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Martin Walser und La Mettrie


Der folgende Artikel stand zuerst in der Internet-Zeitschrift literaturkritik.de, Jg. 6, Nr. 10, Oktober 2004;
dann in deren im November 2004 erschienener Druckfassung auf S. 60-71


Bernd A. Laska

Warum ausgerechnet La Mettrie ?

Über den "eigentlichen Helden" in Martin Walsers Roman »Der Augenblick der Liebe«

Als im Februar dieses Jahres (2004) gemeldet wurde, dass Martin Walser von seinem seit Jahrzehnten angestammten Verlag Suhrkamp zu Rowohlt wechselt, wurde auch Walsers neuer Roman angekündigt: »Der Augenblick der Liebe« werde im Sommer bei Rowohlt erscheinen. Dessen Held Gottlieb Zürn, Walser-Lesern aus zwei früheren Romanen bekannt, werde darin, wie es unter anderem hiess, als langjähriger Verehrer des französischen Philosophen La Mettrie gleichsam enttarnt. Diese beiläufige Bemerkung weckte in mir, obwohl ich als Herausgeber und Übersetzer La Mettries an dessen Rezeption natürlich sehr interessiert bin, noch keine grösseren Erwartungen. Erst der Vorabdruck des ersten Kapitels in der ZEIT (27.5.) liess erkennen, welch wichtige Rolle La Mettrie in diesem Roman spielen würde. Im SPIEGEL (19.7.) hiess es dann sogar, nicht Zürn, sondern La Mettrie sei darin "der eigentliche Held".

Das Buch kam am 23. Juli heraus, und innerhalb weniger Tage erschienen Dutzende von Kommentaren: Rezensionen, Autor-Interviews, Diskussionsrunden etc. in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Dabei ging es natürlich hauptsächlich um die literarische Beurteilung des Romans, der überwiegend gelobt, gelegentlich auch gehörig verrissen wurde. Da La Mettrie darin stets präsent ist, auf den Seiten 114 bis 131 sogar durch den Abdruck eines längeren wissenschaftlichen Vortrags des Protagonisten, kommt fast jeder Rezensent auch auf ihn zu sprechen. Dabei zeigt sich, dass La Mettrie den meisten von ihnen nur sehr klischeehaft bekannt ist -- als Autor eines Buchs »L'homme machine« -- und sie deshalb mit Walsers offenkundiger Begeisterung für ihn nichts anfangen können. Aber auch ein philosophisch und philosophiegeschichtlich versierter Kommentator wie Günter Zehm, ein bis dahin "unverbesserlicher Bewunderer" Walsers, verfiel angesichts dieses Werks in Ratlosigkeit und sah sich gezwungen, Zuflucht zu umständlichen psychologischen Analysen des Autors zu nehmen, um sich halbwegs zu erklären, "wieso Zürn und Beate und mit ihnen Walser selbst sich ausgerechnet in La Mettrie, einen wahrhaft trostlosen Kurzdenker, vergaffen." (mehr zu Zehm weiter unten)

Um Walsers Enthusiasmus für diesen wenig bekannten und sonst meist abschätzig beurteilten Autor des 18. Jahrhunderts zu verstehen, vor allem aber, um den ideengeschichtlichen Impuls, den Walser durch diesen Roman ganz ersichtlich geben will, verstehen und würdigen zu können, ist eine Vergegenwärtigung der wichtigsten Stationen von Leben, Werk und Rezeption La Mettries unverzichtbar.

Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) war Bretone, wurde in Rennes Doktor der Medizin und ging anschliessend an die damals europaweit führende medizinische Fakultät im niederländischen Leiden. Er übersetzte die Schriften des dort lehrenden Hermann Boerhaave ins Französische, kommentierte sie und verfasste selbst eine Reihe medizinischer Abhandlungen. Nach gut einem Jahrzehnt theoretischer und praktischer Arbeit als Arzt, nicht zuletzt aufgrund mehrfachen Einsatzes im Rahmen der kulturellen Institution des Krieges, kam der "Materialist" zu der Diagnose, dass die grundlegende Pandemie des Menschen "geistiger" Natur sei. Um sie zu bekämpfen, publizierte er 1745/46 in Paris drei grössere Schriften: eine philosophische (»Histoire naturelle de l'âme«), eine satirisch gewürzte medizingeschäftskritische (»Politique du Médecin de Machiavel«) und eine moralisch subversive (»La Volupté«). Dass sie anonym oder pseudonym erschienen, half dem Autor wenig: bald musste er ins vergleichsweise liberale Holland flüchten.

An seinem alten Wirkungsort Leiden schrieb er das Buch, das ihn damals berühmt machte und bis heute mit seinem Namen verbunden wird: »L'homme machine.« Es erschien Ende 1747, brachte ihn aber sogar im toleranten Holland in solche Gefahr, dass er einer Einladung Friedrichs II folgte und ab Februar 1748 an dessen Potsdamer Hof als Leibarzt, Gesellschafter und Vorleser des Königs lebte und in Sicherheit schien. Er wurde Teilnehmer der königlichen Tafelrunde und Mitglied der Preussischen Akademie der Wissenschaften, und Friedrich sicherte ihm selbstverständlich volle Publikationsfreiheit zu.

Das Blatt wendete sich jedoch bereits nach kurzer Zeit. La Mettrie hatte nämlich im »L'homme machine«, den der König und viele andere freigeistige Zeitgenossen gefeiert hatten, "noch nicht alles gesagt." Er meinte nun, dass er dieses bisher Ungesagte bzw. Unpublizierte jetzt in den Konversationen mit den aufgeklärtesten Zeitgenossen nicht mehr zurückzuhalten brauchte. Das aber erwies sich als ein grosser Irrtum. Friedrichs Akademiepräsident Maupertuis erliess speziell für La Mettrie vorsorglich ein Schreibverbot. "Er hatte mir versprechen müssen, sich bloss an Übersetzungen zu begnügen, weil ich ... dadurch seine gefährliche Einbildungskraft einzuschränken glaubte", schrieb Maupertuis später zu seiner Entlastung -- denn La Mettrie hatte dieses Verbot mit einiger List unterlaufen. (KW, Anhang 2, 119)*

La Mettrie hatte zwar, wie geheissen, sich eine Übersetzung vorgenommen (Senecas »De beata vita«), hatte aber, weil ihm das nicht ausdrücklich verboten worden war, eine Vorrede dazu verfasst, allerdings eine in Buchformat, beträchtlich länger als der Seneca-Text. Dieser »Discours sur le bonheur« oder auch »Anti-Sénèque« war freilich keine Einleitung zu Seneca, sondern der Text, der jenes bis dahin Ungesagte enthielt, und den La Mettrie dann als sein Hauptwerk bezeichnete. Wie La Mettrie das Manuskript am König und diversen "Aufpassern" vorbei zum Druck brachte, war ein Kabinettstück für sich. (AS, vi-xv) Friedrich jedenfalls stand eines Tages vor der vollendeten Tatsache und soll vor Wut zahlreiche Exemplare des Buches eigenhändig ins Feuer geworfen haben; dies berichtete der darüber hocherfreute junge Lessing. Friedrich konnte andererseits kaum zugeben, dass er einen philosophischen Freigeist, den er noch vor kurzem freudig empfangen hatte, in rein philosophischen Angelegenheiten der Zensur unterwerfen wollte.

Gleichwohl: La Mettrie war damit, auch wenn er in die Rolle des Spassmachers und Potsdamer Hofnarren flüchtete, in eine äusserst prekäre Situation geraten, zumal ihm auch kein anderes Asyl mehr offen stand. Trotzdem blieb er sich treu. Er veröffentlichte jetzt noch einige belanglose Schriften, wie z.B. »L'homme plante«, dies aber vermutlich zur Tarnung dafür, dass er insgeheim weiter an seinem Hauptwerk und dessen klandestiner Verbreitung arbeitete. Vom »Anti-Sénèque« erschienen zu seinen Lebzeiten, also in den nächsten drei Jahren, noch zwei überarbeitete Fassungen, beide natürlich mit fingiertem Druckort und Verlag. Ausserdem sorgte La Mettrie dafür, dass dieses Werk und die sie ergänzende »L'art de jouir«, eine überarbeitete Version von »La Volupté«, in deutschen Übersetzungen erschienen: »Das höchste Gut oder ... Philosophische Gedanken über die Glückseligkeit« und »Die Kunst, Wollust zu empfinden«. Beide Ausgaben waren aber bald "verschollen" und sind nur in wenigen Exemplaren erhalten. »L'homme machine« jedenfalls erschien ihm ganz offensichtlich weniger wichtig.

La Mettries freisinnige Zensoren gingen nun einen Schritt weiter: sie brachten ihn dazu, noch im Jahre 1750 seine »Œuvres philosophiques« herauszugeben, und zwar unter Verzicht ausgerechnet auf den »Discours sur le bonheur (Anti-Sénèque)« samt der dieses Werk komplettierenden »L'art de jouir«. Das heisst: der erst 40-jährige Mann, der gerade ein paar schmale philosophische Schriften vorzuweisen hatte, sollte sein Testament als Philosoph machen und dabei stillschweigend sein Hauptwerk widerrufen, das Werk, das seine théorie des remords  enthält, für die allein er Priorität beanspruchte. (AS, 11) Darauf wird Friedrich wenig später, nach La Mettries Tod, in einer zwiespältigen Eloge anspielen.

Die Eloge wurde bald verlesen, denn La Mettrie, bis dahin kerngesund, starb am 11. November 1751, einer gern kolportierten Version nach als Folge des übermässigen Genusses einer Trüffelpastete. Er selbst scheint ein schlimmes Ende geahnt und befürchtet zu haben. An verschiedenen Stellen seiner Schriften kommt er auf die "Gefahren des Weges, den ich eingeschlagen habe", (AS, 84) zu sprechen, auf die Fälle Sokrates, Galilei, Descartes u.a. Noch im Oktober 1751 schrieb er in einer kleinen, obskuren, erstmals 1934 edierten Schrift von seiner Befürchtung, der "Wut der Frommen ausgeliefert" zu sein (KW, Anhang 1, 91), und es liegt auf der Hand, dass er hier nicht die Klerikalen meinte. Er kannte seine Freigeister und wäre von der Art, wie sie bald auf seinen Tod reagierten, nicht erstaunt gewesen. Voltaire etwa bezeugte in sarkastischen Worten, mit welcher Genugtuung es ihn erfülle, dass "diese strotzende Gesundheit ... aufgedunsen und dick wie ein Fass" zu Tode gekommen sei. Und Diderot, sonst ein ebenso eifriger Verfechter humanitärer Werte, hasste den ihm nicht einmal persönlich bekannten La Mettrie mit solcher Inbrunst, dass er nach Jahrzehnten des konsequenten Totschweigens doch noch die Contenance verlor: "La Mettrie ist so gestorben, wie er sterben musste: als Opfer seiner Masslosigkeit und seines Wahnsinns." Diderot fühlte sich ermächtigt und, kurz vor seinem Tode, wohl gar verpflichtet, einen "so verdorbenen Menschen aus der Gemeinde der Philosophen auszuschliessen." (Seneca-Essay, 2. Buch, Kap. V f)

Dieser Ausschluss war allerdings stillschweigend schon längst geschehen. Dass La Mettries skandalöse Œuvres, nun z.T. auch mit den einst unterdrückten Texten, im 18. Jahrhundert ausserhalb Preussens noch mehrmals nachgedruckt wurden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass La Mettrie mit dem »Discours sur le bonheur« zum Paria (für die Aufklärer) bzw., wie Friedrich Albert Lange 1866 in seiner »Geschichte des Materialismus« sagte, zum "Prügeljungen des Materialismus" (für die Gegenaufklärer) geworden war. Lange verlangte "Gerechtigkeit" für La Mettrie. Er hob gegenüber den Materialisten Holbach und Diderot La Mettries solidere wissenschaftliche Bildung hervor sowie die Priorität einiger wichtiger Ideen, und er sah auch in La Mettries Person "eine edlere Natur als Voltaire oder Rousseau." Aber ausgerechnet jene Schriften, die La Mettrie als sein Hauptwerk angesehen hat, derentwegen er für die Aufklärer zum Paria wurde, fand auch Lange als "verwerflich" (Discours sur le bonheur) und sogar "besonders widerwärtig" (L'art de jouir).

Schon bevor Lange dem Werk La Mettries diesen Bärendienst leistete, hatte Marx, als er sein Konzept des "historischen" Materialismus entwarf, La Mettrie als Vertreter eines (bloss) "mechanischen" Materialismus bezeichnet. Als solcher ging er später in die Annalen ein, und er blieb es bis heute. »L'homme machine«, 1875 erstmals und inzwischen fünfmal ins Deutsche übersetzt, war und ist als Titel zugleich eine eingängige Phrase, die La Mettrie zu einem kruden reduktionistischen Denker stempelte.

Es bedurfte des scharfen Blicks des weltanschaulichen Gegners, um La Mettries originäre Denkleistung, derentwegen er einst von den Aufklärern geächtet wurde, seine théorie des remords  (Lehre von den Schuldgefühlen bzw. vom Über-Ich), erstmals -- denn die Aufklärer selbst hatten geschwiegen -- ins öffentliche Blickfeld zu rücken und ihn als Schlüsselfigur der französischen Aufklärung zu erkennen. Dies geschah aber im Verbund mit einer anderen Reduktion: La Mettrie wurde, statt zum Mechanisten, zum Nihilisten und Vorläufer Sades erklärt und damit endgültig diskreditiert. Dennoch: diese zweite Reduktion La Mettries war es, die den Anstoss zur Herausgabe einer vierbändigen deutschen La-Mettrie-Werkausgabe gab (1985/87, bis dahin gab es nur »Der Mensch eine Maschine«, in drei deutschen Versionen), deren einleitende Begleittexte darauf abzielen, die einstige Brisanz der Auffassungen La Mettries über die schädliche Funktion des (freilich erst von Freud so genannten) Über-Ichs, genauer: der Konsequenzen seiner frühkindlichen Introjektion, vor Augen zu führen und die -- nach wie vor bestehende, potentielle -- Brisanz des nicht ohne Grund jahrhundertelang "verdrängten" Kerns dieser Auffassungen vor Augen zu führen.

So weit wollte die akademische La-Mettrie-Forschung denn doch nicht gehen. Man reagiert heute aber selbstverständlich nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert Lange, moralisch entrüstet, schon gar nicht über Sexuelles. Aber man macht im Grunde dasselbe wie Lange: man bemüht sich zwar eifrig darum, dass La Mettrie endlich "Gerechtigkeit" widerfahre, aber man distanziert sich, wenn auch dezent, ausgerechnet von den Werken, die laut La Mettrie seine einzig originäre Theorie beinhalten und die allein den Grund dafür abgaben, dass seine Zeitgenossen, insbesondere die Aufklärer, ihn derart "ungerecht" behandelten. Man stilisiert La Mettrie zu einem Humanitären, und die nachhaltige Feindschaft, die insbesondere seine humanitären Zeitgenossen gegen ihn hegten, bagatellisiert man oder erklärt sie zu einer bloss "taktischen" Notwendigkeit.

In der jüngsten, mit 600 Seiten bisher längsten Studie über La Mettrie (von Ursula Pia Jauch, s.u.) heisst es gegen Ende, gleichwohl in gebotener Beiläufigkeit: "La Mettries Glückstheorie ist weder genial, noch bringt sie -- mit Ausnahme der Gewissenstheorie -- etwas genuin Neues." (UPJ, 561) Ist oder war ? Bringt oder brachte ? Und: warum wird abgestritten, die Theorie sei genial ? Hat das etwa jemand behauptet ? Vor allem: ist La Mettries Gewissenstheorie ein blosses Anhängsel seiner -- ohnehin "banalen" (ebd.) -- Glückstheorie, das sich abspalten und ignorieren lässt ? -- Die vielen, oft amüsanten Details dieser wissenschaftlichen Studie (Habilitationsschrift) sowie ihre ungewöhnliche Opulenz mögen darüber hinwegtäuschen, dass sie substantiell darauf hinausläuft, ein weiteres Mal von La Mettries "Gewissenstheorie" abzulenken, sie zu banalisieren und an den Rand seines Werkes zu drängen. Nur dem sehr kritischen Leser wird auffallen, dass der sonst stets von Sympathie getragene Ton an bestimmten Stellen wechselt, wie z.B. hier: La Mettries "Forderung, künftig in der Erziehung darauf zu achten, dass die Gewissensbisse nicht mehr weiter zum Lehrstoff gehören" -- Gewissensbisse als Lehrstoff ! Welcher Hohn, welcher Sarkasmus, wieviel Abwehr gegenüber La Mettries subtilen Ausführungen zur Introjektion des Über-Ichs ! -- sie sei "entwicklungspsychologisch freilich undifferenziert." Die differenzierte Stellungnahme bleibt natürlich aus. Das ist eine Rehabilitation à la Lange: Die Quintessenz der Philosophie La Mettries wird mit verstehender Geste als traumatisch bedingte Schrulle entschuldigt: jene "Forderung", so heisst es pseudo-analytisch, habe ihren Grund in "La Mettries ureigener Erfahrung im Umgang mit der religiösen Zerknirschung." (UPJ, 555)

Es liegt auf der Hand, dass es bei solcherart Bearbeitung eines Kapitels der Ideengeschichte nicht primär um Annäherung an die historische Wahrheit geht, sondern um Verwertung für die Gegenwart, also um die mehr oder weniger bewusste oder geahnte Bedeutung, die La Mettries "Gewissenstheorie" auch noch für die sich aufgeklärt dünkende Gegenwart haben könnte. Zugleich fällt es schwer, allen Ernstes anzunehmen, dass ein Autor der Frühaufklärung uns Heutigen, die wir die Aufklärung als eine so oder so längst abgeschlossene Epoche historisiert haben, etwas in gewisser Hinsicht Neues zu sagen hätte, dies gar in einer, wie es aussieht, wissenschaftlichen Frage. Nach gut einem Jahrhundert Psychologie müsste doch La Mettries "Gewissenstheorie" sine ira et studio  und zuverlässig zu beurteilen sein.

Ein solches Urteil steht merkwürdigerweise noch aus. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, dies mit der möglicherweise unzureichenden psychologischen Kompetenz der Philosophen, die bisher über La Mettrie geforscht haben, und dem Desinteresse der Psychologen an La Mettries Ansichten zu erklären. Denn in der Psychologie, namentlich in der Tiefenpsychologie, hat man sich seit den Anfängen von Freuds Psychoanalyse ebenfalls schwer getan mit eben der Thematik, die La Mettrie aufwarf und die den Kern dessen zu betreffen scheint, worauf "Aufklärung" abzielt: auf den "mündigen" Menschen, wie er sich entwickeln könnte, welche Eigenschaften ihn charakterisieren würden etc. Der Grund für jene besonderen Probleme liegt offenkundig darin, dass hier eine rein wissenschaftliche Abtrennung des psychologischen Problems vom politischen nicht möglich ist.

In der Psychoanalyse gab es darüber schwelende, nie offen ausgetragene, letztlich erstickte Konflikte. (Vgl. hierzu Freud contra Otto Gross und Freud contra Wilhelm Reich sowie Der "Fall" Reich). Theodor W. Adorno, Aufklärer und später ein fatalistischer Aufklärungskritiker, sprach wohl deshalb in seinen letzten Jahren auf kryptisch-ironische Weise von den "heroischen Zeiten der Freudschule". Diese habe damals "die rücksichtslose Kritik des Überichs als eines Ichfremden, wahrhaft Heteronomen gefordert." Und: "Das Gewissen ist das Schandmal der unfreien Gesellschaft." Adorno nennt nur einen Namen, Ferenczi, und ihm, gewiss kein Heros, bescheinigt er bei der Annäherung an das Problem "eine Vorsicht, die allenfalls aus Scheu vor den gesellschaftlichen Konsequenzen zu erklären ist." (»Negative Dialektik«, 1966, S. 269 ff) Adorno spricht nicht über den Schulgründer Freud; er verschweigt, dass Freud selbst die im Hintergrund treibende Kraft beim Ausschluss und bei der Ächtung jenes Analytikers war, der die "Kritik am Überich" am konsequentesten betrieb: Wilhelm Reich. Adorno leistet vor allem selbst nicht, was er anmahnt. Er lässt seine starken Worte in einer riesigen Textmasse verpuffen. Ich habe ihn hier zitiert, um zu zeigen, dass La Mettries théorie des remords,  die eine in damaligen Begriffen gut begründete Kritik am Überich darstellt und als solche von Voltaire, Diderot, Rousseau et al. unterdrückt wurde, auch in postfreudianischer Zeit nicht obsolet ist; dass, ganz im Gegenteil, Adornos Fluchtbewegung unverminderte Aktualität signalisiert. Der "Fall La Mettrie" könnte Anlass zu einer neuen Sicht der Triumphe der Aufklärungsbewegung vom 18. bis 20. Jahrhundert werden und zu dem ermuntern, was Adorno nicht schaffte und nach ihm kaum noch jemand versucht: zu einer nicht-fatalistischen, nicht-defaitistischen Aufklärungskritik und damit zu einer Reanimation der seit Mitte des 20. Jahrhunderts paralysierten europäischen Aufklärung.

* * *

Dieser lange Vorspann, der dennoch nur das Wesentliche zu Leben, Werk und Rezeption La Mettries skizziert, war notwendig, um Martin Walsers Begeisterung ausgerechnet für diesen Autor zu verstehen und zu würdigen. Denn La Mettrie gilt eben allgemein nach wie vor als grobschlächtiger "mechanistischer" Materialist oder/und als Vertreter eines Vulgärhedonismus. In letzter Zeit gab es zudem Bemühungen, den Vielgeschmähten zum "guten Menschen" zu nobilitieren, zum Frühfeministen, Kriegsgegner und allgemein Humanitären, der schon im 18. Jahrhundert gegen Grausamkeiten wie Todesstrafe, Tierversuche oder die lustfeindliche christliche Moral und für Toleranz und andere moderne Werte aufgetreten ist. Walser hingegen hebt nicht dies, sondern La Mettries "Theorie des Schuldgefühls" hervor, und da bleibt zu untersuchen, ob er über die vulgärhedonistische Parole vom "Genuss ohne Reue" hinausweist und ggf., ob dies von seinen Lesern bzw. den Rezensenten verstanden wurde.

In den Tagen um den 23. Juli, als das Buch in den Handel kam, erschienen Rezensionen in fast allen relevanten Medien. Die Urteile fielen sehr unterschiedlich aus, sowohl was die literarische Qualität des Romans angeht als auch in Bezug auf La Mettries Rolle darin, die allein hier von Interesse ist. La Mettrie wurde einerseits als der "eigentliche Held" des Romans (Volker Hage, Spiegel, 19.7.) wahrgenommen, andererseits aber auch beinahe ignoriert (Burkhard Müller, SZ, 23.7.). Man mutmasste, Walser habe sich in Verkennung seiner persönlichen Situation (Antisemitismus-Vorwurf etc.pp.) mit dem "verkannten, verfemten" Autor des 18. Jahrhunderts identifiziert (Volker Weidermann, FASZ, 18.7.), wozu wiederum die Meinung von Ursula März in der FR (23.7.) passt, Walser habe La Mettries Schriften zum "Stellvertreterkommentar seiner persönlichen, polemischen, häretischen Weltsicht" erkoren, die aus "Anti-Monotheismus" und "schierem Zorn auf die Verbotsdoktrin" bestehe, aus "Privattrotz" und "wütendem Nihilismus", einer Weltsicht, die zudem "adoleszent" und "diffus anti-autoritär" sei. Annett Gröschner (Freitag, 23.7.) dagegen hebt den in den Roman integrierten "lesenswerten Essay" über den "Hedonisten La Mettrie" hervor, und auch Tilman Krause (Die Welt, 24.7.) lobt diesen Einschub als ein "Kabinettstück akademischer Essayistik." Den meisten Rezensenten freilich merkt man an, dass sie vor der Walser-Lektüre mit La Mettrie kaum mehr als das Schlagwort vom »L'homme machine« verbanden, so dass sie Walsers Ausführungen nur bedingt kritisch lesen konnten.

Zwei oder drei der mir bekannt gewordenen Rezensionen stammen jedoch von Autoren, deren Sachkundigkeit zumindest nicht zu bestreiten ist.
Stefan Zweifel, Co-Autor des Buches »Pornosophie & Imachination. Sade - La Mettrie - Hegel«, urteilt in einer Kurzrezension: Walser "präsentiert nur die puppenlustige Seite La Mettries; dass dieser dem Nihilismus Tür und Tor öffnete, verschweigt er." Schliesslich sei er aber eben deswegen von den Aufklärern verfemt worden; habe als Einziger der Marquis de Sade ihn verteidigt. (Weltwoche, Zürich, 29.7.)
Sandra Pott wurde in diesem Journal (literaturkritik.de, Nr.8, August 2004) ausführlicher. Zunächst weist sie auf den unüblichen "Realitätsgehalt" des Romans hin: Walser habe erkennbar die Texte La Mettries eingehend studiert und weiterhin "treffsichere Einblicke in die Forschung" genommen (einen realen La-Mettrie-Kongress zum Vorbild gewählt, reale Eigennamen der Teilnehmer genannt etc.). Dann lobt sie, dass La Mettrie bei Walser nicht als platter Materialist erscheint, sondern "als sympathischer Anwalt der Natur, der Sinne und der Einbildungskraft, als Erfahrungstheoretiker, als sanftmütiger Atheist", in Erziehungsfragen als ein Vorläufer von Rousseau. Sie stellt dennoch in Frage, ob Walser die La-Mettrie-Forschung richtig darstellt. Ein Forscher, der wie Walser (bzw. der Protagonist Gottlieb Zürn) sich seinem Helden gegenüber "derart kritiklos und identifikatorisch" verhalte, wäre in der Realität chancenlos, und zwar zu Recht. An ihm sei zu vermissen, was La Mettrie vor allem ausgezeichnet habe: Polemik, Ironie und Witz. Es sei "unlamettristisch", dass der Jünger seinen Meister so "enthusiastisch ernst" nimmt und die "Techniken der humorvollen Selbstdistanzierung ignoriert, ohne die La Mettries Gedankenspiele selbst einem La Mettrie unmöglich gewesen wären." -- La Mettrie selbst gab allerdings einen anderen Grund an, warum "überall in meinem Werk das Stilmittel der Ironie" zu finden sei und er sich "auf die Kunst des Lavierens" verlegt habe: um nicht "die Beute gewisser Piraten zu werden, die ... in einer Welt des Wahnsinns höchste Achtung geniessen." (KW, Anhang 1, 89 f)
Günter Zehm schliesslich, der aus dem Leipziger Bloch-Seminar hervorging, dann in Westdeutschland Karriere als konservativer Publizist machte und nach der Wende Philosophieprofessor in Jena wurde, schätzt Walsers "grossartige Produktivität, seine Sprachkraft und nicht zuletzt seinen öffentlichen Mut", ist sein "unverbesserlicher Bewunderer" -- oder war es bis zu diesem Buch. Denn er kann über Walsers "Vergafftheit" in einen so verächtlichen Schriftsteller wie La Mettrie "nur angewidert den Kopf schütteln" (s. a. Zitat oben). Er steht fassungslos davor, dass der bewunderte "Grossschriftsteller" nun ausgerechnet den "trostlosen Kurzdenker" La Mettrie, "über den seine Mitaufklärer Lessing und Diderot schon im 18. Jahrhundert das Notwendige gesagt haben", dass also Walser diesen "Porneuten" und "Sittenlosen" zu seinem "Säulenheiligen", zum "Propheten an sich", zum "Erlöser" erwählt hat. Zehm versucht in seiner "tiefen Frustriertheit", diese Katastrophe mittels einer behelfsmässigen "Psychoanalyse" zu verstehen: "Von Frauen umzingelt" -- als Knabe keinen Vater gehabt, dann ebenbürtige Frau, vier Töchter, als Vater keinen Sohn etc. -- Abgesehen davon hat Zehm einen scharfen Blick für philosophische Ungereimtheiten und Widersprüche: er moniert, dass Rousseau nicht, wie der Titel eines Artikels von Zürn sagt, ein Nachfolger La Mettries war, sondern einer seiner -- wohl intimsten -- Gegner, und er schöpft Hoffnung daraus, dass Walser zum Ende des Romans überraschend Blaise Pascal zu Wort kommen lässt, den denkbar "schärfsten Widerpart" zu La Mettrie. (Junge Freiheit, 23.7.)

Man muss nicht eine so schlechte Meinung von La Mettrie haben wie Zehm, um sich die Frage zu stellen, warum -- und auf welchem Weg -- Walser ausgerechnet auf La Mettrie gekommen ist und warum er ihm in seinem Roman eine so dominante Stellung eingeräumt hat. In einigen Interviews wurde er denn auch danach befragt. Walser verwies dann auf seine katholische Kindheit und einige Semester philosophisches Studium in Regensburg, wo Thomas von Aquin die Leitfigur gewesen sei. Danach sei es für ihn "ein befreiender Satz" gewesen, dass Körper und Seele aus einem Stoff sind. (Berliner Zeitung, 24.7.; ähnlich in anderen Interviews) Diesen Satz, den freilich alle "Monisten" unterschreiben, hatte er bei Driesch gelesen, nicht bei La Mettrie. Auf diesen kam er erst sehr viel später: "Irgendwann in der Konzeptionszeit von ›Der Augenblick der Liebe‹ ist der Kerl mir untergekommen." (ebd.) (Der Kerl !?) Durch Zufall habe er »L'homme machine« gelesen und gedacht, "der würde gut zu meinem Gottlieb Zürn passen." (Die Welt, 12.7.) Walser will sich offenbar nicht in die Werkstatt schauen lassen, denn es muss zweifellos der »Anti-Seneca« gewesen sein, der seine Begeisterung für La Mettrie entfachte.

Die Figur des Gottlieb Zürn gibt es bei Walser schon länger: er trat erstmals 1980 in »Das Schwanenhaus« und dann 1988 in »Jagd« auf. Ein drittes Buch mit dem inzwischen in die Jahre gekommenen Zürn schwebte Walser seit langem vor. Die Initialzündung für die schliessliche Ausführung seines Plans war dann aber seine Entdeckung La Mettries ungefähr Mitte 2003, bzw. fiktionalisiert: die durch das Internet beförderte Entdeckung, dass sein Gottlieb Zürn vor fünfzehn Jahren -- unter Pseudonym, sozusagen hinter Walsers Rücken -- zwei wissenschaftliche Aufsätze über La Mettrie publiziert hatte: »Alles eins« und »Vor Rousseau war La Mettrie«. Walser empfand La Mettrie -- für Zürn, für sich -- sofort als eine grossartige "Befreiungsenergie", wie er in mehreren Interviews sagt. Im Buch ist das kaum zu übersehen: "Er ist wie ein chemisches Element, das durch alle Zellen des Romans spürbar wird." (Focus, 19.7.) Für Walser ist La Mettrie "der natürlichste aller Denker", "ein Genie der Lebendigkeit" (ebd.), "ein grosser Befreier", "ein Genie der Sinnlichkeit". (Welt am Sonntag, 18.7.)

Weil La Mettrie im Roman atmosphärisch, aber auch namentlich, allgegenwärtig ist, lässt sich schwer zusammenfassen, woraus sich Walsers Enthusiasmus für La Mettrie in erster Linie speist. Aber Walser gibt insofern eine gute Hilfe, als er Zürn auf einem Kongress einen wissenschaftlichen Vortrag über La Mettrie halten lässt, der in voller Länge abgedruckt ist. (S. 114-131) Im ersten Teil des Vortrags knüpft Zürn an seinen Aufsatz »Alles eins« an und bekräftigt, dass La Mettrie mit seiner monistischen Grundauffassung ja "nicht der erste und nicht der letzte" war. Er nennt als Beispiele Spinoza als Vorgänger und Manfred Eigen ("Selbstorganisationsfähigkeit der Materie") als Vertreter der modernen Naturforschung. Indem er dabei La Mettrie als "Moralist der höheren Art" hervorhebt, dessen Ziel es sei, "die menschliche Gattung von Schuldgefühlen zu befreien", weist er auf den zweiten Teil seines Vortrags. Hier macht Zürn das zum Thema, worin seiner Meinung nach La Mettrie "nicht übertroffen werden kann": "Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen." Von seinem alten Aufsatz »Vor Rousseau war La Mettrie«, dessen Inhalt wir nur aus dem Titel erschliessen können, scheint Zürn sich jetzt stillschweigend zu distanzieren. Denn während Rousseau als höchstes Erziehungsziel die Einpflanzung eines Über-Ichs in den Zögling sieht (damit er danach -- in seiner Einbildung -- aus "eigenem Willen" das will, was er nach Auffassung des Erziehers soll), erkannte La Mettrie eben darin das Erzübel der Menschheit.

Zürn meint nun, jene Ausbildung zum Gefangenen "des Guten ... des jeweiligen Guten ... des herrschenden Guten" mache den Menschen zu "einem, der von keiner angebotenen Freiheit Gebrauch machen kann." (129) Aber woher kommt dann das viele Böse in der Welt, das alle Moralphilosophen umtreibt, wenn nicht vom Gebrauch der "Freiheit", es zu tun ? Indem Zürn diese zentrale Frage ignoriert und La Mettrie stets nur als grossen "Befreier", als "mozartischen Kettenzerbrecher", als denjenigen feiert, "der die Ketten des Vorurteils und der Schuldgefühle zerbrach", (128 ff) macht er diskursiv nicht klar, was er deutlich empfindet: die Singularität La Mettries als, wie er sich ausdrückt, Moralist der höheren Art.

Nachdem Zürn La Mettrie in seinem Vortrag vor La-Mettrie-Experten als Befreier vom Schuldgefühl präsentiert hatte, bekam er es mit einer bezeichnenden Reaktion zu tun (wobei es kaum eine Rolle spielt, dass sie von Amerikanern kam; von Deutschen wäre sie auch zu erwarten): Man bezichtigte ihn, er versuche, mittels La Mettrie "den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln". (168) Der überraschte Zürn wies, freilich mit äusserster Vorsicht, die ihm unterstellte Absicht zurück. Er zeigte immerhin aber auch (implizit) die Borniertheit derer auf, die als vermeintliche Kenner La Mettries einen solchen Vorwurf erhoben hatten: La Mettrie hätte, erwiderte Zürn, falls er mit dem Problem des "Völkermords" konfrontiert worden wäre, "in seiner furchtbaren Nüchternheit, in der Beschreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf anders geschrieben." (170) La Mettrie habe "erschreckend sachlich" nach dem Nutzen des Über-Ichs, der remords,  der Schuldgefühle gefragt. "Sie nützen nichts. Sie verhindern nichts." (169) An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass Zürn seinem verehrten "Patron" nicht bis zu jener Konsequenz folgt, worin dieser, wie Zürn richtig ahnt, "nicht übertroffen werden kann." (127) Zürn sagt nicht, was die Quintessenz aus La Mettries Lehre ist: dass sie nicht nur nichts nützen, sondern, dass sie schaden, und zwar nicht nur, indem sie "Genuss ohne Reue" verhindern, sondern vor allem durch den Vorgang der frühkindlichen Etablierung ihrer Grundlage, des Über-Ichs; denn damit verbunden sind psycho-physiologische Veränderungen des Organismus, die wiederum erst Ursache vieler jener "bösen" Regungen sind, deren späteres Ausleben durch remords meist nicht verhindert wird. Mit dieser Prozedur geht La Mettrie zufolge eine Schädigung der Fähigkeit bzw. »Kunst, Wollust zu empfinden« einher. Hier zeigt sich auch deutlich der Gegensatz zur Anthropologie Sades: La Mettries Wollüstiger und Sades Wüstling sind Antipoden. (Vgl. dazu: Bernd A. Laska: Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie).

Diese fundamentale Kritik an Zürn möchte ich sogleich relativieren, nicht aus Gründen, die in der Sache liegen, sondern angesichts der Behandlung La Mettries durch die Fachwelt. Sowohl in der Literatur zu La Mettrie als auch auf der realen La-Mettrie-Tagung, die Walser mit realen Teilnehmern in den Roman eingearbeitet hat, (76) wurde La Mettries originärer Beitrag zur Aufklärung, seine théorie des remords,  wenn nicht ignoriert, so doch bagatellisiert, so als sei sie längst durch psychologische Erkenntnisse überholt, abzuhaken als, wie oben zitiert, "entwicklungspsychologisch undifferenziert". Zürn aber, und in dieser Frage wohl auch Walser, vertraut -- gegen eine Welt von Experten, die bekanntlich "auf den Schultern von Riesen" (hier: von Diderot bis Freud) stehen -- auf seine Intuition und insistiert darauf, dass La Mettrie nicht nur nicht überholt, sondern nach wie vor subversiv ist. Sein Vortrag wäre allein deshalb, ungeachtet seiner Schwächen, das Glanzstück der realen La-Mettrie-Tagung gewesen.

Natürlich wäre es unrealistisch, von der Romanfigur Gottlieb Zürn, einem Ex-Immobilienmakler, Hausmann und Hobbyphilosophen mit einer Walser-Lesern bekannten, unspektakulären Vergangenheit, die Durcharbeitung eines philosophischen und psychologischen Problems höchsten Ranges zu erwarten, eines Problems, dem in der Realität, von der französischen Aufklärung bis zu den oben erwähnten "heroischen Zeiten der Freudschule", stets ausgewichen wurde, und das heute mehr denn je von überbordender Textproduktion der akademischen Philosophen "verdrängt" ist. Es bleibt nun abzuwarten, ob Walsers Impuls wenigstens bei einigen von ihnen etwas bewirkt.

Walser erlaubte seinem mit ihm alt gewordenen Gottlieb mit dem Treibsatz La Mettrie einen völlig unerwarteten Höhenflug; und er lässt ihn zum Ende wieder sanft auf dem Boden seiner "kleinbürgerlichen" Existenz landen: eine Fussnote La Mettries studierend, in der dieser den religiösen Denker Blaise Pascal als einen von Wahnvorstellungen Gepeinigten vorführt, stellte Zürn verwundert fest, "dass Pascal ihn in diesem Augenblick ganz und gar wegzog von La Mettrie." (253) Ein drastischer Rückfall. Das freilich hatte schon La Mettrie erkannt: "Man entledigt sich nicht auf blosse Lektüre hin jener Prinzipien, die einem so selbstverständlich sind, dass man sie für natürliche hält." (PP, 21) Befreiung vom Über-Ich gelingt selten. Deshalb liegt alle Hoffnung in der Prävention. -- Ob Walsers eigenes Verständnis La Mettries mit dem des Gottlieb Zürn identisch ist, muss dahingestellt bleiben, ist aber auch unerheblich. Ein Roman ist zudem kein philosophischer Traktat. Auf jeden Fall ist es Walser gelungen, ein philosophisches Thema, dessen hohe aktuelle Relevanz äusserst schwer auch nur zu charakterisieren ist, so aufzubereiten, dass es, wie Ulrich Greiner in der ZEIT (21.7.) resümiert, "zum Widerspruch und zum Nachdenken reizt, das macht ihm keiner nach."


* Abkürzungen:

MM: Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch als Maschine. Nürnberg: LSR-Verlag 1985
AS: ders.: Das höchste Gut oder Über das Glück ("Anti-Seneca"). Nürnberg: LSR-Verlag 1985
PP: ders.: Philosophie und Politik. Nürnberg: LSR-Verlag 1987
KW: ders.: Die Kunst, Wollust zu empfinden. Nürnberg: LSR-Verlag 1987
UPJ: Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. München: Hanser 1998

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