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Missglückte Repatriierung (La Mettrie)
Zu Fayards Edition von La Mettries »Œuvres philosophiques«

Dokumentation und Anmerkungen
zum Buch »Pornosophie und Imachination«
von Michael Pfister und Stefan Zweifel

 

Missglückte Repatriierung
(Lamettrie)

Zu Fayards Edition von La Mettries »Œuvres philosophiques«

von Bernd A. Laska


La Mettrie - Rapatriement raté
À propos l'édition Fayard des »Œuvres philosophiques« de La Mettrie

Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) nimmt unter den französischen Aufklärern eine Sonderstellung ein, die sich auch in der Editionsgeschichte seiner Werke spiegelt. Als normal zu jener Zeit kann gelten, dass seine Schriften meist ausserhalb Frankreichs, in Holland und Preussen, erscheinen mussten. Ein Sonderfall wurde La Mettrie, weil er nicht nur von den Mächten des ancien régime  verfolgt wurde, sondern weil ihn die anderen Aufklärer in seltener Einmütigkeit mit Schweigen und Verachtung übergingen. So wurde La Mettrie, trotz mehrerer Auflagen, die seine »Œuvres« noch im 18. Jahrhundert erreichten, zunächst zur Unperson und bald zum Vergessenen.

La Mettrie, der in seinem preussischen Exil am Hofe Friedrichs II starb, ist bis heute nicht in sein Vaterland zurückgekehrt. In Frankreich hat man ihn als Philosophen noch kaum zur Kenntnis genommen. In seinem Exilland indes wurde er zweimal wiederentdeckt. Friedrich Albert Lange sah 1866 in ihm "einen der geschmähtesten Namen der Literaturgeschichte", den er in seiner berühmten »Geschichte des Materialismus« zu rehabilitieren versuchte. Langes Bemühungen blieben letztlich vergeblich, wohl deshalb, weil er den Gründen, die die Aufklärer für die Ächtung La Mettries hatten, nicht genug nachgegangen war. Erst Panajotis Kondylis unternahm es 1981 in seiner grossen Studie über die Aufklärung, diese Gründe genauer zu bestimmen, und erst damit wurde La Mettrie wieder zu einer interessanten Figur [vgl. dazu Kondylis -- unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts], zumindest hierzulande: 1985-87 erschienen seine wichtigsten Schriften in deutscher Übersetzung.


Als vor einigen Jahren [Mitte der 80er Jahre] das renommierte Pariser Verlagshaus Fayard ankündigte, innerhalb seines Corpus des œuvres de philosophie en langue française,  eines verlegerischen Jahrhundertprojekts unter der Leitung von Michel Serres, das auf über 600 Werke angelegt ist, auch La Mettries philosophische Werke [erstmals seit dem 18. Jhdt.] neu zu edieren, hätte dies ein Zeichen für die seit langem überfällige Repatriierung des Philosophen sein können. Die jetzt vorliegenden Bände enttäuschen jedoch eine solche Erwartung gründlich; sie zeigen vielmehr, dass man in Frankreich La Mettrie noch immer nicht kennt und ihn nur routinemässig in den Corpus  mit aufgenommen hat.

Eine mit weniger Kompetenz gestaltete Edition von La Mettries »Œuvres philosophiques« lässt sich in der Tat kaum vorstellen. Band I ist schlicht ein Neudruck der Ausgabe von 1751, der einzigen, die noch zu Lebzeiten des Autors erschienen ist. Diese Ausgabe zeichnet sich jedoch nicht durch höhere, sondern durch geringere Authentizität gegenüber späteren aus, und zwar aus einem besonderen Grund: Sie entstand auf Veranlassung von La Mettries Exilherrn Friedrich II, der ihn als wohl einzigen philosophischen Autor zensierte und ausgerechnet sein Hauptwerk, den Discours sur le bonheur, unterdrückte. Die ahnungslose Herausgeberin Francine Markovits nimmt den Discours  (das "corpus delicti" des Philosophen, das der freisinnige König, wie Lessing --beifällig! -- notierte, eigenhändig ins Feuer geworfen hatte) dann zwar zu den "Miszellen" den Bandes II, aber unglücklicherweise in der kürzesten von drei überlieferten Versionen. Doch damit nicht genug: Zur Auffüllung des zweiten Bandes dienten ihr eine rein medizinische Schrift La Mettries (der Arzt war), Traité du vertige,  und zwei anonyme Schriften, die gar nicht von La Mettrie stammen: L'homme plus que machine  und Vénus métaphysique.  Dafür fehlen zwei wichtige Schriften: Ouvrage de Pénélope ou Machiavel en Médecine  ("aus Platzmangel") und Le petit homme à longue queue  (ohne Angabe eines Grundes).

Fazit: Die erste Neuedition von La Mettries »Œuvres philosophiques« seit zwei Jahrhunderten bietet keinerlei Vorzug gegenüber der zur Zeit bestzugänglichen Ausgabe, einem Olms-Reprint des Berliner Drucks von 1774; sie stiftet vielmehr Verwirrung durch die (nicht als solche gekennzeichnete) Aufnahme fremder Texte. Der deutsche Leser indes hat die Möglichkeit, auf eine Werkausgabe zurückzugreifen, die eine Auswahl der wichtigsten Texte, insbesondere auch den Discours sur le bonheur, vollständig und zuverlässig kommentiert enthält.


Julien Offray de La Mettrie: »Œuvres philosophiques«, texte établi par Francine Markovits. Paris: Fayard 1987. Col. Corpus des œuvres de philosophie en langue française. T.1, 388p., 160 FF; T.2, 353p., 150 FF


geschrieben im März 1989 (unveröffentlicht)

Bernd A. Laska: Dokumentation und Anmerkungen zum Buch

Pornosophie und Imachination
Sade - La Mettrie - Hegel

von Michael Pfister und Stefan Zweifel
München: Matthes und Seitz 2002


Dieses Buch ist eine revidierte Fassung der Zürcher Lizentiatsarbeit (Dissertation) der beiden (Co-)Autoren:
»D.A.F. de Sades radikale Rezeption von Julien Offray de La Mettrie« (1996).
Eine Passage, die die Autoren für die Buchfassung gestrichen haben, wird wegen ihres Bezugs zum LSR-Projekt hier dokumentiert.


Im Buch S. 27 und in der Diss. S. 22 beginnt ein Abschnitt wie folgt:

Die Frage nach Gemeinsamkeiten und/oder Differenzen zwischen "einem der grössten Materialisten aller Zeiten" (Max Horkheimer über La Mettrie) und dem "Vollender des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts" (Arno Baruzzi über Sade)...

Der Satz wird im Buch wie folgt weitergeführt:

...hat zu einer Patt-Situation geführt, die durch die Beiziehung einer weiteren Figur (Diderot) noch komplexer wird.

Es folgen im Buch 8 Seiten Text, die in das zeitgeistkonforme Fazit münden:

Das Patt der akademischen Diskussion um den Platz, welchen man La Mettrie und Sade im "Geisteskampf" des 18. Jahrhunderts zuweisen soll, lässt sich fruchtbar nur überwinden in Richtung auf einen poetischen Surmoralismus, der die individuelle Revolte und die vielgestaltigen Imachinationen der Wunschmaschine im Sinne von Duchamp und Deleuze/Guattari , von Jarry und Breton als hirnbrünstige Vorwegnahme künstlerischer Freiheiten des 20. Jahrhunderts begreift.

* * * * * * *

Ursprünglich, in der Dissertation, führte jener erste Satz zur Darstellung einer als "hochbrisant" bezeichneten Kontroverse, die incl. ihrer Protagonisten im Buch ersatzlos getilgt ist:

...hat sich in jüngster Zeit jedoch am brisantesten in einer Opposition gestellt, an deren Polen sich zwei deutsche Autoren gegenüberstehen.

Gemeint sind Panajotis Kondylis als Autor des Buches »Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus« und Bernd A. Laska als Herausgeber der deutschen 4-bändigen Ausgabe von Werken La Mettries und Verfasser umfänglicher Einleitungstexte - zwei im übrigen dezidiert "ausserakademische" Autoren.
Pfister/Zweifel fahren wie folgt fort:

1981 hat Panajotis KONDYLIS in seiner grossangelegten Philosophiegeschichte der Aufklärung Sade und La Mettrie ins selbe Boot gesetzt, will sagen ins Kapitel 3 »Die Konsequenten« des Abschnittes VII »Formen des Nihilismus in der Aufklärung«. Kondylis sieht La Mettrie und Sade als ein duo infernale,  das sich vom Hauptharst der französischen Aufklärer in ganz wesentlichen Punkten unterscheidet, namentlich in der Konsequenz, mit der sie aufklärerischen Grundhaltungen bis in ihre nihilistischen Auswirkungen die Treue halten. Kondylis geht von einem recht materialistischen Nihilismus-Verständnis aus, indem er den Nihilismus als den Versuch definiert, "die Rehabilitation der Sinnlichkeit restlos und wertfrei durchzuführen." [S. 490] Der nihilistische Standpunkt geniesst in Kondylis' Augen eindeutig theoretische Überlegenheit, da er die Differenz von Sein und Schein vermeidet. Das Verhältnis des Nihilismus zur Aufklärung sieht er im Zeichen der Ambivalenz: "Der Nihilismus teilt also und gleichzeitig führt er ad extremum die aufklärerische Rehabilitation der Sinnlichkeit (in dieser Hinsicht ist er von der Aufklärung als Ganzem nicht wegzudenken), während er andererseits die Verflechtung von Natur und Norm verwirft (in dieser Hinsicht stellt er sich der in der Aufklärung einflussreichsten Tendenz entgegen)..." [ib.]

[...folgt eine längere Passage über die Priorität Lester G. Crockers vor Kondylis...]

Für Kondylis steht die enge Verwandtschaft zwischen Sade und La Mettrie ausser Frage: "Im 'célèbre La Mettrie' er erkennt er (d.i. Sade, mp/sz) immerhin - und zu Recht - einen geistigen Vater." [S. 509f]
[. . .]
Gegen diese Einordnung La Mettries durch Kondylis erhob wenig später ein Autor Einspruch, der es sich zur Aufgabe machte, den verkannten Aussenseiter-Philosophen La Mettrie zu rehabilitieren. Die LSR-Reihe von Bernd A. LASKA hatte Mitte der achtziger Jahre zum Ziel, drei "geistigen Parias" zu Ansehen zu verhelfen, die als "Unpersonen" im Schatten dreier so verschiedener "Materialisten" wie Diderot, Marx und Freud standen, nämlich La Mettrie, Max Stirner und Wilhelm Reich.

[---vgl. hierzu von Bernd A. Laska:
Bernd A. Laska: Panajotis Kondylis als unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts
Erste Ankündigung des LSR-Projekts (1985)
Übersicht zum LSR-Projekt
Die von den Autoren nachfolgend gebrauchten Kürzel beziehen sich auf folgende, hier verfügbare Texte:
HM-L = Einleitung »Der Mensch als Maschine«
DB-L = Einleitung »Über das Glück«
AJ-L = Einleitung »Die Kunst, Wollust zu empfinden«
Die Seitenzahlen sind mit römischen Ziffern bezeichnet ---]

Laska begrüsst einerseits Kondylis' Erkenntnis, "dass La Mettries philosophische Position (...) Schlüssel für ein neues Verständnis der gesamten Aufklärungsphilosophie bis einschliesslich Kant sein kann." (DB-L, S. V) Hingegen empört er sich darüber, dass Kondylis über die von ihm durchaus festgestellten normativistischen Tendenzen Sades hinwegsieht. Er geisselt Kondylis wegen seiner angeblich "unpassenden Kopplung" La Mettries und Sades, die in Laskas Augen "Ausdruck einer verkürzten Rezeption La Mettries" (HM-L, S. XXIV) darstellt, und weil er die Neubestimmung der Bedeutung La Mettries als eines Philosophen durch die "gewaltsame Verquickung der Positionen La Mettries und Sades erschwert". Laska geht es um einen Ausweg aus der Zwickmühle, in der sich die normativistische Aufklärung befindet, und da stösst es ihm sauer auf, wenn die Koppelung Sade-LaMettrie nicht nur von der theologischen Moralphilosophie [Baruzzi] vertreten wird, sondern auch von angestammten Verfechtern der Aufklärung wie der normativistisch-aufklärerischen Position Horkheimers und der wertfrei-aufklärerischen Position Kondylis': "Der Absage, die die Theologen der Aufklärung schon immer erteilten, haben sich die avanciertesten Vertreter aufklärerischen Denkens so oder so angeschlossen. Auffälliges Symbol dieser auf den ersten Blick seltsam anmutenden 'Dreieinigkeit' ist die Figur des Marquis de Sade." (DB-L, S. XXI)
Insbesondere Kondylis wirft Laska vor, er verkenne bei La Mettrie "eine entscheidende Qualität seines Denkens (...) die post- oder transnihilistische, wie man sie nennen könnte." (HM-L, S. XXIV), weil er als Vertreter eines "deskriptiven Dezisionismus" der nicht-nihilistischen Aufklärung pauschal das Vertrauen aufkünde: "Kondylis, der ausdrücklich eine 'streng deskriptive Theorie' anstrebt, nimmt jene Tendenzen La Mettries, die über den Nihilismus hinausweisen, ohne 'präskriptiv' oder 'normativistisch' zu sein, überhaupt nicht wahr, weil er sie logisch nicht für möglich hält." (HM-L, S. XXV) Zudem suggeriert Laska, dass Kondylis' Skepsis gegenüber einer mit verbindlichen Werten verbundenen Aufklärung nicht mehr "zwingend bleibt, wenn bei einer Kritik des Normativismus statt Sade La Mettrie die Schlüsselrolle zugewiesen bekäme." (DB-L, S. XXIV)
Dabei gesteht Laska ein, dass er "auf die Präsentation der dokumentarischen und argumentativen Begründung meiner Thesen weitgehend verzichtet" und dieselben "in einer eher deiktisch zu nennenden Diktion" vorträgt. (DB-L, S. XXIV) Laska führt also keine Überprüfung bzw. Widerlegung der von Kondylis formulierten These an Hand der Texte Sades und La Mettries durch, sondern beschränkt sich darauf, die Gegenthese zu äussern, "dass nicht die Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen La Mettrie und Sade, sondern die Freilegung ihrer Gegensätze zu der eingangs genannten 'Aufklärung über die Aufklärung' zu führen vermag." (DB-L, S. XIX) Dabei impliziert er, dass sich Sade und La Mettrie vor allem in ihren anthropologischen Voraussetzungen, namentlich aber auch in ihrer Lust-Konzeption grundsätzlich unterscheiden: "Kein Werk La Mettries ist aber wohl besser geeignet als das folgende (d.i. L'art de jouir, mp/sz), zu zeigen, dass La Mettrie - in seinen Auffassungen über Ursprung und Wesen der Wollust, die im Zentrum seiner Philosophie stehen - tatsächlich Sades Antipode ist." (AJ-L, S. XV)
Für Laska scheint es ausser Frage zu stehen, dass es sich bei La Mettrie nicht nur um einen "Postnihilisten", sondern auch um einen von der Macht der Erziehung überzeugten, humanistischen [?] Philosophen und "Metaphilosophen" (HM-L. S. XXXIV) handelt. Dabei ist es zumindest fragwürdig, dass er Kondylis vorwirft, La Mettries Ironie zu verkennen, indem er dessen Satz, "wonach die Menschen von Natur aus böse seien und es ohne die Erziehung nur wenig Gute gäbe (...) in seinem Nominalwert" (HM-L, S. XXIX) nehme, während Laska selber offenbar ohne weiteres davon ausgeht, dass gewisse, im Homme machine  geäusserte, anderswo aber in ihr Gegenteil verkehrte Aussagen La Mettries etwa über Erziehung und "loi naturelle" eins zu eins zu lesen seien.

Allenthalben - am prominentesten und interessantesten von Panajotis Kondylis - wird auf Gemeinsamkeiten zwischen Sade und La Mettrie hingewiesen, andererseits aber wird - in durchaus unterschiedlicher Weise - Wert darauf gelegt, die beiden Autoren streng voneinander geschieden zu wissen. Simone de Beauvoir liest und schätzt Sade mit Blick auf dessen "originelle, lebendige Ausführungen", gerade insofern, als er sich von La Mettrie und anderen simplen Materialisten abhebe. Bernd A. Laska hingegen ist geradezu empört über die "Fusion von La Mettrie und Sade" (DB-L, S. XXIV) und beharrt darauf, "dass La Mettrie und Sade, trotz einiger 'Ismen', die sie formal  verbinden mögen, anthropologische Auffassungen vertreten, die inhaltlich  in ihren wesentlichen Bestandteilen konträr sind." (DB-L, S. XXIII) [Hervorhebungen B.A.L.]


Die Rezeption von La Mettrie nach 1985

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