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Bernd A. Laska:
Stirner - ein Trivial-Egoist?
(Zur Stirner-Gesell-Debatte)

Bernd A. Laska:
Zur Editionsgeschichte von Stirners »Einzigem«

 

Zuerst veröffentlicht in: DER DRITTE WEG, August 1990, S. 18


Zur Stirner-Gesell-Debatte

Stirner -- ein Trivial-Egoist?

von Bernd A. Laska

Im DRITTEN WEG vom März 1989 forderte Franz Josef Huber, man solle sich in dieser Zeitschrift nicht darauf beschränken, wieder und wieder die Vorzüge der Freiwirtschaft zu preisen, man solle auch den Mut aufbringen, auf deren "weltanschauliche Grundlage" einzugehen. Diese bestünde, so Huber weiter, in der von Gesell bewusst oder instinktiv genutzten "Tatsache, dass jeder Mensch von Natur eigennützlich handelt und auch gar nicht anders handeln kann."

Im folgenden Heft schrieb Hans-Joachim Führer, er habe sich über Hubers Beitrag sehr gefreut, weil dieser "eine hoffentlich heisse und seit langem überfällige Diskussion in Gang setzen könnte."

Der Name Stirner fiel in diesen beiden Beiträgen noch nicht, doch hatten, wie sich bald zeigte, sowohl Huber als auch Führer nur ihn im Sinn. Führer eröffnete die eigentliche Diskussion im Maiheft, indem er "die zahlreichen Anhänger Max Stirners, die in der (Freiwirtschafts-)Bewegung von allem Anfang an ideologisch tonangebend waren", für die schlechte Rezeption der Freiwirtschaftslehre verantwortlich machte. Er bekannte sein Unverständnis darüber, "wie Huber zur Überzeugung kommen kann, dass eine Gesellschaft aus menschlichen Wölfen durch die Geld- und Bodenreform zum Frieden gebracht werden könnte", und plädierte für das christliche "Prinzip der Nächstenliebe". Huber wies daraufhin im Juliheft das ihm von Führer untergeschobene Stirnerverständnis (Wolfsgesellschaft) zurück und versuchte, komprimiert auf eine Seite, sein wirkliches zu umreissen und dessen Zusammenstimmen mit Gesells Lehre plausibel zu machen.

In den folgenden Heften weitete die Debatte sich aus, sowohl thematisch als auch personell. Sie gewann dadurch leider nicht an Klarheit und lässt sich u. a. deshalb kaum gültig resümieren. Zwar wurde sie, wie von Führer erwartet, recht "heiss", aber doch eher im Ton als in der Sache. Schliesslich endete sie (vorerst?) im Heft vom Januar 1990 mit je einem Beitrag von Führer und Huber. Beide Kontrahenten waren mittlerweile offensichtlich aneinander resigniert. Führer: "... wäre die Sache nicht so äusserst brisant und wichtig, glauben Sie mir: ich würde den Vorgang zu den Akten legen." Und Huber hatte keine Hoffnung mehr, Führer "von seinem Glauben abzubringen", nur noch die, dass durch seine Darlegungen "von der jüngeren Generation vielleicht der eine oder andere zum Denken angeregt wird."


In der Tat scheint es wenig sinnvoll, im Rahmen einer Zeitschrift mit relativ kurzen Beiträgen in diesem Falle mehr anzustreben, als Hinweise und Denkanregungen zu geben. Die Thematik ist zu tiefgehend, als dass man erwarten könnte, sie in ein paar kurzen Artikeln adäquat abhandeln zu können. Es wäre gewiss schon ein grosses Verdienst, wenn es jemandem gelänge, in einem Artikel prägnant und argumentativ überzeugend darzulegen, warum die Thematik, um die es bei Führer und Huber geht, überhaupt "äusserst wichtig und sogar brisant" ist, was beide übereinstimmend versichern, während andere (Johannes Schumann, Sept. 1989, S. 20; Josef Hüwe, Jan. 1990, S. 21) dies nicht so sehen.

Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle damit begnügen, einige Hinweise für solche Leser zu geben, denen sich diese Frage nicht mehr stellt, die also, aus welchen Gründen auch immer, bereits motiviert sind, in jene Thematik tiefer einzudringen.

Stirners bekanntes Buch »Der Einzige und sein Eigentum« (1844) wurde in den Beiträgen mehrfach genannt. Der Abdruck des Vorworts scheint mir allerdings weniger als die Verständnishilfe wirksam werden zu können, als die er gemeint war, sondern eher die Meinung zu begünstigen, bei Stirner handele es sich bloss um einen trivialen Egoismus, der zulässigerweise und ohne an wesentlichem Gehalt einzubüssen auf die Formel "Mir geht nichts über Mich" reduziert werden könne.

Die Rezeptionsgeschichte des »Einzigen« lehrt jedoch, dass dieser durchaus ein schwieriges Buch ist, das nicht bis heute von allen  Seiten (ausser einigen "Stirnerianern") immer wieder angefeindet worden wäre, wenn es sich bei ihm letztlich nur um ein Hohelied auf den Trivialegoismus handelte. Es sollte daher auf jeden Fall ganz und sehr genau gelesen werden. Wichtig ist zusätzlich der Aufsatz »Rezensenten Stirners«, in dem Stirner versucht, in Erwiderung auf zeitgenössische Kritiker wie Moses Hess und Ludwig Feuerbach, Missverständnisse seines Egoismus-Begriffs zu korrigieren. (Enthalten in: Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken. LSR-Verlag, Nürnberg 1986. S. 147-205).

Von Gesells »Gesammelten Werken« sind, soweit mir bekannt, bisher fünf Bände erschienen. Es lohnt sich, darin einmal die Stellen nachzuschlagen, von denen Huber sagt (Januar 1990, S. 24), dass sich in ihnen Gesell "eindeutig zu Stirner bekennt." Man wird feststellen, sofern man Stirner kennt, dass diese "Bekenntnisse" ausgesprochen unspezifisch sind -- ebenso unspezifisch übrigens wie jenes spätere im Vorwort zur NWO. Selbst Gesells Rede »Am Grabe Georg Blumenthals« (1929), deren wichtigste Passage Führer zwecks ausführlicher Kommentierung und "Denkmalssturz" ungekürzt zitiert (Okt. 1989, S. 19 f.), zeugt nicht davon, dass Gesell sich Stirners Begriff vom Egoismus zu eigen gemacht hätte -- was natürlich keineswegs heissen muss, dass Stirners "Lehre" und NWO nicht miteinander verträglich seien.

Eine Stirner-Gesell-Debatte wurde im übrigen bereits in den zwanziger Jahren geführt, und es mag zu Spekulationen verlocken, warum sowohl Gesell als auch Blumenthal zu ihr schwiegen (vielleicht gibt es aber dazu noch klärendes Archivmaterial). Sie wurde durch den Stirnerianer Rolf Engert eröffnet, der 1921 die Schrift »Die Freiwirtschaft, ein praktischer Ausdruck der Stirner'schen Philosophie«, im Erfurter Freiland-Freigeld-Verlag erscheinen liess. Engert setzte seine Versuche, Stirner und Gesell theoretisch zusammenzubringen, noch in einer Reihe von Vorträgen, Broschüren und Artikeln fort, erhielt jedoch, obwohl er sich auf einige Bemerkungen Blumenthals und Gesells berief, fast keine positive Resonanz aus den Reihen der Freiwirtschaftler. Diese waren zwar in Fraktionen zerspalten, aber, entgegen der Behauptung Führers von einem fatalen Einfluss der "zahlreichen Anhänger Max Stirners", meist einig in der Abwehr der stirnerianischen Fusionsversuche Engerts.

Engerts Bemühungen blieben indes nicht ganz vergeblich. Sie führten einen anderen Stirnerianer, Hans Sveistrup, zur Beschäftigung mit Gesell. Sveistrup fasste die Ergebnisse seiner Studien in dem Buch »Stirners drei Egoismen. Wider Karl Marx, Othmar Spann und die Fysiokraten« zusammen, das 1932 im [freiwirtschaftlichen] Verlag Rudolf Zitzmann in Lauf bei Nürnberg erschien und 1983 vom Verlag der Mackay-Gesellschaft in Freiburg als Nachdruck herausgegeben wurde. Er bestritt darin Engerts Hauptthese der Zusammengehörigkeit von Stirner und Gesell, worauf Engert mit einer Artikelserie »Silvio Gesell und Max Stirner« replizierte, die in dreizehn Folgen in der Zeitung »Letzte Politik«, beginnend in Nr. 47 des Jahres 1932, erschien. Die Debatte endete in den ersten Monaten des Jahres 1933.

Ich denke, dass diese damals sehr sachkundig geführte Auseinandersetzung, in der vor allem Stirners Egoismusbegriff nicht trivialisiert, sondern problematisiert  wurde, es wert ist, der Vergessenheit entzogen zu werden. Es dürfte allerdings kaum möglich sein, sie hier in wenigen Spalten zu vergegenwärtigen. Vielleicht aber können diese Hinweise einige Leser zu vertieften Studien anregen und in der Folge die festgefahrene Debatte, die bisher hauptsächlich von Führer und Huber bestritten worden ist, wieder in Bewegung bringen.

[(Zurück) zum Artikel »Silvio Gesell und Max Stirner«]


[Anmerkung 1998: Die Debatte wurde bis Juli 1991 weitergeführt, kam allerdings dabei nicht in Bewegung, sondern fuhr sich vielmehr immer weiter fest -- vorwiegend dadurch, dass 1) der o.g. Hans-Joachim Führer, ein betagter Sohn Silvio Gesells, in ausufernden Beiträgen das Thema zerredete und 2) andere Teilnehmer dies noch begünstigten, indem sie auf Führer eingingen. Ich habe mich an dieser Debatte nicht mehr beteiligt. B.A.L.]
Vgl. dazu meinen Artikel »Silvio Gesell und Max Stirner«


Aus: Rundbrief -- für alle über den Anarchismus, Anarchosyndikalismus, Linksradikalismus sowie antiautoritäre Bewegungen forschenden Historikerinnen und Historiker. Nr. 16, August 1995, o.S. [8-9]
Nachgedruckt in: espero. Rundbrief der Mackay-Gesellschaft. Nr. 4/5, Oktober 1995, S. 30-31
 


Zur Editionsgeschichte
von Stirners »Einzigem«

von Bernd A. Laska
 

Das Erscheinen von Max Stirners weithin bekanntem Buch »Der Einzige und sein Eigentum« jährt sich 1995 zum 150. Mal (seinem Impressum zufolge; tatsächlich erschien es bereits Ende Oktober 1844. Ich habe die runde Zahl zum Anlass genommen, einige meiner Archivfunde (u.a. aus dem Teil des Nachlasses von John Henry Mackay, der im Archiv des ehemaligen Instituts für Marxismus-Leninismus in Moskau lagert) auszuwerten und eine Editionsgeschichte des »Einzigen« zu schreiben. Diese stellt sich keineswegs, wie man befürchten könnte, als eine trockene Sammlung von Zahlen und Daten dar, sondern vielmehr als ein bisher ignorierter Strang der durchaus "spannenden" Rezeptionsgeschichte dieses Buches.

Max Stirner, der in Handbüchern, Lexika, etc. meist als Anarchist bezeichnet wird, wurde von den Anarchisten selbst, wie Bezieher dieses Rundbriefs wissen werden, eher gemieden. Proudhon reagierte auf Stirners Kritik an seiner Schrift »Qu'est-ce que la propriété?« mit Schweigen und Aussitzen. Bakunin, der damals wie Proudhon die Entwicklung der junghegelianischen Diskussion, zu der der »Einzige« gehörte, mit Interesse verfolgte, schwieg sich zu Stirner ebenfalls aus. Und der gütige Kropotkin konnte, wie Max Nettlau überlieferte, sehr wütend werden, wenn im Gespräch auch nur der Name Stirner fiel; schriftlich äusserte er sich schliesslich nur notgedrungen und zudem ausweichend.
[vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident, S. 52-55]

Die sog. erste Stirner-Renaissance, die den »Einzigen« in den 1890er Jahren nach einem halben Jahrhundert des Verschollenseins weithin bekannt werden liess, ist demgemäss auch nicht durch Anarchisten getragen worden, eher noch durch die anti-anarchistische Propaganda der Marxisten, die noch Friedrich Engels 1886 mit der Parole initiierte, Bakunin sei Prondhon plus Stirner (worauf die Anarchisten mit der von Engels kalkulierten Betretenheit reagierten).

Die damalige Stirner-Renaissance ist auch nicht, jedenfalls nicht entscheidend, von John-Henry Mackay in Gang gesetzt worden (was dessen sonstige Verdienste um Stirner keineswegs schmälert), sondern von dem Mann, dem es gelang, den »Einzigen« in die preiswerte Buchreihe "Reclams Universalbibliothek" zu bringen und damit die wichtigste Voraussetzung für seine massenhafte Verbreitung zu schaffen: von Paul Lauterbach.

Lauterbach ist bald nach dem Erscheinen des Reclam-»Einzigen« gestorben und hat ausser der Einleitung zu dieser bis in die 1920er Jahre immer wieder aufgelegten Edition nichts publiziert. Er war deshalb bisher auch in der Stirner-Literatur ein weitgehend unbeschriehenes Blatt. Erst die Entdeckung seiner Briefe ermöglichte die zumindest teilweise Erhellung der Hintergründe der ersten Stirner-Renaissance.

Lauterbach war Nietzscheaner sozusagen der ersten Stunde. Er sah Stirner bzw. dessen Buch als in hohem Masse gefährlich an, war von dessen vemeintlicher Dämonie aber gleichwohl fasziniert. Jedenfalls wollte er mit der Verbreitung des »Einzigen« sowohl auf eine grosse geistige Gefahr hinweisen als auch zugleich den Retter aus ihr nennen: Friedrich Nietzsche, Stirners "Nachfolger, Ausbauer und Umschöpfer", der damals -- gerade verstummt -- noch nicht berühmt war und, so Lauterbachs Kalkül, via Stirner auch in die Reclam'sche Universalbibliothek kommen sollte.

So wie die erste Stirner-Renaissance in wesentlicher Hinsicht einem Stirner-Gegner zu verdanken war, so auch die zweite der Jahre 1968ff. Diesmal war es ein dezidierter Marxist, Hans G. Helms, der den ein zweites Mal für ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geratenen »Einzigen« als gefährliches Buch entdeckte und exponierte (in seinem Buch »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«, Köln 1966, 600 S., und als Herausgeber einer -- verstümmelten -- Textedition), um dann Marx bzw. den Marxismus als allein wirksame Remedur zu empfehlen.

Lauterbach und Helms haben ihren Heroen, Nietzsche bzw. Marx, mehr zugetraut als diese einst sich selbst. Denn Marx liess seinen Anti-Stirner »Sankt Max« wohlweislich unveröffentlicht, und Nietzsche verwischte (fast) alle Spuren seiner Kenntnis Stirners. Eine öffentliche, argumentative Auseinandersetzung mit dem »Einzigen« kam für sie ebensowenig in Frage wie für die meisten Anarchisten. Doch dies gehört näherhin in die Rezeptionsgeschichte des »Einzigen«, die ich in einer zweiten Jubelschrift zu seinem 150sten Jahrestag in ihren wichtigsten Zügen skizzieren werde.
[Anmerkung 1998: sie ist inzwischen erschienen u.d.T. »Ein dauerhafter Dissident«.]


Die hier kurz vorgestellte Editionsgeschichte liegt bereits vor: in der Broschüre
»Ein heimlicher Hit«.


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