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ein paraphilosophisches Projekt
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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter
"Zum Status der Reich'schen Theorie" (1980)

Vorbemerkungen (1999)
A. Allgemeiner Überblick

B. "Früher" contra "später" Reich
  eine überflüssige Kontroverse
C. Freuds "Kommentar" zu Reich
D. Reichs Krise 1926/27


Erstveröffentlichung: Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 2/80, S. 67-85

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Zum Status der Reich'schen Theorie

B. "Früher" contra "später" Reich
eine überflüssige Kontroverse
(39 kB)

von Bernd A. Laska

I.

"Reich, Wilhelm ... strebte e. Verbindg. zw. psychoanalytischen u. marxistischen Gedanken an (...)" (1) heisst es in einem typischen Lexikoneintrag über Reich. Reich gilt -- sieht man von den Wenigen ab, die sich für seine Orgonomie interessieren und ihn unter die Parawissenschaftler zählen -- allgemein als marxistischer Psychoanalytiker. Doch im Urteil jener, die auf diesem Gebiet tonangebend sind, hat er dort nur den Rang eines Dilettanten. In der kenntnisreichsten Erörterung von Reichs freudo-marxistischer Theorie, die mir bekannt ist, vertritt Helmut Dahmer, der der Kritischen Theorie nahesteht, die Auffassung, dass Reich sowohl Freud als auch Marx gründlich missverstanden habe. (2) Dass der Gesellschaftstheoretiker Reich nicht nur unzureichend, sondern schlechthin falsch eingeordnet wird, wenn man ihn als marxistischen Psychoanalytiker bezeichnet, darin möchte ich Dahmer zustimmen. Allerdings verbinde ich damit nicht, wie er, eine Abqualifikation; im Gegenteil: Reich hat m.E. Marx und Freud hinter sich gelassen.

Dennoch verdanken wir es paradoxerweise gerade der gängigen Fehletikettierung Reichs als eben jener marxistischer Psychoanalytiker, als der er sich bekanntermassen kurzzeitig versucht hatte, bzw. seinen um das Jahr 1930 herum entstandenen politisch-psychologischen Schriften, dass er Ende der 60er Jahre von der politischen Studentenbewegung überhaupt entdeckt und dem fast völligen Vergessen entrissen wurde; dass im Kielwasser der oberflächlichen Rezeption dieser Ar-

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beiten auch viele seiner anderen Schriften bekannt und leichter zugänglich wurden; dass Biographisches und Sekundäres publiziert wurde. Mehr oder weniger ratlos stehen seitdem viele derer, die überhaupt genügend Interesse für Reich aufbringen, vor dem sog. Bruch in Reichs Entwicklung, der in die Zeit um 1933 datiert wird.

In die Jahre 1933 und 1934 fallen in der Tat einige markante Ereignisse in Reichs Leben: Trennung von seiner Familie, Emigration, Ausschlüsse aus Kommunistischer Partei (KPD) und Psychoanalytiker-Vereinigung (IPV), Beginn seiner in einem engeren und geläufigen Sinne naturwissenschaftlichen Arbeiten (er selbst sah auch seine psychologischen Arbeiten als naturwissenschaftliche, wie ja ührigens auch Freud die seinen).

Es hat sich, vor allem wegen der schrittweisen Korrektur seiner gesellschaftstheoretischen Auffassung angesichts der Erfolge von Faschismus und Stalinismus, später eingebürgert, in diese Jahre eine Trennung zu legen und von einem "frühen" und einem "späten" Reich -- beide miteinander ziemlich inkompatibel -- zu sprechen. Entsprechend gab und gibt es unter den Reich-Anhängern, grob klassifiziert, auch zwei Gruppen, von denen natürlich jede behauptet, die wahre Lehre zu vertreten. Für die Anhänger des späten Reich war sein Freudo-Marxismus eine Art Jugendsünde oder auch notwendige Entwicklungsstufe, während jene, die dem frühen Reich den Vorzug geben, in der Orgonomie und in Reichs späteren gesellschaftstheoretischen Auffassungen das Ergebnis von Resignation oder Psychose sehen. In beiden Gruppen liessen sich noch Untergruppen differenzieren, je nach dem Grad, in dem sie den jeweils "anderen" Reich ablehnen, verdrängen, herunterspielen usw. Eine Analyse der Anhängerschaft bzw. ihrer Aktivitäten gehört zweifellos auch zu Überlegungen über eine Statusbestimmung der Reich'schen Theorie und soll zu einem späteren Zeitpunkt versucht werden.

In dieser Arbeit teile ich einige Überlegungen mit, die darauf hinauslaufen, dass man es sich zu leicht

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macht, wenn man in althergebrachter Weise einen "progressiven" von einem "konservativen" Reich abspaltet; dass man gerade das, was den Gesellschaftstheoretiker Reich über Marx und Freud stellt, damit unterschlägt. Auf diesem ideologischen Niveau liegt ja -- leider -- letztlich der Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Reichianer: eine wahrhaft paradoxe Erscheinung bei den Anhängern eines Mannes, der so viel dazu beigetragen hat, gerade den Unsinn der Frontstellung progressiv/konservativ aufzuklären.

II.

Das Schema vom progressiven frühen und konservativen späten Reich versucht, Reich mit traditionellen Begriffen zu erfassen, mit Begriffen, deren inhaltliche Unbestimmtheit, bzw. deren beliebige Verwendbarkeit heute mehr und mehr zu Verunsicherung und Nachdenken führt. Umgekehrt wäre zu verfahren: Mit Hilfe Reich'scher Erkenntnisse könnte man bestimmen, was zu bewahren und in welche Richtung der Fortschritt zu steuern sei.

Die -- positive wie negative -- Fixiertheit vieler Reichianer auf dieses eigentlich vor-Reich'sche Schema hängt eng zusammen mit einer schon verdächtig langlebigen Auffassung, die meines Wissens noch nie in Frage gestellt oder überhaupt thematisiert worden ist. Diese Auffassung besteht darin, dass man glaubt, Reich habe sich vor seiner marxistischen Zeit kaum, auf jeden Fall aber nur unbedeutende Gedanken zu gesellschaftlichen Problemen gemacht.

Ilse Ollendorff, die Reich erst 1939 kennengelernt und wenig über den jungen Reich erfahren hat, bestärkt diese Auffassung in ihrer Reich-Biographie, wenn sie bemerkt: "Ich habe das Gefühl, dass zu dieser Zeit sein soziales Gewissen noch nicht besonders entwickelt war, und dass er den Krieg einfach hinnahm, ohne sich viel um Recht oder Unrecht zu kümmern. Er war zu dieser Zeit keinesfalls ein Rebell." (3)

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Bedenkt man die aussergewöhnliche Frühreife Reichs, von der wir auch schon aus den wenigen Seiten, die Ilse Ollendorff über den jungen Reich schreibt, erfahren, so scheint ihre zitierte Einschätzung zumindest zweifelhaft. Damit soll nicht gesagt sein, Reich habe doch ein "soziales Gewissen" gehabt, sei doch "rebellisch" gewesen; es geht mir hier nicht um eine Art moralische Ehrenrettung. Ich meine jedoch, dass es schon heute, trotz der leidigen Nachlasssituation, genügend Quellen gibt, aus denen zu erschliessen ist, dass Reich sich sogar sehr früh mit gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt hat, und zwar auf einem Niveau, das Begriffe wie "soziales Gewissen" u.ä. unter sich lässt.

Aber auch eine intellektuelle Rehabilitation des vormarxistischen Reich ist nicht mein Hauptanliegen in dieser Arbeit. Es geht mir nicht primär um den ja längst verstorbenen Wilhelm Reich, sondern um jene, die heute aus seinem Werk lernen wollen. Deren Augenmerk möchte ich auf den wirklichen frühen Reich lenken, und zwar, weil ich meine, dass es dadurch möglich wird, das gesamte Werk in seiner Kontinuität zu sehen -- ohne einen Bruch um 1933 --, es tiefer zu verstehen und mehr Nutzen für die heutige Situation aus ihm zu ziehen.

Was gemeinhin als früher Reich gilt, das ist, man bedenke, Reich im Alter von 30 bis 35 Jahren, ein Alter, das bei dem frühreifen Mann eher als mittleres zu bezeichnen wäre. Vor allem wohl die aktuelle politische Situation jener Zeit, der zwanziger Jahre, die zur Tat rief, hatte Reich damals dazu gebracht, ein paar Jahre zu glauben, durch den Marxismus sei der Sozialismus -- ein ebenso schillernder Begriff wie progressiv -- tatsächlich, wie er von sich behauptet, "von der Utopie zur Wissenschaft" befördert worden.

Wie Reich zuvor, also wohlgemerkt bis zum Alter von etwa 30 Jahren, über die soziale Frage gedacht hat, ist wenig bekannt. Es ist auch nicht aus detaillierten

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Schriften zu entnehmen, sondern nur aus den Namen zu erschliessen, die in dieser Zeit eigener Aussage zufolge eine grosse Rolle in seinem Denken gespielt haben. Neben Bergson und später Freud, die mehr seine wissenschaftsbezogenen Vorstellungen beeinflussten, wären da vor allem zu nennen: Max Stirner, Henrik Ibsen, Friedrich Nietzsche und Friedrich Albert Lange.

Für Marxisten sind diese Zeitgenossen von Marx und Engels mehr oder weniger "Ideologen des Kleinbürgertums" -- Anathema; Reich aber schätzte sie auch noch nach seinem marxistischen Intermezzo hoch ein: "Wünschen wir die Wahrheit über soziale Fakten zu erfahren, studieren wir Ibsen oder Nietzsche..." schrieb er 1948. (4) Lange 's "Geschichte des Materialismus" zählte er zeitlebens zu seinen zehn wichtigsten Büchern; und Stirners "Einzigen" nahm er 1953 in die Bibliographie des "Christusmord" auf, obwohl dessen Einfluss, wie auch der der drei anderen Autoren, in den dazwischen liegenden Jahren nur mittelbar in Werk und Lebensgestaltung Reichs sich geltend gemacht hatte.

In die Geschichtsschreibung der Psychoanalyse ist Reich bekanntlich kaum, in die der marxistisch orientierten sozialen Bewegungen ist er (trotz "Sexpol") gar nicht eingegangen. Seine Theorien dieser Zeit, obwohl im Vokabular dieser beiden sich "wissenschaftlich" nennenden Weltanschauungen abgefasst, wurden von ihnen nicht nur nicht akzeptiert, sondern führten zu seinem Ausschluss aus KPD und IPV. Auch späteren Autoren mit historischem Abstand zu den Ereignissen gelang es nicht, genuin Reich'sche Erkenntnisse mit Psychoanalyse und/oder Marxismus zu verschmelzen (vgl. Dahmers erwähnte Arbeit).

Um so verbohrter scheint es mir, wenn unter Reichianern immer wieder ideologische Streitereien geführt werden, die auf beiden Seiten meist getragen werden von der schon erwähnten positiv oder negativ gepolten, auf traditionellen Klischees beruhenden, fixierten

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Fehleinschätzung der Bedeutung der marxistischen Theorie im allgemeinen und Reichs Beziehung zu ihr im besonderen. Man sollte doch mittlerweile so ernüchtert sein, dass man über dieses Thema unverkrampft reden kann. Ernsthafte Meinungsverschiedenheiten über das, was von Marx heute noch brauchbar sei, wären mir allenfalls verständlich, wenn es um die Schlussfolgerungen ginge, die heute aus der 11. Feuerbach-These zu ziehen seien. Und selbst diese müsste im Sinne einer "postreichianischen" Gesellschaftstheorie in einem entscheidenden Sinne umformuliert werden: DIE PHILOSOPHEN HABEN DIE WELT NUR VERSCHIEDEN INTERPRETIERT, ES KOMMT ABER DARAUF AN, SIE (NICHT NUR ZU VERÄNDERN, SONDERN) ZU VERBESSERN.

Genau in dieser positiven Bestimmung, vorsichtiger formuliert: Bestimmbarkeit, der Richtung der Veränderung liegt nämlich der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Reich'scher und Marx'scher Geschichts- und Gesellschaftstheorie. Helmut Dahmer hat dies in seiner anfangs erwähnten Analyse sehr klar erkannt -- im Gegensatz zu denen, die noch immer Marxisten und Reichianer gleichzeitig sein wollen --, war und ist aber blind für den entscheidenden Unterschied zwischen Reich'scher Utopie und frühsozialistischen Utopien, die er in einen Topf wirft. Zur Kritik zitiert er eine prägnante Formulierung Max Horkheimers: "Die Utopie überspringt die Zeit. Aus den Sehnsüchten, die durch eine bestimmte Lage der Gesellschaft bedingt sind und bei einer Veränderung der jeweiligen Gegenwart sich mitverändern, will sie mit in der Gegenwart vorgefundenen Mitteln eine vollendete Gesellschaft errichten: das Schlaraffenland einer zeitbedingten Phantasie." (5)

Für die frühsozialistischen Utopien ist diese Charakterisierung sicher zutreffend. Dahmer und Horkheimer durchschauen jedoch nicht, dass die auf den ersten Blick so cool und wissenschaftlich erscheinende Kritik von Marx und Engels im Grunde nur ideologischer Reflex auf die kritisierte Ideologie war, sie aber keineswegs -- wie es ihr Anspruch ist -- überwand.

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(Der späte Horkheimer, der dies wohl merkte, wuchs jedoch nicht über seinen früheren Standpunkt hinaus, sondern fiel hinter ihn zurück: in eine eher mystizistische Position). Marx glaubte, die Ideologien der Schlaraffenlandkonstrukteure zu überwinden, indem er eine polit-ökonomische Theorie lieferte, nach der eine klassenlose Gesellschaft prognostiziert wurde (und zwar erstmals und "wissenschaftlich"), in die dann doch, nebenbei bemerkt, jeder seine private, den frühsozialistischen nicht fernstehende Utopie hineinprojizieren konnte (natürlich nur insgeheim). Als Motor dieser Entwicklung, als revolutionäres Subjekt, identifizierte Marx die Arbeiterklasse der industriell entwickeltsten Länder usw. usw. ... In der Realität ist dann alles, aber auch alles, ganz anders gekommen als prognostiziert, obwohl man krampfhaft versuchte, im Sinne des ohnehin "gesetzmässigen" Verlaufs nachzuhelfen.

Aber nicht Marx und seinen Gefolgsleuten gilt primär meine Kritik, sondern jenen, speziell jenen Reichianern, die noch heute Marxisten sind. Sie geben zwar meist bereitwillig zu, dass alle marxistisch geführten Revolutionen bisher gescheitert sind, keiner der realen, marxistisch regierten Staaten ihnen fortschrittlich erscheint; sie beharren aber darauf, dass die reine Lehre -- oft auch als "Methode" bezeichnet -- in Ordnung sei und nur immer falsch angewandt oder missbraucht worden sei, ganz so, wie "gute" Christen vom wahren Christentum reden. Sie meinen, dem Marxismus fehle nur Reich'sche Theorie als Ergänzung, was Reich ja selbst eine Zeit lang geglaubt hat. Reich jedoch war fähig, aus der Geschichte zu lernen: er erkannte bald, dass dies hiesse, "einen Elefanten in ein Fuchsloch hineinzwängen zu wollen". (6) Diesen Schritt haben die marxistischen Reichianer nie nachvollziehen können. Sie haben die monumentale Tat Reichs übersehen.

Reich hat sich glücklicherweise nicht zu sehr um die abendländische scholastische Tradition gekümmert. So

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hat ihn das von Marxisten als wissenschaftliche Errungenschaft sehr geschätzte Konzept von der ersten und zweiten Natur des Menschen auch in seiner marxistischen Zeit nicht davon abgehalten, die positive Bestimmbarkeit von Gesundheit im umfassendsten Sinn für möglich zu halten und entscheidende Arbeit auf diesem Gebiet zu leisten. Mit dieser Arbeit -- von ihm oft in Ermangelung eines geeigneteren Adjektivs und als Kontrast zu der üblichen geisteswissenschaftlich geprägten Behandlung des Themas als "naturwissenschaftlich" bezeichnet -- durchhieb Reich den gordischen Knoten, der trotz Marx und Freud allem Theoretisieren über die soziale Frage geblieben war. Mit seinem Konzept der individuellen und sozialen Selbstregulierung -- es impliziert eine soziale Ordnung, in der eine wohldefinierte psychosomatische Gesundheit ihrer Mitglieder gewährleistet ist -- hat Reich prinzipiell sowohl frühsozialistische Utopien als auch den sog. wissenschaftlichen Sozialismus überwunden, natürlich auch alle Varianten des Anarchismus. Allein dieses Konzept ist ein wirklicher Bruch in der mörderischen historischen Kontinuität von etwa sechs Jahrtausenden einer "Kultur", die Reich als solche nicht anerkennen, geschweige denn bewundern, konnte: "Bis jetzt gab es weder Kultur noch Zivilisation. Beide sind gerade dabei, in das gesellschaftliche Leben einzudringen." (7)

Ein "wirklicher Kontinuitätsbruch" ist Reichs Konzept allerdings zunächst nur in der Theorie. Praxis, und letztlich zählt nur sie, ist aus ihr bisher nur wenig hervorgegangen. Das ist freilich ein gravierender Mangel. Er zeigt die ungeheure Schwere des zu lösenden Problems und führt weiter zu der Frage, was denn von der Praxis zu halten sei, zu der konkurrierende progressive Theorien geführt haben, deren Anhängerschaft in Millionen zählt.

Obwohl die Erörterung dieses Themas hier zu weit führen würde, möchte ich doch noch einen Mann zu Worte kommen lassen, der sich in letzter Zeit gerade durch

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Kritik des sog. realen Sozialismus einen Namen gemacht hat. Rudolf Bahro, gegenwärtig einer der Stars der rot-grünen Szene, äusserte sich in einer Kolumne in der diesjährigen Juninummer der Zeitschrift PARDON auf eine für einen Marxisten überraschende Weise: "Die ganze Produktionsmaschine und der institutionelle Überbau, den wir uns zusammen mit ihr geschaffen haben, ist weniger fundamental als unser Genotyp. (...) Der historische Relativismus, dem die menschliche Natur, wie die Natur überhaupt, keine unumstössliche Norm zu setzen scheint, ...erweist sich als unhaltbar. (...) Zurück also zur menschlichen Natur! Von dort aus vorwärts!" Was aber charakterisiert marxistische Theorie mehr, was ist ihr wesentlicher als gerade der historische Relativismus?

Diese knappen und sich auf Wesentliches beschränkenden Bemerkungen über die prinzipielle Unvereinbarkeit von Reich'scher und Marx'scher Gesellschaftstheorie mussten, da dieses Thema meines Wissens so noch nie behandelt wurde, vorausgeschickt werden, um zu begründen, warum die Beschäftigung mit dem wirklichen frühen, dem vormarxistischen Reich ausserordentlich lohnend ist; und zwar lohnend weniger im Sinne der Füllung einer biographischen Lücke, sondern hauptsächlich deshalb, weil m.E. im frühen Reich der Zugang zum Verständnis dessen liegt, was Reichs Gesamtwerk in der menschlichen Geistesgeschichte wahrhaft singulär macht (unabhängig davon, in welchen oder wievielen Details er geirrt haben mag).

III.

Da wir vom frühen Reich nur wenig Hinterlassenes zur Verfügung haben, ist ein Eindringen in seine damalige Gedankenwelt auf eine intensive Beschäftigung mit den Autoren angewiesen, die ihn damals bestimmend beeinflusst haben: Stirner, Ibsen, Nietzsche, Lange. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass solche Beschäftigung durch die folgenden Zeilen nur angeregt, nicht ersetzt, werden kann. (8)

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Obwohl Reich ein Kapitel der 1942er Version von "Die Funktion des Orgasmus" mit "Peer Gynt" überschrieben hatte, wurde der grosse Einfluss, vor allem die inhaltliche Bestimmtheit dieses Einflusses, den Henrik Ibsen (1828-1906) auf ihn in jungen Jahren hatte, erst deutlicher, als eine Arbeit Reichs aus dem Jahre 1920, "Libidokonflikte und Wahngebilde in Ibsens Peer Gynt", 1975 erstmals publiziert wurde. (9)

Besonders aus dem Abschnitt "Ibsen im Peer Gynt" geht hervor, wie intensiv sich Reich mit dem gesamten Werk dieses Dramatikers, aber auch mit dessen Leben und vor allem mit seinen gesellschaftstheoretischen Vorstellungen beschäftigt hat. Reichs Sympathien, das geht aus den wenigen Zeilen hervor, liegen eindeutig bei der individual-anarchistischen Grundlage der Weltanschauung Ibsens: "Ibsen war ein geistiger Revolutionär, ...und als solcher sah er das Heil eben nicht allein in der materiellen Umwälzung. Er strebte der Bewusstheit zu, der Persönlichkeit, der geistigen Einheit im Sinne Stirners. (...) Durch Staatsumwälzungen werden nach seiner Ansicht nur einzelne Freiheiten, nicht die Freiheit gewonnen. Nur diejenige Revolution billigt er, die den Staat ganz beseitigt."

Ibsen, der an den politischen Kämpfen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aktiv beteiligt gewesen war, habe, so vermutet der junge Reich, "schon damals, durch die Revolutionsvorgänge erschüttert, gesehen, was wir heute immer wieder beobachten können: dass die Menschheit in ihrer geistigen Phylogenese noch nicht die Reife des Mannes, der 'er selbst' ist (idealer Führertypus), erlangt hat, wie es einzelnen Individuen in der Ontogenese tausendfach gelang, sie sich also noch auf der infantilen Stufe der Schutzbedürftigkeit, Suggestibilität befindet und, ganz dem einzelnen Kinde entsprechend, Auflehnung und Verlangen nach Unterdrückung die entgegengesetzten Strebungen der infantilen Menschheit ausmachen. So gesehen, heisst sozialistischer Fortschritt (=Erringen der geistigen Individualität, der der Begriff materieller Gemeinschaft immanent ist) Menschwerdung, phylogenetische

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Reifung, Fähigkeit zum Tragen jedes Verantwortungsgefühls, dessen Mangel die Reaktionsbereitschaft der Massen bedingt." (10)

Obwohl Reich sich hier einer konventionellen und missverständlichen Terminologie bedient und seine Vorstellungen offensichtlich noch unausgereift sind, so ist doch schon recht deutlich das Thema erkennbar, das Reichs Werk bis in die fünfziger Jahre hinein bestimmen wird, und zu dessen Ausarbeitung und Bewältigung ihm Psychoanalyse, Marxismus und Naturwissenschaften nur Stationen oder Hilfsmittel sein werden: die theoretische Bestimmung und praktische Herbeiführung des wirklich autonomen Menschen; des "Eigners" seiner selbst bei Stirner; des souveränen Individuums, das die "Reife des Mannes" hat, der "er selbst" ist bei Ibsen; des "Übermenschen" bei Nietzsche -- des "genitalen Charakters" bei Reich, des selbstgesteuerten Individuums in einer selbstgesteuerten Gesellschaft.

Reichs Konzept des genitalen Charakters, obwohl zweifelsohne von den genannten Autoren inspiriert, gehört dennoch nicht in eine solche Aneinanderreihung, denn sie suggeriert Gleichrangigkeit der Konzepte. Mit dem genitalen Charakter als Konzept hat Reich aber eine ganz andere Qualität eingeführt, hat den Sprung von der blossen Intuition des Philosophen oder Dichters in die konkrete Welt geschafft. Deshalb vervollständigte und betonte er stets die naturwissenschaftliche -- nicht bloss psychologische -- Definition der orgastischen Potenz, der wesentlichen Eigenschaft des genitalen Charakters.

Friedrich Nietzsche, dem Freud einst zugestand, seine "Ahnungen und Einsichten (deckten) sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse", (11) schrieb im "Zarathustra" (einem von Reichs "zehn Büchern"): "Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll." (12) Und in der "Fröhlichen Wissenschaft"

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heisst es: "Du sollst der werden, der du bist." Die Vagheit und Unbestimmtheit dieser Formulierungen (die, nebenbei bemerkt, an Slogans der sog. humanistischen Psychologie erinnern), die Mystifikation des "Willens" und andere Merkmale der Philosophie Nietzsches haben es erlaubt, dass man sich bei ihr sehr Unterschiedliches denken kann und dass sie bald von Massen ich-schwacher Philister als ideologischer Hintergrund ihrer destruktiven Exzesse missbraucht werden konnte. (13)

Reichs Konzept vom genitalen Charakter kann zutreffend als Anstrengung gesehen werden, diese inhaltliche Unbestimmtheit, die er wohl auch bei Ibsen und Stirner als entscheidenden Mangel erkannt haben muss, zu beseitigen, ohne die "Wahrheit" der Intuitionen dieser Männer preiszugeben. Mit Hilfe der Psychoanalyse gelangte Reich zum Begriff der orgastischen Potenz, der Essenz seines Werkes. Ihre Definition hatte anfangs fast tautologischen Charakter, bekam aber mit den Jahren immer schärfere Konturen. Sein gesamtes Werk, so sehr es sich auch zu verästeln scheint, diente stets der wissenschaftlichen Fundierung, Absicherung und Präzisierung, dem Kampf um wissenschaftliche Anerkennung der "Funktion des Orgasmus", der für das Leben so zentralen Bedeutung der orgastischen Potenz.

Bei diesem einsamen Kampf, bei dem er kaum Hilfe erhielt, verfuhr er ganz im Sinne Stirners: Er "verbrauchte" die vorgefundenen Theorien und Ideologien. Keine "wissenschaftliche Weltanschauung", keine "objektive" Naturwissenschaft war ihm "heilig" (s.Stirner) genug, als dass er sich ihr unterwarf: "Aus der Vielseitigkeit meiner Sympathien entwickelte sich später der Grundsatz, dass 'jeder irgendwo recht' hätte, man müsste nur erkennen, wo"; (14) dieser von Reich in durchaus schöpferischem Sinne angewandte Eklektizismus war ihm schon um 1920 eigen. (15) Er war nicht Ausdruck eines relativistischen Wahrheitsverständnisses, sondern -- im Gegenteil -- des Empfindens, dass alle vorgefundenen Theorien an einem

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grundsätzlichen Mangel litten, den zu beheben Reich prinzipiell für möglich hielt. Über die Anwendung des Satzes "Jeder hat irgendwo recht" auf sich selbst hat er sich demgemäss nicht geäussert. Logeleien dieser Art hielt er nicht für bedenkenswert. Ihre theoretische Ausweglosigkeit beeindruckte ihn kaum und bremste nicht seine Arbeit. Er vermutete wohl, dass theoretische Probleme solcher Art -- zahlreich und unlösbar wie sie sind -- ihre Basis haben in der Unzulänglichkeit der Struktur einer Sprache, die sich mitsamt ihren Begriffen in den Jahrtausenden ausgebildet hat, denen er wahre Kultur nicht zusprechen konnte.

Vielleicht waren es derartige sprachliche Unzulänglichkeiten, die ihn davon abhielten, je eine systematische Darstellung seiner erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Position zu geben.

Eine von Reichs grossartigsten Feststellungen lautet: "Die sogenannte individuelle Differenzierung der Menschen ist heute im wesentlichen ein Ausdruck überwuchernder, neurotischer Verhaltensweisen." (16) Zu diesen Verhaltensweisen zählen selbstverständlich auch ihre geistig-ideologischen Komponenten, zählen auch intellektuelle Kommunikation und Sprache. Wer je versucht hat, genuin Reich'sche "Philosophie" zu formulieren, wird gemerkt haben, wie sehr solch ein Versuch einer Gratwanderung gleicht, bei der die ihm sprachlich zur Verfügung stehenden Begriffspaare (z.B. tolerant/intolerant, dogmatisch/undogmatisch) die Abhänge darstellen, auf die man nicht geraten darf. Die Begriffspaare fordern ein "entweder/oder", in Geiste Reichs ist jedoch nur ein "weder/noch" möglich. Positiv aber lässt sich mit dem traditionellen Begriffsarsenal kaum formulieren.

Ich möchte nun wieder auf das eigentliche, engere Thema, den frühen Reich, zurückkommen. Als sicher kann gelten, dass er individual-anarchistischen Vorstellungen sehr nahe stand. Aber er hat auch schon früh deren Schwächen erkannt, ihre Beschränkung auf

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die sozusagen geisteswissenschaftliche Ebene, deren fundamentalste Entität bei der hier angesprochenen Frage der sog. Wille ist. Ein Appell an diesen Willen im Sinne des Nietzsche'schen "Du sollst der werden, der du bist!" ist entweder sinnlos oder wirkungslos (und somit auch sinnlos). Die andere Möglichkeit, dass dieser Appell tatsächlich befolgt wird und aufgrund der realen Beschaffenheit der Menschen Konsequenzen hat, die sich der Appellierende nicht vorgestellt hat, ist das Dilemma des Anarchismus.

Wenngleich Reich also mit dem Anarchismus in seiner radikalsten Ausprägung sympathisierte, muss ihn dennoch die marxistische Kritik an ihm beeindruckt haben, obgleich auch sie keine wirkliche Lösung wusste. Beide hatten "irgendwo recht". Als Reich sich Jahre später der marxistischen Bewegung anschloss, stand für ihn eine strategische Überlegung im Vordergrund: "Der Kommunismus erkennt die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als der gesellschaftlichen Form, die von der autoritär und moralisch gelenkten Gesellschaft zu demjenigen Zustand überleitet, den die Anarchisten erstreben." (17) Den Anarchisten warf Reich zur gleichen Zeit vor: "Sie vernachlässigen die hilflose, führungsbedürftige, ja oft autoritätssüchtige Struktur der Masse." (18) Ihre Befürchtungen und Warnungen, der Marxismus führe zwangsläufig zum despotischen Staat, die Reich vielleicht sogar teilte, stellte er angesichts der aktuellen politischen Situation zunächst zurück.

Dass Reich eine "humanistisch" geprägte, durch moralische Zwänge gesteuerte, anarchistische Gesellschaftsutopie als begriffliches Unding verwarf, leuchtet ein: Zwangsregulierung durch Moral (ein seit Jahrtausenden stets scheiterndes Konzept), moralische Wertungen in welcher Verkleidung auch immer sind von Übel, "mögen sie anarchisch oder konservativ sein." (19) Reichs Anarchismus ist konsequent amoralisch wie sonst nur der Max Stirners. Der entscheidende Unterschied zu Stirner ist jedoch, dass er ihn erst für möglich hielt,

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wenn -- auf welchem Wege auch immer entstanden -- zu Selbstregulierung fähige Menschen, genitale Charaktere, in genügender Anzahl existieren würden, denn: "Die charakteranalytische Klinik lehrt, dass der Verzicht auf eine pathogene oder asoziale Triebregung nur dann auf Dauer möglich ist, wenn der sexuelle Haushalt geregelt ist." (20)

Auch bei Stirner ist im Grunde individuelle Selbstregulierung der zentrale Begriff, die Haupteigenschaft seines "Eigners" seiner selbst. Der Unterschied zu Reich ist jedoch gravierend. Der "Wille" des Eigners oder Egoisten waltet "frei" in genau dem traditionellen Sinn des Wortes, der in einer von Herrschaft geprägten Kultur entstanden ist. Die "Triebstruktur" des genitalen Charakters ist nicht in diesem Sinne frei, sondern in einem Sinne, der -- wie oben in anderem Kontext schon darzulegen versucht wurde -- jenseits der traditionellen Alternative "frei/unfrei" liegt. Der Stirner'sche "Wille" ist frei in einem geisteswissenschaftlichen Sinne, er ist letztlich, wie jeder "freie Wille", etwas ausserhalb der Natur. Reichs "naturwissenschaftliche Definition des Wortes Freiheit (...) ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit." (21) Eigentlich ist somit der Begriff Freiheit in der Reich'schen Theorie entbehrlich, er löst sich auf, wird nur noch als Gegenbegriff zu Zwang (von Charakterpanzer und Gesellschaft) gebraucht, solange man weiss, was Zwang ist.

Die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Reichs Konzept der individuellen und sozialen Selbststeuerung scheinen jedenfalls bedeutend näher bei Stirner als bei dessen Zeitgenossen Marx und Engels zu liegen. Auch Stirners Beschreibung des "düpierten Egoisten" zeigt wesentliche Züge des zwangsmoralisch regulierten Menschen. Was Stirner dagegen nicht gelang, ist die Abgrenzung des Eigners, des bewussten Egoisten, vom vulgären Ellenbogen-Egoisten; so dass z.B. ein Mussolini sagen konnte: "Lasst den Weg frei für die Elementarkräfte des Individuums...! Warum sollte Stirner

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nicht wieder zu Aktualität gelangen?" (22)

Die Missverständnisse von Stirners Philosophie, die bei Marx und Engels anfangen (23) und bis heute fortdauern, (24) sind zwar teilweise auf, zudem grossteils zeitbedingte, Unzulänglichkeiten seiner Schriften zurückzuführen; das Haupthindernis einer produktiven Rezeption war und ist aber kein intellektuelles. Das belegt schon das Gegenbeispiel Reichs. Er hat fast hundert Jahre nach Stirner dessen Kernthema wieder aufgegriffen, die dunklen Stellen darin erhellt und sich mit einem moderneren und präziseren begrifflichen Apparat "intersubjektiv" verständlich zu machen versucht. Die Reaktion seiner Umwelt war da, wo man sich nicht freundlicherweise in Missverständnisse flüchtete, ausgesprochen feindselig. Reich: "(ES) HAT KEINE ANDERE STELLE MEINER THEORIE MEINE ARBEIT UND EXISTENZ DERART GEFÄHRDET, WIE GERADE DIE BEHAUPTUNG, DASS SELBSTSTEUERUNG MÖGLICH, NATÜRLICH VORHANDEN UND ALLGEMEIN DURCHFÜHRBAR IST." (25)

Reich: "Die gesunde, durch Selbststeuerung bestimmte Struktur passt sich dem irrationalen Teil der Welt nicht an und setzt ihr natürliches Recht durch. Sie erscheint dem neurotischen Moralisten krank und dissozial, ist jedoch in Wirklichkeit zu dissozialen Handlungen unfähig. Sie entwickelt ein natürliches Selbstbewusstsein, gegründet auf sexueller Potenz. (26) Der Stirner'sche Eigner seiner selbst hat durch Reichs Arbeiten klare Kontur gewonnen, sowohl was seine konkrete Gestalt angeht als auch die gesellschaftlichen Bedingungen für seine Existenz. Stirners fehlende oder ratlose Gesellschaftstheorie -- von Marx und Engels zwar zu Recht kritisiert, aber nicht überwunden -- wurde erst hundert Jahre später möglich: durch Reichs naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Möglichkeit der amoralischen individuellen Selbststeuerung, die mit sozialer Selbststeuerung nicht nur nicht kollidiert, sondern sie zur Bedingung hat -- und umgekehrt. Der herkömmliche Gegensatz zwischen Individualismus und Kollek-

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tivismus würde in einer Gesellschaft selbstgesteuerter Individuen so gegenstandelos werden, wie der Ruf nach Freiheit, Toleranz etc.pp.

Der Konjunktiv des letzten Satzes allerdings reisst uns zurück in die Realität der existierenden menschlichen Gesellschaft, an deren Philistertum noch jede Theorie zerschellt ist, die auf dessen Überwindung abzielte, (27) auch wenn es ihr gelang, die Massen zu ergreifen und damit zur "materiellen Gewalt" zu werden (Marx). Hier sind wir wieder beim entscheidenden Problem der Praxis angelangt. Ein Buch analog Lenins "Was tun?" ist für Reichianer noch zu schreiben; vorerst muss das jeder noch für sich herausfinden.

Ob solche Einsicht als resignativ oder realistisch erlebt wird, hängt von dem ab, der sie für richtig hält. Damit wäre wieder das Rahmenthema angesprochen, die Statusbestimmung der Reich'schen Theorie, deren Vollzug gewiss für den, der sich ernsthaft mit ihr befasst, keine leichte Aufgabe ist: die Zuverlässigkeit aller Autoritäten, an denen man sich normalerweise in gutem Glauben orientiert, z.B. der "Wissenschaft", gerät ins Zwielicht. Und wenn man nicht flugs Reich verwirft oder ihn zu einem Durchschnittstheoretiker erklärt, der "ein paar gute Sachen gesagt" hat, gerät und bleibt man auf unabsehbare Zeit ziemlich auf sich gestellt. Und wer ist man denn schon?

Das in diesem Artikel umkreiste und teilweise direkt berührte Thema, Reichs Sicht der sozialen Frage als untrennbare Einheit von individueller und sozialer Selbstregulierung, ist mit den die Theorie konstituierenden spezialwissenschaftlichen Teilerkenntnissen m.E. der KERN DES REICH'SCHEN WERKES. Reichs Konzept ist zumindest das Fundament für die einzige nichtillusionäre anarchistische Gesellschaftstheorie. An ihm und auf ihm wäre noch viel zu bauen.

Es versteht sich somit von selbst, dass ich der Reich'schen Theorie "politische Relevanz für die Emanzipationsbewegung" zumesse, sogar eine entscheidende.

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Allerdings übersehe ich nicht, dass diese Relevanz im gegenwärtigen Zeitpunkt fast nur eine potentielle ist, aus Gründen, auf die ich nur wenig Einfluss nehmen kann. Diese Situation bedrückt mich persönlich jedoch nicht so, dass ich bereit wäre, die noch rudimentäre Reich'sche Gesellschaftstheorie auf eine Marxismusversion herunterzutransformieren, nur um auf einen Zug zu springen, der ohnehin früher oder später auf totem Gleis stehenbleibt. Statt auf "Stimmenfang" zu gehen, dieser oder jener Gruppe Reich "unterzujubeln" (es wäre ohnehin bloss der Name Reich), kurz: statt das zu betreiben, was man (in Anlehnung an Reichs "Freiheitskrämerei) als Reichkrämerei bezeichnen konnte, halte ich es z.Zt. für sinnvoller, an einer Konsolidierung des ja nur in seinen wesentlichen Grundzügen vorliegenden Konzepts Reichs zu arbeiten. Der Blick auf die Praxis, speziell gesellschaftliche Praxis, sollte nicht zu blindem agitatorischen Aktivismus führen, der um eines falsch verstandenen Erfolges willen gerade das Wesentliche an Reichs Werk verschweigt.

Mit der Entscheidung, seine Erkenntnisse nicht mit den üblichen propagandistischen Methoden an den Mann bringen zu wollen, folgte Reich seinerzeit der Einsicht, dass dies ohnehin der Natur dieser Erkenntnisse wegen ein Unding wäre. Praxis, so fand er ab etwa 1935, könne in seinem Falle nicht politische Praxis im herkömmlichen Sinn sein. Ein Verzicht auf Praxis war das jedoch nicht.


Anmerkungen:

(1) Knaurs Lexikon a-z, München/Zürich 1979, S. 743

(2) Helmut Dahmer: Libido und Gesellschaft, Frankfurt 1973, S. 372ff

(3) Ilse Ollendorff-Reich: Wilhelm Reich, München 1975, S. 26

(4) Wilhelm Reich: Charakteranalyse, Köln 1970, S. 454

(5) zit.n. Dahmer, a.a.O., S. 378 (Fn.)

(6) Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971, S. 30

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(7) Wilhelm Reich: Christusmord, Olten und Freiburg 1978, S. 391

(8) Literaturhinweise:
#Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972 (Reclam-Band 3057-62)
#Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus Bd.I,II, Frankfurt 1974 (Suhrkamp stw 70)
#Friedrich Nietzsche: versch. Ausg.
#Rolf Engert: Henrik Ibsen als Verkünder des Dritten Reiches, Leipzig 1921

(9) in deutsch erstmals in: Wilhelm Reich: Frühe Schriften I, Köln 1977, S. 19 ff

(10) Reich: Frühe Schriften I, a.a.O., S. 68 ff

(11) Sigmund Freud: Selbstdarstellung, Frankfurt 1971ff, (Fischer-TB 6096), S. 87

(12) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, München o.J., (Goldmann-Tb 403), S. 11

(13) gemeint ist der deutsche Nationalsozialismus; dass der "wissenschaftliche Sozialismus" gegen solcherart Missbrauch nicht immun ist, ist heute ebenfalls historische Tatsache.

(14) Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus, Köln 1969, S. 35

(15) Reich: Frühe Schriften I, a.a.O., S. 67

(16) Wilhelm Reich: Die Sexuelle Revolution, Frankfurt 1966, S. 34

(17) Wilhelm Reich: Masse und Staat, Kopenhagen 1935, S. 22

(18) ebd., S. 17

(19) Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus, Leipzig/Wien/Zürich 1927, S. 185

(20) Reich: Die Sexuelle Revolution, a.a.O., S. 45

(21) Reich: Massenpsychologie..., a.a.O., S. 336

(22) zit.n. Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, Köln 1966, S. 6

(23) s. Kap. "Sankt Max" in: Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin/DDR 1978, S. lOl ff

(24) z.B. bei Helms, Anm. (22)

(25) Reich: Funktion..., 1969, S. 162

(26) ebd., S. 159

(27) vgl. "Das Sitzen..." in: Reich, Christusmord, S. 117 ff

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