für den Faschismus sei darum begreiflich.

3) Es werden eine Reihe Fragen gestellt, Probleme aufgeworfen, die eingehende historische Studien fordern würden und hoffentlich auch zu ihnen Anregung geben. Z.B.: Reich deutet an, dass erst die Verbürgerlichung des Proletariats die psychische Untertanenstruktur schuf. Wie war aber die Klassenunterdrückung vor dieser Verbürgerlichung psychisch verankert ? -- Das Problem der Degeneration des sexuellen Lebens im Proletariat (etwa im englischen Steinkohlendistrikt Anfang des vorigen Jahrhunderts). -- Das Problem der Religion im Matriarchat, wo man bei fehlender Sexualunterdrückung eine solche nicht erwarten sollte. -- Endlich: Warum rebelliert die russische Jugend, "die keine sexuelle Unterdrückung und Bindung an die Familie kennt", nicht gegen Stalins bürokratische Unterdrückung ?

Antwort auf einige Einwände der anarchistischen Genossen

1) Auf die Frage Russland will ich hier nicht im einzelnen eingehen. Die Sex-Pol hat übrigens in besondern Schriften dazu Stellung genommen. Nur eines will ich sagen: Ich glaube, es geht nicht an, in einem Atem von "roter und weisser" Diktatur zu sprechen, die russische Revolution einfach in Bausch und Bogen zu verurteilen. Alle Fehler, die in Russland gemacht worden sind, schaffen die Tatsache nicht aus der Welt, dass es hier zum ersten Mal in der Weltgeschichte einer Arbeiterklasse gelungen ist, die kapitalistischen Ausbeuter dauernd zu verjagen und die Produktion selbst bzw. durch die selbstgewählten Organe in die Hand zu nehmen. Ob und in welchem Ausmass diese Organe dann später degeneriert sind, ist eine Fragefür sich.

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"Leider" geschah diese Machtergreifung mit Hilfe einer zentralisierten und autoritär geleiteten Partei, während der Anarchosyndikalismus bisher in entscheidenden Augenblicken versagt hat. Die französischen Gewerkschaften marschierten, im Gegensatz zu den Bolschewiki, 1914 genau so begeistert in den Krieg wie die Reformisten; die spanischen Anarchosyndikalisten konnten den Sieg der Reaktion in Spanien nicht verhindern. Also mögen sie Lenin und den Bolschewismus nicht gar so sehr von oben herab behandeln.

Auf der andern Seite hat die Sex-Pol, ihrer Unabhängigkeit entsprechend, aus ihrer Kritik an der spätern Taktik und Entwicklung der kommunistischen Partei niemals einen Hehl gemacht. Wenn wir diese Kritik nicht -- wie manche unserer Freunde wünschen -- mehr in den Vordergrund stellen, so scheint mir der Hauptgrund darin zu liegen, dass uns die Bearbeitung der Frage "Was geht in den Massen vor ?", die Untersuchung von Einzelfragen der Massenpsychologie und Sexualpolitik im heutigen Zeitpunkt wichtiger erscheint als die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Politik der kommunistischen oder irgend einer andern Arbeiterpartei.

2) Beim Problem "Führung" und "Autorität" inuss man unterscheiden. Es gibt nämlich eine rational völlig berechtigte Autorität, der sich auch ganz gesunde Menschen fügen werden. Das ist z.B. die Autorität, die aus besonderem Fachwissen stammt. Kein Anarchosyndikalist wird z.B. die Autorität eines guten Arztes bestreiten, der ihm eine bestimmte Diät verschreibt. Aber auch im politischen Leben gibt es die Autorität des Erfahreneren, besser Geschulten, desjenigen, der die Wünsche der Massen besser als die andern auszusprechen, sich besser dafür einzusetzen vermag.

Vielleicht ist jede Autorität zuerst auf dieser rationalen Grundlage geschaffen worden. Erst später hat sich dann der Führer (bzw. die Führerclique, der Parteiapparat) verselbständigt und ist zu den Massen und ihren Interessen in Gegensatz getreten. Doch diese Massen können sich dagegen meistens nicht wehren, hatten es stets schwer, die angemasste wieder durch eine natürliche Autorität zu ersetzen. Ursache: Die von der Sex-Pol aufgezeigte durchschnittliche psychische Struktur, Autoritätsscheu, kindliche Bindung an die einmal eingesetzten Führer und Parteien.

Diese durchschnittliche Struktur kann in der heutigen Gesellschaft nicht radikal beseitigt werden. Und sie ist es auch, die die Massen hindert, ohne die Stützung durch eine Organisation, eine Führung, in Form der "direkten Aktion" wirkungsvoll gegen die Autorität der Unternehmer, des Staates zu rebellieren. Da die Durchführung der "totalen ideologischen Revolution" vor dem Sieg des Proletariats unmöglich ist (da sie die Herrschaft über den gesamten Erziehungs- und Propagandaapparat der Gesellschaft voraussetzt), werden wir bis auf weiteres mit Parteien rechnen müssen, die in vielen Punkten nicht dem Ideal des freien Sozialismus entsprechen, das auch das unsere

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ist. Der beste Beweis dafür ist übrigens Jongs und Kuystens eigenes Eingeständnis, dass der Anarchismus in dogmatischer Abgeschlossenheit verharrt sei, ein Eindruck, den man auch sonst bei der Beschäftigung mit ihm bekommt. Also ist auch er einer Autorität verfallen -- nämlich der Autorität seiner eigenen Doktrin.

Wäre es darum nicht am besten, innerhalb der grossen Massenparteien für deren Revolutionierung zu arbeiten (vgl. Anhang zu «Was ist Klassenbewusstsein ?») ? Wir müssen versuchen, den Massen zu Führungen zu verhelfen, die ihre kindliche Bindung nicht gegen sondern für die Durchsetzung des Interesses dieser Massen ausnützen. Viele Aufgaben, ergeben sich dabei: Z.B. die Umstellung der Bildungsarbeit vom autoritären Herantragen irgendwelcher abstrakten -- wenn auch an sich richtigen -- Theorien auf die lebendige Entwicklung dieser Theorien aus dem wirklichen Leben; die Arbeit für eine sexualbejahende sozialistische Kulturbewegung. All das wären Aufgaben, in denen die Anarchisten ihre Kräfte vielleicht fruchtbarer einsetzen könnten als im blossen moralischen Appell an den revolutionären Willen kleiner Gruppen.

3) Darüber hinaus setzt sich die Sex-Pol für die Schaffung besonderer sexualpolitischer Organisationen ein, die den Massen ihr sexuelles Elend bewusst machen, in einem gewissen Mass zu seiner Linderung beitragen, im Ganzen gesehen diese Massen jedoch von dieser, von der Arbeiterbewegung bisher vernachlässigten Seite aus revolutionieren sollen.

In welcher Form diese Organisationen ins Leben gerufen werden können, darüber ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Aber es ist merkwürdig, dass keiner unserer anarchistischen Kritiker auf die Frage der sexualpolitischen Praxis zu sprechen kommt, obwohl doch gerade diese Seite die Freunde der direkten Aktion besonders interessieren müsste.

Ich glaube die spanischen Genossen haben Reich missverstanden, wenn sie ihn so verstehen, dass man schon heute durch Propaganda und Erziehung die Menschen sexuell befreien und damit revolutionär machen solle. Man kann wohl durch Aufklärung, durch Einrichtung von Beratungsstellen für Empfängnisverhütung und für psychische Schwierigkeiten einiges erreichen, um die Not zu lindern und der sexualpsychologischen Verbürgerlichung vorzubeugen, besonders bei der Jugend. Aber ein grosser Teil dieser Arbeit und der Forderungen, die dabei erhoben werden müssen, führt zur Kritik an der bestehenden Gesellschaft und zum unmittelbaren Zusammenstoss mit der staatlichen Autorität. Dieser Zusammenstoss ist das revolutionierende, nicht die heute nur zum kleinen Teil mögliche Sexualbefreiung.

Darum ist auch der Einwand, es könnte sexuell befriedigte Menschen geben, die nicht revolutionär, ja nicht einmal sozial eingestellt seien, nicht stichhaltig. Ja, solche Menschen kann es grwiss geben. D.h. ein sexuell wirklich (im Sinne der von der Sexualökonomie ent-

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deckten orgastischen Potenz) befriedigter Mensch kann niemals asozial oder faschistisch, wohl aber politisch inaktiv eingestellt sein. Aber solche Menschen finden sich grösstenteils in der Oberklasse. Die Werktätigen stossen bei dem Versuch, ein wirklich befriedigendes Sexualleben zu führen, fast immer auf gesellschaftlich bedingte Schwierigkeiten (Wohnungsmangel, Scheu des Partners, besonders der Frauen, vor Verhütungsmitteln, neurotische Einstellung des Partners, moralische Verurteilung einer freien Beziehung durch Gesellschaft und Kirche, ökonomische Unmöglichkeit, in einem gemeinsamen Haushalt zusammenzuleben etc.). Sobald sie diese Schwierigkeiten als gesellschaftlich bedingt erkennen, was heute grösstenteils nicht der Fall ist, werden sie politisch dagegen rebellieren.

Fassen wir zusammen ! Die Sex-Pol strebt an: a) Einbeziehung der Sexualpolitik in die revolutionäre Politik, b) eine veränderte Einstellung der revolutionären Führung zur Masse (Ausgehen von den Bedürfnissen, statt von der hohen Politik), c) die Erkenntnis des Kulturprozesses als gesellschaftlich bedingten Prozess der Umsetzung sexueller Energie, d) die theoretischen und praktischen Vorarbeiten für die Erziehung zu freien Menschen in einer sozialistischen Gesellschaft.

Damit werden auch die Argumente, wir erstrebten bloss eine Verbesserung der psychologischen Propaganda im Dienste der alten Führer, oder wir trieben nur Sexualpolitik, gegenstandslos. Denn Sexualpolitik umfasst nicht nur alles, was mit Geburtenregelung zusammenhängt, sondern viel mehr, wovon sich jeder Leser unserer Literatur überzeugen kann.

So trägt die Sex-Pol wesentlichen anarchistischen Forderungen Rechnung, ohne die durch Erfahrung erprobten marxistischen Auffassungen über Wirtschaftsstruktur oder die Rolle der Partei aufzugeben. Damit ist sie, könnte man sagen, die Einheit von Marxismus und Anarchismus auf marxistischer Grundlage.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2(8-9), S. 67-70

Kleine Sexpol-Nachrichten:
Ein neuer Verband zur Bekämpfung der "Schmutzliteratur" in Norwegen

Nach dem Bericht einer bürgerlich-Iiberalen Zeitung soll nun nach Muster des schwedischen "kristelig literaturbevegelse" auch in Norwegen eine ähnliche Bewegung gestartet werden. Eine Reihe von Theologen hat die Sache in die Hand genommen. Sie wollen sich offenbar nicht von der fachistischen "Fedrelandslag" (vaterländische Vereinigung) den Rang ablaufen lassen, die vor einigen Tagen

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eine Klebezettelaktion gegen Kioske von Stapel liess, die pornographische Literatur verkaufen.

Mit Aufrufen, Sammlung von Unterschriftenlisten und Agitationsversammlungen will man dazu beitragen, "einen Krebsbazillus zu entfernen, der von allen denkenden Menschen als ernsteste Gefahr für ein frisches Volksleben und eine gesunde Jugend bezeichnet wird".

Es würde eine ausführliche klinische Untersuchung lohnen, warum geistig überlegene Propaganda für sexuelle und ökonomische Befreiung von reaktionärer Seite immer wieder als Vergiftung, Ansteckung mit einer heimtückischen, schleichenden Krankheit etc. empfunden wird: Von der Schlange in der Schöpfungsgeschichte geht hier eine Linie zur nationalsozialistischen Angst vor Volksvergiftung. Die durch sexualfeindliche Erziehung geschaffene Furcht vor der Freiheit, besonders der sexuellen, ist der allgemeine Rahmen, der für eine solche Untersuchung gesteckt wäre.

Aber kehren wir zu dem Zeitungsbericht zurück. Als bürgerlich-liberales Blatt fühlt man sich verpflichtet, gegen diese Aktion theologischer Tugendapostel Stimmung zu machen. Man stellt mit Recht fest, dass sie sich weniger gegen die eigentliche Pornographie als gegen die freiheitliche Literatur im ganzen gesehen richten wird, wie dies auch in Schweden der Fall war. So machte der Sekretär des norwegischen christlichen Jungmännervereins auf die entsetzliche Tatsache aufmerksam, dass es noch immer Verlage gäbe, deren Konsulenten "vor allem künstlerische Massstäbe an ein Buch legen". Und die meisten Kritiker täten dasgleiche, "ohne sich um die Tendenz des Buches zu kümmern".

Und nun -- versichert das Blatt weiter -- seien in Schweden Publizisten aufgestanden und hätten gerade vom christlichen Standpunkt aus gegen den falschen Hochmut der literarischen Tugendapostel Einspruch erhoben. "Achtet gerne auf Reinlichkeit", schreibt ein schwedischer Dr. Theol. "aber lasst die Kunst in Ruhe. ... Nur wer sich gesund und ehrlich in den Versuchungen des Lebens bewahrt hat, kann das Recht haben, zu moralisieren. Doch das Eigentümliche ist, dass derjenige, der das getan hat, nicht die geringste Lust verspürt, sich aufs hohe Ross zu setzen".

Wollte die Sex-Pol publizistisch gegen die christlichen St. George auftreten, die auf der Jagd nach dem Drachen der Pornographie sind, so müsste sie es auf ganz andere Weise tun. Wir machen der bürgerlichen Moral keine Konzessionen. Die Reinlichkeit, aus der heraus wir die Pornographie ablehnen, ist die Reinlichkeit des sexuell gesunden Menschen, dem aus der vollen Bejahung der sexuellen Lust alles "Schweinigeln" und alle Verstecktheit in sexuellen Dingen zuwider ist.

Der internationale Kampf gegen die Pornographie

Nicht nur in Schweden und Norwegen, auch in verschiedenen andern Ländern stösst die Reaktion zum Kampf gegen die Pornographie vor. Überall ist die Vorgangsweise ähnlich: Man gibt vor, nur gegen gewisse Magazine etc. vorgehen zu wollen, die nichts anderes als eine kapitalistische Spekulation auf die durch die Sexualunterdrückung in unserer Gesellschaft krankhaft gesteigerte Lüsternheit darstellen. Auch wir als Sozialisten müssen uns gegen diese Art Literatu r wenden, u.a. deshalb, weil sie viele Menschen gegen eine Sexualaufklärung in gesundem und revolutionärem Sinn voreingenommen macht.

Doch die politische Reaktion verfolgt mit ihrer Propaganda gerade den Zweck, den Kampf gegen die Pornographie nur zum Anlass zu nehmen, um zusammen mit den pikanten Magazinen die viel gefährlichere gesunde Sexualbejahung in Kunst und Literatur auszurotten. Der deutsche Nationalsozialismus begann mit einer Propaganda gegen die "entsittlichenden Einflüsse der Asphaltliteratur". Von da ging er über zum Verbot der proletarischen Nacktkulturbewegung, die einen Ansatz zu einer gesunden Überwindung der bürgerlichen Sexualscheu darstellte. Er verbrannte die Bücher von Freud, während Streichers Pornographie blüht und gedeiht.

England ist das klassische Land des sexuellen Muckertums. Von der Verurteilung Oscar Wildes lässt sich eine Linie verfolgen zum Verbot von «Lady Chatterley's lover» von Lawrence, einem Buch, das mit einer in der englischen Literatur noch nicht dagewesenen Offenheit über sexuelle Dinge spricht. In jüngster Zeit folgte das Verbot von «The sexual Impulse» (vgl. Besprechung i.d.H.). Charakteristisch für die englische Mentalität ist die Aktion der Organisation der englischen Schauspieler «British Equity» gegen die unanständigen Witze in den

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Westend-Varietés; sie wäre wohl in keiner andern Weltstadt denkbar. Ohne diese Varietés, die rein bourgeoise Vergnügungsstätten sind, und ihre Schlüpfrigkeit etwa in Schutz nehmen zu wollen, müssen wir auch gegen solche Aktionen Stellung nehmen, da sie eine allgemeine Atmosphäre des Muckertums schaffen, unter der dann auch saubere sexualpolitische Arbeit und sexualbejahende Literatur zu leiden haben. -- Die Arbeit gegen die "Pornographie" ist in England zentralisiert Im "Public Morality Council". Dieses hat im Jahre 1934 680 Films begutachtet und einen Teil verworfen. Es unternimmt Schritte beim Filmzensor und beim Innenministerium zur Verschärfung der Film- und Theaterzensur, veranstaltet populäre Vorträge im Hydepark, schreitet nun zum Ausbau von Ortsgruppen im ganzen Land. Für 1936 will es 3000 £ (= ca. 70.000 Kr.) aufwenden. Der Bischof von London hat massgebenden Einfluss darin.

Auch in Belgien sind es vor allem kirchliche Kreise, die eine Verschärfung der Zensurvorschriften verlangen. Anfang Dezember brachten 6 katholische Ahgeordnete eine Interpellation im Parlament darüber ein. Bisher kennen die belgischen Gesetze nur ein Transportverbot für pornographische Schriften, die aus dem Ausland eingeführt werden. Von diesem Verbot wurden allerdings nicht nur die berühmten Magazine, sondern auch das «Journal de Moscou» betroffen: Sexuelle und politische Reaktion marschieren auch hier Hand in Hand ! Liberale und sozialistische Abgeordnete wandten sich in der Diskussion scharf gegen die unklare Fassung des katholischen Antrags, der eine Ausdehnung des Verbots über den Rahmen der im engern Sinne pornographischen Schriften erlaubt. Sie machen darauf aufmerksam, dass man aus moralischen Gründen auch «Madame Bovary» von Flaubert verbot und nächstens auch den Fabeln von La Fontaine die Einfuhr verweigern könnte, "wenn ihr (d.h. die Katholiken) darüber zu bestimmen habt, was moralisch ist".

Ähnlich wie in Belgien verfahren die Katholiken auch in der Schweiz. Die «Neue Schweiz» (25. Oktober 1935) bringt einen Artikel über «Die Gefahren des Buches». Auch hier geht man von den Magazinen aus, gelangt aber rasch zur Erotik im allgemeinen und von da mit einem Salto mortale zur politischen Literatur. Aber "nicht die politische Literatur sachlicher Art ist gemeint, sondern die auf Umwegen (als Roman oder Tatsachenbericht) politische Propaganda treibt". Hier wie überall erkennt die Reaktion richtig die Zusammengehörigkeit von politischer und sexueller Befreiung; auch dass ihr Romane und Tatsachenberichte wirkungsvoller erscheinen, als politische Leitartikel, müssen sich die Sozialisten merken.

Auch in Spanien hat eine katholische Kampagne gegen die Kioske in Barcelona begonnen, die bisher allerdings sich auf die pornographischen Magazine im engern Sinne beschränkt hat. Doch auch hier knüpft «EI Mati» an die Aufforderung an die Behörden, gegen die "Pest" einzuschreiten, Betrachtungen wie diese: "Wie soll eine Behörde ihre Massnahmen zur Gesundung der Moral durchführen können, wenn sie nicht allgemein von den Bewohnern unterstützt wird, weil die erforderliche Einigkeit der Kritik fehlt. Und wo soll die herkommen in einer Epoche, die die Unabhängigkeit in Kunst und Moral predigt, in der Ehe und Verhältnis gleichgestellt werden, in der in keinem Kinoprogramm die Serie schamloser Bilder fehlt"; m.a.W. Benützung des Anlasses der Pornographiebekämpfung zu allgemeiner reaktionärer Kulturpropaganda.

Auf der ganzen Welt sehen wir bei dieser Propaganda Kirche und Reaktion miteinander im Bunde. Unsere Aufgabe ist es natürlich nicht, uns ihr gegenüber etwa schützend vor die kapitalistischen Ausbeuter der Sexualunterdrückung zu stellen. Darum hört man Sozialisten auch oft sagen: "Selbstverständlich sind auch wir gegen die Pornographie. Aber wir müssen die künstlerisch wertvolle Literatur vor den Angriffen der Reaktion schützen." -- Doch dieser Standpunkt ist unklar, er deckt sich im wesentlichen mit dem des liberalen Bürgertums. Ein konsequent sozialistischer Standpunkt muss von folgender Überlegung ausgehen: Die Fabrikation von Pornographie ist kapitalistische Ausbeutung der Sexualnot und eindeutig reaktionär. Was aber kommt in den Massen dieser Ausbeutung entgegen ? Nicht nur durch Sexualunterdrückung erzeugte kranke Lüsternheit, sondern auch der Protest gegen die bürgerliche Moral, die die zärtliche Seite der sexuellen Beziehung idealisiert (Magazinromane !), die sinnliche verhüllt. Das Bedürfnis, auch von dieser sinnlichen, körperlichen Seite zu lesen, kann durch die Pornographie ins Reaktionäre umgebogen werden, es kann aber auch durch richtige, sexual-politische Arbeit zum bewussten, revolutionären Protest

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gegen die bestehende Gesellschaftsordnung weiter entwickelt werden. Der Junge, der sich ein pikantes Magazin kauft, greift aus dem gleichen Impuls vielleicht ein anderes Mal zu einer populären sexuaIpolitischen Broschüre.

Gegenüber dem reaktionären Kampf gegen die Pornographie genügt also nicht die Parole: "Schutz der guten Literatur", sondern sie sollte eher lauten: "Wir verdrängen die schmutzige Pornographie durch offene, saubere, sexualbejahende Stellungnahme in unserer eigenen Literatur, Kunst und populärwissenschaftlichen Propaganda."


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2(8-9), S. 70

Kleine Sexpol-Nachrichten:
Ein peinlicher Psychotherapeut [Wilhelm Stekel]

Warum lesen die Leute so gern Kriminalberichte, besonders solche mit sexuellem Einschlag: Eifersuchtsattentate, Lustmorde, "Verhaftung eines Zuhälters", "Skandalaffäre einer amerikanischen Millionärsgattin mit einem Wiener Gigolo" etc. ?

Möchten Sie etwa wirklich selbst der Gatte gewesen sein, der die Frau beim letzten, vergeblichen Versuch, sie zur Heimkehr zu bewegen, niederknallt ? Oder die Frau, die schluchzend in die Arme des Verteidigers sinkt, als sie nach den Liebesabenteuern des Gatten gefragt wird, den sie zu vergiften versuchte ? -- Gewiss nicht. Was wirkt also an solchen Berichten anziehend ?

Das Leben der meisten Menschen ist öde. 8-10 Stunden freudlose Arbeit: Das ist die Einbusse an Lebensfreude, die ihnen die ökonomische Unterdrückung abpresst. Traurige Familienverhältnisse und sexuelle Schwierigkeiten: Das ist die Einbusse, die auf Rechnung der sexuellen Unterdrückung fällt. Das Ergebnis ist oft Abstumpfung, ist Unfähigkeit, Liebe, Hass, Begeisterung wirklich voll zu spüren: Oberflächlichkeit.

In den Berichten wird von leidenschaftlichen Menschen erzählt. Der Leser lebt ihr an starken Affekten reiches Leben mit: "Ach und diese Frau", ruft eraus, "wie sie in die Arme des Verteidigers sinkt !" und schaut sich das dazugehörige Bild an.

Man bejaht die Leidenschaft, zu der man sich selbst unfähig fühlt, nicht das Leid (was ein Teil des Geheimnisses der Wirkung von Trauerspielen sein dürfte). Man lässt sich in der Phantasie aus dem Alltag herausheben, ohne die Angst und Gefahr zu erleben, die in Wirklichkeit damit verbunden ist. So wird dgl. Lesestoff zum Opium, das die Menschen durch phantasierte Leidenschaft verhindert, die Quelle der wirklichen Öde aufzusuchen.

Wilhelm Stekel hat einen Namen als wissenschaftlicher Psychotherapeut. Nun ist er auf das Niveau der Massagesalons gesunken; er gründete in Wien eine, "Klinik für Eifersüchtige". Ein solches Unternehmen erfordert Reklame. Stekel lässt sich darum nicht nur in einem Käseblatt über seine Absichten interviewen, sondern schreibt auch in dem berüchtigten. «Wiener Journal» (29. Sept. 1935) einen Artikel mit dem anziehenden Titel

Eifersucht, Leidenschaft oder Krankheit ?

Als Ursachen der Eifersucht nennt er -- was an sich nicht unrichtig ist -- Mangel an Selbstvertrauen und versteckte homoesexuelle Regungen: Z.B. projiziert eine Frau ihre Neigung zu andern Frauen in den Gatten hinein. Aber von den sozialen Ursachen, die die weite Verbreitung dieser Störungen bedingen, lesen wir natürlich kein Wort. Und die Beispiele, die Stekel dann aus seiner Praxis erzählt, dienen nicht der Aufklärung. Indem sie groteske Fälle auf amüsante Weise erzählen (z.B. Eifersucht zwischen 70-jährigen etc.), reihen sie sich der oben charakterisierten Art von Literatur ein, die kitzelt, amüsiert -- und gerade dadurch die soziale Bedingtheit seelischer Leiden verhüllt.

Doch für einen Psychotherapeuten sind diese Leiden kein Thema zu publizistischen Boudoirplaudereien, solange er sich und seine Aufgabe ernst nimmt. Er am allerwenigsten darf seine ärztliche Erfahrung zu Sensationsartikelschreiberei missbrauchen.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2(8-9), S. 79

Besprechung:
Edward Charles: The Sexual Impulse. London: Boriswood 1935

Das Buch ist in England beschlagnahmt und verboten worden. Weshalb ? Wahrscheinlich wie Lawrence's Buch: «Lady Chatterley's Lover», das hier im Heft 1/1935 besprochen wurde, wegen der unbedingt sexualbejahenden Tendenz. Die Sexualität wird als das Primäre hervorgehoben und von der Fortpflanzung scharf getrennt, ab und zu -- wie es den Engländern liegt -- fast paradoxal, indem der Gegensatz zwischen Sexualität und Fortpflanzung besonders hervorgehoben wird.

Die grosse Bedeutung des Orgasmus wird betont. Polemisierend gegen Havelock Ellis stellt Charles die gesundheitlichen Forderungen vor die ethischen Rücksichten -- also auch in der Beziehung revolutionär, sexualbejahend.

Sonst scheint er in der sozialen Frage sehr unklar zu sein, sieht überhaupt nicht die sozialen Wurzeln des Sexuallebens, das er an und für sich kennt.

Aber nicht nur die sozialen Kenntnisse des Verfassers, sondern überhaupt die wissenschaftlichen Voraussetzungen sind leider sehr lückenhaft. Er verwechselt Verdrängungen mit Instinkten, spricht von "inhibitory instincts" (hemmende Instinkte), als ob sie etwas Naturgegebenes wären. Er verkennt offenbar die kindliche Sexualität und ihre Unterdrückung.

Seine Kentnisse der empfängnisverhütenden Technik sind auch nicht genügend, um seine Stellungsnahme für die chemischen Mittel zu begründen. Er empfiehlt eine Art coitus interruptus mit Einführung des chemischen Mittels im letzten Augenblick vor dem orgastischen Abschluss. So was könnte ein erfahrener Sexualberater kaum empfehlen.

Charles versucht neue Definition von Worten wie Masturbation und Keuschheit einzuführen. Es ist m.E. ziemlich unpraktisch, sich zu weit vom gewöhnlichen Sprachgebrauch zu entfernen. Er hat auch eine Neigung, eigene "moralische" Regeln zu schaffen, z.B. betreffs der Masturbation und des Küssens. Zwar stimmen seine Regeln ganz gut mit dem Benehmen, das man von selbststeuernden Menschen in einem sexualökonomisch geregelten Milieu erwarten kann -- aber die Regeln werden als eine Art autoritative ÈMoralÇ dahingestellt.

Überhaupt macht das Buch den Eindruck nicht eines wissenschaftlichen Wegleiters, sondern einer causerie spirituelle.

Eine Causerie kann auch wertvoll sein und die vorliegende Causerie ist sehr wertvoll, hauptsächlich wegen der sexualbejahenden Tendenz. Charles' Einstellung ist, von unserem Standpunkt gesehen, die richtige. Ihm fehlt nur das sexualökonomische Wissen.

Leu.


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