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La Mettrie, Lamettrie -- Philosophie und Politik Bernd A. Laska

Einleitung
zu La Mettrie / Lamettrie
»Philosophie und Politik«

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In der Einleitung zum ersten Band dieser Reihe gebe ich einen Abriss von Leben, Werk und Wirkung des Arztes und Philosophen La Mettrie (1709 - 1751); zeige ich kurz, dass er nach Erscheinen seiner ersten grösseren Schriften (»Histoire naturelle de l'âme« (1745), »La Volupté« (1745), »Politique du médecin de Machiavel« (1746)) im April 1747 aus Frankreich in das liberale Holland floh; dass er, nachdem er dort Ende 1747 die Schrift »L'homme machine« veröffentlicht hatte, im Februar 1748 wiederum fliehen musste und zunächst dankbar das Asyl in Anspruch nahm, das Friedrich II ihm anbot; dass er am Hofe Friedrichs dann jedoch einer zwar weniger barbarischen, aber im Grunde perfideren Zensur unterworfen war als zuvor; dass er dort schliesslich im Alter von 42 Jahren, trotz guter Gesundheit, eines merkwürdigen Todes starb, der als tragikomischer "gastronomischer Unfall" in die Geschichte einging; dass die unmittelbare Nachwelt, zuvorderst die aufklärerische, ihn zur regelrechten Unperson machte; dass er deshalb gegen Ende

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des Jahrhunderts de facto  vergessen war; dass spätere "Rehabilitationen", die ungefähr ein Jahrhundert nach seinem Tode einsetzten, für eine Reihe von Erkenntnissen ihm zwar die zeitliche Priorität zuerkannten, für seine "Lehre vom Schuldgefühl" jedoch, die er selbst als seinen originellsten und wichtigsten Beitrag zur Philosophie ansah, wie einst die Zeitgenossen (um das mindeste zu sagen:) kein Verständnis zeigten.

In der Einleitung zum zweiten Band dieser Reihe, der die Schrift mit jener "Lehre" (»Anti-Sénèque«) -- sein Hauptwerk -- enthält, betrachte ich die Umstände ihrer Entstehung und Publikation genauer; zeige ich, dass La Mettrie, der offiziell den Status eines Leibarztes und Vorlesers des Königs sowie eines Mitglieds der Königlichen Akademie der Wissenschaften hatte, diese Schrift heimlich und in grosser Eile schreiben musste, als sein "Freund" Maupertuis, Präsident der Akademie und inoffizieller "Aufpasser" für La Mettrie, im Oktober 1748 für ungewisse Zeit nach Frankreich reiste; dass er sie als Einleitung zu einer Übersetzung von Senecas »De beata vita« tarnen und zudem zu einer gewagten List greifen musste, um sie drucken lassen zu kön-

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nen; dass er damit zwar vollendete Tatsachen, aber auch eine äusserst prekäre Situation geschaffen hatte (Friedrich hatte ihm zwar Publikationsfreiheit zugesichert, glaubte aber, genügend Sicherheiten zu haben, dass La Mettrie diese nicht "missbrauchen" würde); dass La Mettrie, ohne Aussicht auf ein anderes Asyl, diese Situation für sich zu entschärfen hoffte, indem er von der Rolle des Spassmachers, die er schon zuvor spielte, in die des (Hof-)Narren changierte; dass seine Seneca-Übersetzung, ihrer Einleitung wegen freilich, die einzige philosophische unter den "scandaleusen Schriften" des damaligen Preussen war, wie aus den Geheimdossiers über "konfiskierte Bücher" hervorgeht; dass wahrscheinlich sie der Anlass war für Friedrichs »Edict wegen der wieder hergestellten Censur« vom 11. Mai 1749.

Dies war die Situation um die Mitte des Jahres 1749, aus der heraus die in diesem dritten Band der Reihe enthaltenen Schriften entstanden. Der heimliche Skandal um den »Anti-Sénèque« hatte also nicht -- zumindest nicht unmittelbar -- zur Folge, dass La Mettrie verstummte. Ende 1749 erschien von ihm, vordatiert auf 1750, die kleine Schrift »Réfle-

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xions philosophiques sur l'origine des animaux«. La Mettrie scheint sie wiederum ohne Placet in Druck gegeben zu haben, denn Maupertuis, der sie auf Befehl Friedrichs las, schrieb diesem in einem Brief vom 26. Januar 1750, dass er (als führender Naturwissenschaftler) ganz andere Auffassungen (über den Ursprung der Tiere) habe als La Mettrie und im übrigen den Eindruck Friedrichs bestätigen könne, wonach der Paragraph 32 der Schrift "von unerträglicher Intensität" sei. Da diese Schrift heute äusserst selten ist, scheint auch sie sogleich verboten worden zu sein.

Um den renitenten "Schützling" -- unter Wahrung des freigeistigen Gesichts -- endgültig zu disziplinieren, veranlasste man ihn daraufhin, sein philosophisches Testament zu machen. Der erst seit fünf Jahren schreibende und gerade vierzig Jahre alte La Mettrie bereitete also die Ausgabe seiner »Œuvres philosophiques« vor, für die ein einziger Band ausreichte. Die aufzunehmenden Schriften waren »L'homme machine«, »Histoire naturelle de l'âme«, »L'homme plante«, »Les animaux plus que machines« und die erwähnten »Réflexions...« (freilich

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ohne den inkriminierten Paragraphen 32). Nicht aufgenommen werden durften die Schrift »La Volupté«, die La Mettrie immerhin für so wichtig hielt, dass er sie als bis dahin einzige auch in deutscher Übersetzung herausgebracht hatte (1747), und natürlich der »Anti-Sénèque«, den er gar als sein philosophisches Hauptwerk betrachtete.

Die derart entschärften »Œuvres« erschienen Mitte 1750, vordatiert auf 1751. La Mettrie hatte jedoch zwei Ergänzungen vorgenommen: zum einen hatte er eine "Einleitung" geschrieben (den hier unter dem Titel »Philosophie und Politik« übersetzten »Discours préliminaire«), die in Wirklichkeit eine selbständige Abhandlung ist; zum anderen hatte er die »Réflexions...«, den letzten Beitrag, zwar um jenen "unerträglichen" Paragraphen gekürzt, zugleich aber als »Système d'Épicure« von 41 auf 93 Paragraphen erweitert (vgl. den Anhang dieses Bandes). Wahrscheinlich hat er die Ordre, die er für seine »Œuvres« erhalten hat, wiederum -- wie zuvor, beim »Anti-Sénèque«, die Zusage des Königs, er könne schreiben, was er wolle -- wortwörtlich erfüllt. Das Resultat ist im Katalog von Étienne de Bourdeaux (Libraire du

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Roy et de la Cour) für das erste Halbjahr 1752 nachzulesen: "Einige Tage nach Erscheinen des Buches gab Seine Majestät den persönlichen Befehl, die Auslieferung einzustellen." -- Friedrich umschrieb die hier skizzierten Vorgänge in der »Eloge«, die er dem bald darauf verstorbenen Akademiemitglied widmete, mit den folgenden Worten: "Er entwarf verschiedene Werke über abstrakte philosophische Themen, die er noch näher überprüfen wollte; doch eine Reihe unglücklicher Umstände bewirkten, dass ihm diese Schriften gestohlen wurden, und als sie dann im Druck erschienen, verlangte er sofort ihre Unterdrückung." Es bleibt anzumerken, dass diese »Eloge« wegen einiger als "lobend" aufgefasster Worte Friedrichs über den Charakter des Verstorbenen zunächst den Unwillen vieler Mitglieder der Akademie und der Hofgesellschaft, später ungläubiges Kopfschütteln der (Philosophie-)Historiker hervorrief.

Da Publikations- und Zensurprobleme in jener Zeit gang und gäbe waren, hat man später die Besonderheit des "Falles La Mettrie" meist wenig beachtet. Als Friedrich A. Lange 1866 (in »Die Geschichte des Materialismus«)

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den vergessenen Philosophen wiederentdeckte und mit der "sonst üblichen Gerechtigkeit" behandeln wollte, schien es ihm überflüssig, zu untersuchen, warum La Mettrie auch von dem freisinnigen Friedrich zensiert und dann sogar vornehmlich von den Aufklärern zur Unperson gemacht worden war. Zu selbstverständlich war für Lange der "Ingrimm der Zeitgenossen gegen diesen Mann", der, obwohl "eine edlere Natur als Voltaire und Rousseau", in "besonders widerwärtigen" Schriften aus Übermut eine "Verherrlichung der Wollust" betrieben habe. La Mettries Interpreten der letzten zwanzig Jahre haben diese Sicht freilich nicht mehr teilen können. Empathielos oder euphemistisch sehen sie in der Haltung der Aufklärer vorwiegend wohlkalkulierte politische Klugheit.

Es ist dies nicht der Ort, die -- echte oder gewollte -- Empathielosigkeit, die vermeintliche Objektivität der neueren Interpreten La Mettries zu untersuchen, die stets so oder so zu dessen unproblematischer Einordnung in die etablierte Hierarchie der Philosophen führte. In Hinblick auf den hier einzuleitenden Text ist es aber angebracht, auf die an

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sich erstaunliche Tatsache hinzuweisen, dass diese meist philologisch geschulten Gelehrten ein Charakteristikum aller Texte La Mettries weitgehend unbeachtet lassen: die Ironie.

Dabei schreibt La Mettrie selbst in seiner letzten Schrift (»Le petit homme à longue queue«, Okt. 1751), die streckenweise wie ein Nachruf auf sich selbst anmutet, dass er sich genötigt sah, in all seinen Schriften die Vernunft mit Spassmacherei zu mischen und hinter der Maske der Ironie zu verbergen; dass er aber hoffe, der verständige Leser werde dies zu deuten wissen.

Bisher hat jedoch nur ein Autor eine von La Mettries nicht offenkundig satirischen Schriften als eine solche gewürdigt: Lionel Philip Honoré S.J. in seiner Dissertation »L'histoire naturelle de l'âme: The philosophical satire of La Mettrie« (New York University 1973). Die Untersuchung des Jesuiten über diese zuvor stets als "seriös" (und relativ bedeutungslos) genommene Schrift aus dem Jahre 1745, die grossteils gegen theologische und andere metaphysische Systeme gerichtet ist, wirft einiges Licht auf La Mettries ironische Techniken und ist somit hilfreich für ein tieferes

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Verständnis auch anderer Werke La Mettries.

Für La Mettries spätere Schriften, deren Adressaten nicht mehr Theologen, Metaphysiker, Scholastiker, sondern Aufklärer aller Richtungen waren, hat bisher niemand eine solche Untersuchung durchgeführt. Im Gegenteil: Ann Thomson etwa, die Herausgeberin der kritischen Edition des »Discours préliminaire«, scheint die Ironie, die ihn durchzieht, kaum wahrgenommen zu haben. Sie ist zwar eine ausgewiesene Kennerin La Mettries und insbesondere natürlich dieses Textes, den sie sehr kenntnisreich kommentiert und sogar als "Höhepunkt" und "Synthese" von La Mettries "Materialismus" wertet; aber in ihrem wohlwollenden Bemühen, den vielgeschmähten Autor als "humanistischen" Denker akzeptabel zu machen, lässt sie dessen deutlichen Hinweis und Honorés Vorarbeit weitgehend ausser Betracht. Andere Kenner La Mettries klassifizierten ihn als "extremen Individualisten" oder als "relativistischen Nihilisten", weil sie ebenfalls die Ironie in den rein philosophischen Schriften als solche oftmals nicht erkannten.

Die "Vernunft", die La Mettrie "hinter der Maske der Ironie" verbergen musste, kann hier nicht vorgeführt werden. Wichtig erscheint mir jedoch -- angesichts der bisherigen Rezeption La Mettries -- der eindringliche Hinweis auf die Existenz jener Maske auch bei der folgenden Schrift.

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