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Dieser Artikel erscheint gleichzeitig in gedruckter Form in:
Der Einzige. Zeitschrift des Max-Stirner-Archivs, Nr. 7, August 1999, S. 3-9


 

Bild John Henry Mackay

Bernd A. Laska

John Henry Mackays Stirner-Archiv in Moskau

 


John Henry Mackay (1864-1933), der deutsche Dichter mit dem urschottischen Namen, zählte in den späten 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zusammen mit seinem Freund Hermann Conradi zu den radikalsten unter den jungen, rebellischen Schriftstellern, die sich Realisten oder Naturalisten nannten. Diese waren die ersten, die nach der langen Periode der Restauration nach 1848 wieder an die jungdeutschen und linkshegelianischen Dichter und Denker der vormärzlichen Zeit anknüpften. Max Stirner (1806-1856) allerdings, dessen 1845(1844) erschienenes Buch »Der Einzige und sein Eigentum« 1882 neu aufgelegt wurde, scheint auch diesen Radikalen zu "radikal" gewesen zu sein, denn keiner von ihnen nahm direkt auf ihn Bezug. Auch John Henry Mackay, der spätere Biograph Stirners, zeigt in seinem Gedichtband »Sturm« (1888), der ihn schlagartig als "Sänger der Anarchie" berühmt machte, noch keine deutlichen Spuren eines Einflusses von Stirner. Erst kurz danach, nach seinem Bruch mit jenen Dichterfreunden, wagte Mackay sein öffentliches Auftreten als Stirnerianer. Noch im Jahre 1888 beschloss er, Stirners Biograph zu werden, und als sein »Sturm« bereits 1890 in die 2. Auflage ging, stellte er an dessen Anfang ein neues, geradezu hymnisches Gedicht -- »An Max Stirner«.

Mackay war nun gewiss nicht der einzige "Wiederentdecker Stirners", als der er sich später bezeichnete, (1) aber er war der erste "bekennende Stirnerianer", und das zeugt, angesichts der Haltung auch seiner radikalen Zeitgenossen -- die Stirner heimlich lasen, aber in der Öffentlichkeit zu ihm schwiegen -- von einigem Mut. Da über die Person Stirners zu jener Zeit, gut dreissig Jahre nach seinem Tod, wenig mehr als Geburts- und Todestag bekannt waren, beschloss Mackay, Stirners Biographie (2) zu eruieren, und liess, zunächst im August 1888 in einer, dann im Frühjahr 1889 in acht weiteren Zeitschriften folgenden "Aufruf" abdrucken:

"Im Jahre 1845 erschien 'Der Einzige und sein Eigentum' von Max Stirner (Kaspar Schmidt, 1806-1856). Noch leben viele, die sich erinnern, welches Aufsehen dieses Werk in jener Zeit machte, und gewiss manche, welche mit seinem Verfasser in entferntere oder nähere Beziehungen gekommen sind. - Alle diese bitte ich, mir aus ihren Erinnerungen mitzuteilen, was sie über Max Stirner wissen. Ich werde mich auch für die kleinste Mitteilung zu Dank verpflichtet fühlen. - John Henry Mackay, Zürich-Hottingen, Hottingerstr. 5"

Mackay kam auf diese Weise in Kontakt mit einigen Personen, die ihrerseits bereits Materialien zu Stirner gesammelt hatten oder ihm Hilfestellung für dieses Projekt anboten. Im Vorwort zur 1. Auflage seiner Stirner-Biographie nennt Mackay sie in einer Dankesliste. Max Hildebrandt, ein Berliner Lehrer, hatte bereits 1882 bei Edgar Bauer, einem Vormärzveteranen, wegen Stirner angefragt und 1889 von dem in London lebenden Friedrich Engels, der Stirner persönlich gekannt hat, einen Bericht mit Porträtskizze Stirners eingeholt; und er recherchierte für Mackay, der damals in der Schweiz lebte, in Berliner Archiven. Ewald Horn, ein weiterer Lehrer, selbst Autor einiger Schriften zum Thema Egoismus, hat Mackay "die durch warme Liebe zur Sache nicht weniger als durch einen selten glücklichen Zufall erzielten Resultate seiner eigenen Forschungen in liberaler Weise zur Verfügung gestellt." Später kam noch Benedict Lachmann hinzu, der in seiner Heimatstadt Kulm/Weichsel, in der Stirners verwitwete Mutter und sein Stiefvater sich bald nach seiner Geburt in Bayreuth niedergelassen hatten, recherchierte und Mackay "sein gesamtes Material zur Verfügung gestellt hat". (Vorw. 2. Auflage) Ein Nachlass Stirners ist trotz grosser Bemühungen nicht aufgefunden worden.

Natürlich meldeten sich auch einige Personen, die die 40er Jahre, das Erscheinen des »Einzigen« und die kurze Diskussion um ihn noch erlebt hatten, und sogar einige, die Stirner persönlich gekannt hatten. Das Material für eine Biographie Stirners, das Mackay auf diese Weise zusammentragen konnte, blieb dennoch enttäuschend dürftig: "Keiner kann mehr bedauern als ich, dass es so wenig ist", schrieb Mackay nach acht Jahren, im Herbst 1897, im Vorwort der 1. Auflage, die 1898, zusammen mit einer Sammlung von Stirners bis dahin aufgefundenen »Kleineren Schriften«, erschien. An dieser desolaten Quellenlage hatte sich auch nichts geändert, nachdem Mackay kurz vor Abschluss des Manuskripts erfuhr, dass Stirners geschiedene Ehefrau, Marie Dähnhardt, noch lebte und voller Hoffnung zu ihr nach London fuhr. Sein Besuch blieb "fast resultatlos".(3) (Das einzige Resultat ist unten wiedergegeben)

Mackay, dem als bekanntem "Anarchisten" zwar manche Archive verschlossen blieben, konnte dank seiner eifrigen Helfer sehr wohl eine Menge behördlicher Detaildaten sammeln. Doch blieben trotz allen Aufwandes grosse Abschnitte von Stirners Leben weitgehend im Dunkeln. Die 160 Seiten der Biographie wären mühelos auf weniger als die Hälfte zu kürzen gewesen, ohne dass dies wesentliche Verluste am vermittelten Bild Stirners zur Folge gehabt hätte. Vielleicht war dies der wichtigste Grund dafür, dass die 1000 Exemplare der 1. Auflage, trotz der sog. Stirner-Renaissance dieser Jahre, (4) erst nach zwölf Jahren verkauft waren.

Der dürftige Ertrag seiner ausgedehnten und mit grossem Aufwand betriebenen Nachforschungen, den Mackay selbst am meisten bedauerte, ist gewiss nicht ihm anzulasten (auch parallele und spätere Forschungen erbrachten nichts nennenswert Neues zu Stirners Leben). Mackays Stirner-Biographie hat jedoch -- ausser ihrer hagiographischen Note -- ein weiteres Manko, das von den Rezensenten und auch von wohlwollenden Lesern sehr beanstandet wurde, so z.B. von Max Nettlau, dem anarchistischen "Polyhistor" und Historiker der anarchistischen Bewegung, der in einem Brief vom 29.3.98 schrieb:

  "Lieber Herr Mackay,
wenn ich Ihnen schon [jetzt] antworte und für Ihr Buch bestens danke, so geschieht es, weil ich dasselbe seit heute früh in einem Zuge gelesen habe. Was für ein schönes und reiches Material haben Sie trotz aller Schwierigkeiten zusammengebracht. Nur lässt mich meine Pedanterie den Wunsch nicht verschweigen, dass Sie z.B. in einem durchschossenenen Exemplar die Quellen(*) für die vielen im [Exemplar] angeführten Zitate oder briefl[ichen] u[nd] mündl[ichen] Mitteilungen angeben und ebenso das viele auf Stirner nicht unmittelbar Bezügliche, das Sie erfahren, in dieser Weise mitteilen sollten. Dies könnte einer späteren Auflage als Anmerkungen und Anhang angefügt werden oder, wenn auch nicht veröffentlicht, bliebe es erhalten und beisammen. Denn es wird wohl niemand mehr diese aussterbenden Kreise der Vierzigerjahre befragen, und doch wird einem, bei der immer trüberen Gegenwart, diese Vergangenheit immer wert und interessant bleiben. [...]"
-----------------
(*) [Beiblatt zum Brief von Nettlau] "Bei dem vollsten Vertrauen in Ihre Genauigkeit und in die Prüfung der Zuverlässigkeit der Quellen müssen doch diese unter sich von verschiedenem Wert sein, und Leser des Buches mögen auf Grund anderer Kenntnisse eine verschiedene Ansicht über den Wert einer Quelle haben; die stehen jetzt hilflos vor einer allgemeinen Nivellierung der Quellen (beinahe autoritärem Kommunismus). Ferner wird der Weiterforschung anderer ein Hindernis in den Weg gelegt; wer sich um neues Material bemühen wollte, muss wahrscheinlich nutzlos Ihren Weg nochmals gehen, während bei Quellenangabe dies erspart bleibt und andererseits Leute in der Lage sein können, dieser oder jener Quelle weiter nachzugehen, als es Ihnen durch irgendeinen Zufall möglich war. [...]" (5)

Diese Kritik an Mackays unüblicher Publikationspraxis haben Nettlau und andere auch in publizierten Rezensionen geäussert. Mackay erwiderte darauf im Vorwort zur 2. Auflage (1910): "Dem Wunsche, einer neuen Auflage die Quellen meiner Arbeit anzufügen, kann ich aus den bereits angeführten Gründen [?] auch diesmal nicht entsprechen. Das gesamte wohlgeordnete Material meiner Stirner-Forschung wird nach meinem Tode an das Britische Museum in London gehen, und zwar dorthin, weil es dann dort Jedem -- ohne die von den grossen staatlichen Bibliotheken des Kontinents beliebte Einmischung in seine Absichten und Zwecke -- zur Verfügung stehen wird, zur Verfügung und zur Nachprüfung meiner Arbeit, die diese nicht zu scheuen hat."

Der erst in seinen Vierzigern stehende Mackay, der mit einigem Unbehagen gesehen hatte, dass etwa Stirners »Einziger« bei Reclam 1892ff mit einer "unmöglichen Vorrede" von dem Nietzscheaner Paul Lauterbach herausgegeben worden war, (6) oder dass etwa Anselm Ruest zum Stirnerjahr 1906 ein erfolgreiches Stirnerbuch unter weitgehender Verwendung der Mackay'schen Daten veröffentlicht hatte, wollte also 1910 seine Quellen bis zu seinem noch fernen Tode hüten.

Es kam jedoch anders. Mackay entschloss sich bereits 1914, als die 2. Auflage seiner Stirner-Biographie erst zu einem kleinen Teil abgesetzt war, eine 3. Auflage als "Privatausgabe" (nicht für den Handel) drucken zu lassen. Damit und mit weiteren verlegerischen Unternehmungen (1906-1909: vier "Bücher der namenlosen Liebe" -1911 eine Luxus-"Monumentalausgabe" von Stirners »Einzigem«) scheint er sich in eine finanzielle Situation gebracht zu haben, die ihn zu neuen Dispositionen zwang. Im Vorwort zu dieser Privatausgabe kündigte Mackay deshalb an, dass die "von mir geäusserte Absicht, das gesamte Material meiner Stirner-Arbeit dem Britischen Museum in London zu hinterlassen, einem anderen Plan gewichen ist, über den die mir als solche bekannten Freunde Stirners demnächst direkt von mir hören werden."

Mackays neuer Plan bestand in der Gründung der "Vereinigung der Stirner-Freunde", die im August 1916 in Berlin vollzogen wurde. Diese Vereinigung hatte laut ihrer "Satzungen" (7) den Zweck, "die Mackay'sche Stirner-Arbeit durch Erwerbung in ihren Besitz zu bringen und so vor der drohenden Vernichtung [?] zu bewahren." Die Mitglieder sollten "Anteil- und Verpflichtungsscheine" kaufen und dafür entsprechende Stückzahlen der diversen Privatausgaben bekommen. Als Ansporn für die Stirner-Freunde legte Punkt 5 fest: "Der Zeichner der meisten Anteilscheine ... erhält statt dieser Privatausgaben den SCHAEDEL STIRNERS, den Herr Mackay ebenfalls zur sofortigen Verfügung gestellt hat." (8) Mackay sollte eine Einmalzahlung von 6000 Mark und anschliessend eine lebenslängliche Rente von 1500 Mark pro Jahr erhalten. Seine Stirner-Materialien indes wollte Mackay nach wie vor unter Verschluss halten; erst nach seinem Tod sollte die Vereinigung in deren Besitz kommen. Dieser "Plan", der Mackays Auskommen auf Dauer sichern sollte, liess sich jedoch nicht stabil realisieren.

Die Inflation Anfang der 20er Jahre schliesslich verschärfte Mackays finanzielle Situation so weit, dass er genötigt war, letzte Geldquellen zu erschliessen, und so kam es, dass er nach langem Zögern und Verhandeln mit verschiedenen Partnern im In- und Ausland schliesslich 1925 sein in Jahrzehnten zusammengetragenes Stirner-Archiv samt seiner Spezial-Bibliothek des individualistischen Anarchismus verkaufen musste, zu seinem Verdruss sogar, wie er anmerkte, an eine Stelle, "wohin es nach meiner Meinung am wenigsten gehörte: an das Marx-Engels-Institut in Moskau (und, was hier nicht verschwiegen zu werden braucht, zu einem ganz unverhältnismässig niedrigen Preise)." (9) Es waren 4000 Dollar.

*

Als ich im September 1989 (dank Vermittlung von Heiner Becker vom Amsterdamer Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis) Gelegenheit hatte, dieses Mackay'sche Stirner-Archiv im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU in Moskau (15, Puschkinskaja Uliza) einzusehen, stellte ich anhand der inliegenden Liste fest, dass es über 60 Jahre hinweg nicht benutzt worden war.(10) Auch dies kann als Beleg dafür gelten, mit welcher schlafwandlerischen Sicherheit die Marxforschung allem aus dem Wege gegangen ist, was die Rolle Stirners bei Marx' ideologischem "Sprung" in den historischen Materialismus hätte berühren können. (11)

Ich habe Mackays Materialien nicht in der Absicht durchgesehen, den fehlenden Anmerkungsapparat zu seiner Stirner-Biographie zu rekonstruieren; ich wollte nur prüfen, ob sich darunter evtl. Dokumente befinden, die Mackay nicht, nicht vollständig oder allzu einseitig ausgewertet hat. Es war erlaubt, Notizen bzw. Abschriften zu machen, die beim Verlassen des Hauses durchgesehen wurden. Fotokopien indes mussten bestellt werden und wurden nach meiner Abreise an das Amsterdamer Institut ausgeliefert, von wo ich sie schliesslich zugestellt erhielt.

Eine Aufstellung über den Inhalt des Archivs, die Mackays Unterhändler in den Verhandlungen mit dem Moskauer Institut, Leo Kasarnowski, am 15. Januar 1925 aufstellte, (12) führt 15 Faszikel auf, die ca. 1200 Dokumente enthalten, die Hildebrandt, Horn, Lachmann und Mackay selbst zusammengetragen hatten. Weiterhin sind etwa 750 Briefe von 187 Absendern erhalten, die in 4 Ordnern aufbewahrt werden. Die von Mackay in Ausschnitten, Kopien oder Abschriften gesammelte "Literatur über Stirner und seine Zeit" umfasst 1600 Nummern in 8 Briefordnern. Hinzu kam Mackays Spezialbibliothek zur einschlägigen Philosophie und Literatur vorwiegend des 19. Jahrhunderts, die aus 772 Einheiten bestand.

Dieses detaillierte Inventarium erlaubte eine gute Vorbereitung, so dass ich glaube, an den fünf Tagen, an denen ich in Moskauer Institut arbeiten konnte, alle relevanten Materialien gesichtet, z.T. exzerpiert und als Kopie bestellt zu haben. Ich habe dabei keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Mackay sein Material nicht korrekt ausgewertet hat. Die in der Stirner-Biographie offenbare geringe Substanz dieser Materialien, das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag der Nachforschungen, die er und seine Helfer über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg betrieben hatten, bedauerte Mackay selbst ja am meisten. Doch haben spätere biographische Forschungen, wie die von Rolf Engert in den 20er Jahren, ihnen kaum etwas Wesentliches hinzugefügt. (13)

Wenngleich aus dem von mir exzerpierten Material die eine oder andere Notiz als Hintergrundinformation zur Entstehung von Mackays Stirner-Biographie interessant sein mag, so wäre es kaum lohnend, einzelne hier zitierend hervorzuheben. Einzig der Fragebogen, den Mackay Anfang 1898 bei Stirners ehemaligem "Liebchen Marie Dähnhardt" (so die Widmung des »Einzigen«), die nun als hochbetagte, frömmelnde Frau in London lebte, zur Beantwortung hinterliess, soll hier, samt Antworten, transskribiert werden. (14) Die Antworten wurden auf Englisch offenbar einer dritten Person diktiert und sind hier ins Deutsche übersetzt.

Zur gütigen Beantwortung

1. - Sie kamen im Jahre 1843 zuerst nach Berlin, nicht wahr? - Im Alter von 20 Jahren?
A.: weiss das Alter nicht. Sie ist schon vorher in Berlin gewesen.

2. - Lernten Sie Stirner im Kreise der "Freien" bei Hippel kennen oder wurden Sie erst später durch ihn dort eingeführt?
A.: Sie hat Stirners Bekanntschaft im Kreise von Freunden im Hause von Dr. Zabel gemacht. Was aus jenen ehrenwerten Leuten [offenbar die "Freien"] geworden ist, weiss sie nicht.

3.- Die Heirat fand am 21. Oktober 1843 in der Wohnung Stirners, Neu Cölln, am Wasser 23, statt, nicht wahr? - Wer war an Trauzeugen und Gästen noch anwesend ausser Bruno und Edgar Bauer, Ludwig Buhl und Wilhelm Jordan?
A.: weiss nicht, wann die Hochzeit stattfand. Eine junge englische Dame und Assessor Kochius waren noch da.

4. - Wollen Sie die Geschichte mit dem Wechseln der Ringe feststellen?
A.: weiss überhaupt nichts von einer "Geschichte mit Ringen"

5.- Ihr Vermögen soll nach den Angaben der einen 10'000, nach anderen Angaben 30'000 Taler betragen haben. Ich stelle diese Frage einzig und allein, weil diese Mitteilungen öffentlich gewesen sind.
A.: [nicht beantwortet]

6.- War Ihre Ehe keine glückliche? - Nach aussen hin machte sie auf alle einen solchen Eindruck, und wiederholt wurde betont, dass Sie sich so geliebt haben sollen, dass es nie zu einem bösen Wort gekommen sein soll.
A.: [nicht beantwortet]

7. - Wie verschwendete Stirner Ihr Vermögen, da Sie beide doch sehr einfach gelebt haben sollen? - Wurde sein Buch auf seine Kosten gedruckt? - War die Schuld Bruno Bauers an Sie nicht eine hohe?
A.: Herr B. Bauer hat seine Schulden bezahlt. Sie wird noch immer sehr ärgerlich, wenn sie daran denkt, wie ein gebildeter Mann das volle Vertrauen, das eine schwache Frau in ihn hatte, so zu seinem Vorteil ausnutzen konnte. Deshalb zog sie sich damals zurück und konnte ihn nicht mehr respektieren. Sie weiss nur, dass er Schulden hatte, die er wahrscheinlich trotz allem nie beglichen hat. Kurz bevor sie nach England ging, hat sie ihm noch die Fingerringe abgenommen.

8. - Wann verliessen Sie Berlin?
A.: vergessen

9. - Die Trennung erfolgte auf Ihren Vorschlag. War es nicht ein gütliches Auseinandergehen mit der Absicht der Wiedervereinigung unter besseren Umständen?
A.: Nicht von ihrer Seite aus, denn sie sei ein moralischer Mensch, verdiene ihr Brot selbst und sei nicht so raffiniert wie Stirner, der von Schulden lebte und zu faul war, für sie zu arbeiten.

10. - Wie lange korrespondierten Sie noch miteinander? - Sind die Briefe noch erhalten?
A.: hat's vergessen

11.- Wann erfolgte die Scheidung? - Wurde sie in Berlin vollzogen?
A.: vergessen

12. - Stirner war noch an der Gropius'schen Töchterschule, als er Sie heiratete. Trat er aus infolge seines Buches? - War er je Gymnasiallehrer?
A.: Sie hat ihn gebeten, dort zu bleiben, weil dies eine kleine Hilfe war, aber er war zu stolz und zu faul dazu.

13. - Welche seiner Verwandten standen ihm am nächsten? - Seine Mutter überlebte ihn? - War sie in Berlin? - Was für eine Frau war sie? - War sie wirklich geisteskrank?
A.: Sie [M.D.] kannte niemanden aus seiner Verwandtschaft. Sie glaubt nicht, dass seine Mutter, die er als "geisteskrank" bezeichnete, in Berlin lebte.

14. - Erschien je ein Bild Stirners in einer Zeitung, dessen Sie sich erinnern? - Ist die beiliegende Skizze [vermutlich die von Engels] einigermassen ähnlich? - Existiert ein Bild noch? - Sind Sie im Besitze eines solchen?
A.: [...unleserlich...] Die Skizze hat keine Ähnlichkeit mit ihm.

15. - Wer war Stirners bester Freund? - Bruno Bauer? - Edgar Bauer? - Ludwig Buhl? - E. Meyen? - Albert Fränkel? - Eduard Sass? - Hatte er überhaupt intime Freunde? - Es wird bezweifelt.
A.: war zu egozentrisch, um wahre Freunde zu haben.

16.- Kannten Sie Arthur Müller? - Er muss zu Stirners letzten Bekanntschaften noch gehört haben. Lebt er noch?
A.: kennt ihn nicht

17. - In wessen Hände mögen seine Papiere gekommen sein?
A.: sie weiss es nicht

18.- An wen könnte ich mich wenden, um noch Aufschlüsse für meine Arbeit zu erhalten?
A.: Wenn Dr. Zabel noch leben sollte, könnte er etwas wissen.

19. - Ist folgende Personalbeschreibung Stirners richtig? - Mittelgross - blond - "wie ein höherer Lehrer" - silberne Brille - sanfter Blick aus blauen Augen - stets saubere, einfache Kleidung - unauffällig in jeder Beziehung.
A.: Er sah aus wie ein "Dandy", wie jemand, der durch ein gefälliges Äusseres sein Inneres verbergen möchte.

20. - Ist folgende Beschreibung seines Charakters richtig? Zurückhaltend in jeder Beziehung - leidenschaftslos in jeder Beziehung - kein Trinker - kein Raucher [M.D.: er rauchte den ganzen Tag] - innerlich überlegen [M.D.: eher sehr gerissen] - passiv bis zur Gleichgültigkeit - durchaus vornehm in der Gesinnung - kein Klatscher - kein Debatteur - nie roh, nie zynisch - sehr freundlich, aber schwer zugänglich im Umgang.
A.: [keine, bis auf die Anmerkungen in eckigen Klammern]

21. - Hat Stirner je eine Andeutung gemacht, aus der hätte hervorgehen können, dass seine Arbeit eine Satire sei?
A.: nicht ihr gegenüber

22.- [fehlt]

23. - Welche literarischen Quellen endlich könnten mir noch Aufschluss geben über Stirners Wirksamkeit? - Für welche Zeitungen schrieb er? - In welchen Büchern ist er erwähnt?
Zeitschriften: [keine Angabe]
Bücher: kann sie leider nicht sagen; er übersetzte ein Buch von Adam Smith zu ihrer Zeit, aber sie weiss nicht, ob er damit fertig wurde.

Die Fragen sind in Mackays Handschrift ziemlich flüchtig geschrieben; dies, ihre Formulierung sowie Mackays Schilderung des Besuches bei Marie Dähnhardt lassen vermuten, dass er den Fragenkatalog, nachdem ihm ein Interview nicht gewährt wurde, in grosser Eile geschrieben und mit der Bitte um Beantwortung dort gelassen hat. Das Ergebnis konnte nicht sehr brauchbar sein. Einige der Antworten findet man in Mackays Stirnerbuch (ohne Quellenangabe) wieder. Am interessantesten erscheint mir jedoch seine Frage Nr. 21 zu sein, da sie auf eine gravierende Unsicherheit des "Erzstirnerianers" Mackay in Bezug auf das Wesen des Stirner'schen Werks schliessen lässt. Mackay hat, wie seine sonstigen Schriften zeigen, im Grunde nicht die spezifisch Stirner'sche Position vertreten, sondern stets den "nordamerikanisch" geprägten "Individualanarchismus" seines Freundes Benjamin R. Tucker, d.h. einen sehr radikalen Liberalismus, der von Jefferson, Andrews, Spooner und anderen amerikanischen Denkern herrührt. Dass Stirners Kernidee eine ganz andere Qualität hat, hat Mackay offenbar gespürt; aber er hat sie nicht nachvollziehen können und war geneigt, gerade sie nicht ernst zu nehmen -- deshalb sein in Frage Nr. 21 geäusserter Satireverdacht.(15)


Anmerkungen:

(1) zu Mackays "Legende" vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirner »Einziger«. Eine kurze Wirkungsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1996 (»Stirner-Studien«, Band 2), S. 33-40

(2) John Henry Mackay: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. 1. Auflage 1898; 2., durchgesehene und um eine Nachschrift »Die Stirnerforschung der Jahre 1898-1909« vermehrte Auflage 1910; 3., völlig durchgearbeitete und vermehrte, mit einem Namen- und Sachregister versehene Auflage 1914 (Nachdruck der Mackay-Gesellschaft, Freiburg, 1977)

(3) Mackay: Max Stirner, 3. Aufl., S. 11

(4) vgl. Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit. 150 Jahre Stirner »Einziger«. Eine kurze Editionsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1994 (»Stirner-Studien«, Band 1)

(5) Original im ehem. Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus, Moskau; Mackay-Nachlass, Fond 307, No. 19, L. 239

(6) vgl. Laska, Hit, a.a.O.; Zitat aus: John Henry Mackay: Abrechnung. Randbemerkungen zu Leben und Arbeit. Berlin-Charlottenburg 1932. S. 84

(7) Eine Ausfertigung dieser "Satzungen" ist eingeklebt in dem Exemplar von Stirners »Einzigem« von 1845, das sich in der Universitätsbibliothek Erlangen befindet (Sign. PHS.VI,306)

(8) Jener ominöse Schädel, den Mackay einem Friedhofsarbeiter abgekauft hatte, wurde später von Rolf Engert (1889-1962) erworben, dessen Nachfahren ihn dem Vernehmen nach noch heute im Besitz haben sollen.

(9) Mackay, Abrechnung, S. 179

(10) die Liste wies nur Hans-Martin Sass aus, der sich den oben erwähnten Brief von Edgar Bauer an Max Hildebrandt für seine folgende Veröffentlichung kopieren lassen hatte). Hans-Martin Sass: Edgar Bauer - Evocations de Stirner et de Szeliga. In: Diederik Dettmeijer (ed.): Max Stirner. Lausanne: L'Age d'Homme 1979. pp. 259-261

(11) vgl. Laska, Dissident, a.a.O., S. 22-27

(12) Eine Kopie dieser "Kurze[n] Übersicht über den Inhalt des Stirnerarchivs von John Henry Mackay, Berlin-Charlottenburg" befindet sich in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz in Berlin.

(13) Rolf Engert: Stirner-Dokumente. Berlin: Anti-Quariat Reprint Verlag 1996 (Nachdruck der Hefte 1-4 von Engerts »Neue Beiträge zur Stirnerforschung« u.a.)

(14) Original im ehem. Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus, Moskau; Mackay-Nachlass, Fond 307, No. 1, L. 81, 82, 84, 85 (beidseitig; 8 Seiten)

(15) vgl. Laska, Dissident, a.a.O., S. 62-65; sowie: Bernd A. Laska: Artikel »Anarchismus, Individualistischer«. In: Lexikon der Anarchie, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten 1993ff


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