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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter
"Zum Status der Reich'schen Theorie" (1980)

Vorbemerkungen (1999)
A. Allgemeiner Überblick
B. "Früher" contra "später" Reich
  eine überflüssige Kontroverse

C. Freuds "Kommentar" zu Reich
D. Reichs Krise 1926/27


Erstveröffentlichung: Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/80, S. 114-163

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Zum Status der Reich'schen Theorie

C. Freuds "Kommentar" zu Reich

von Bernd A. Laska

[Freud und Reich -- auf einen Blick]
[Dokumentarischer Anhang]

Einleitende Übersicht

Sigmund Freud hat Wilhelm Reichs psychoanalytische Arbeiten nicht  kommentiert, obwohl:
1) Reich als einziger seiner Schüler sich genau auf die Probleme konzentriert hat, die Freud als die wichtigsten der Psychoanalyse bezeichnet, selbst aber unberührt gelassen hat;
2) Freud seine eigenen, zeitlich mit denen Reichs parallel laufenden Arbeiten als seine schlechtesten eingestuft hat;
3) Freud sich sonst mit abweichenden Schülern stets fair und sachlich auseinanderzusetzen pflegte (Jung, Adler, Stekel, Rank) und seine persönliche Integrität ausser Zweifel steht.
[Anmerkung 2003: vgl. Freuds "Erledigung" eines seiner ersten Schüler, Otto Gross: »Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich«]

Reich und Reichs Thesen sind in Freuds schriftlichen Äusserungen (Werke und Briefwechsel) und in der psychoanalytischen Geschichtsschreibung fast nicht vertreten, aber:
1) dies nicht, weil man sie wegen ihrer Bedeutungslosigkeit übersehen hatte, sondern infolge angestrengten Bemühens.
2) Kaum ein Psychoanalytiker -- auch nicht die, die Reich persönlich kannten -- fand an diesem Vorgehen etwas Verdächtiges, so dass Reichs Werk bis etwa 1968 fast vergessen war.
3) Nach der "Wiederentdeckung" Reichs -- dank eines profunden Missverständnisses seines Werkes durch die Studentenbewegung -- wurde er "aufgearbeitet", freilich folgenlos. Nur noch ein historischer Fall?

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Clever und naiv zugleich hielt man sich beim Aufarbeiten an das "wissenschaftlich Relevante" und konnte so das Auffälligste am Konflikt Freud/Reich übersehen: Die Art, wie er von den Kontrahenten ausgetragen wurde und das Verhalten der in ihn mit Verwickelten. Dass der Konflikt, der ja in einem gesellschaftlichen Umfeld zu sehen ist, überhaupt so verlaufen und enden konnte, scheint schier unfassbar, solange man sich nicht voll im Klaren ist über die kulturerschütternden Implikationen des Themas.

Obwohl die gesellschaftliche Einbettung des Konflikts nie aus dem Blickfeld geraten sollte, muss ich mich hier aus Platzgründen auf die beiden beteiligten Hauptpersonen konzentrieren. Doch auch so reduziert kann die Darstellung nicht erschöpfend sein, sondern sollte durch Lektüre der angegebenen Quellen ergänzt werden. Dann vielleicht erst mag dem Leser klar werden, warum die genauere Beschäftigung mit Freuds Reaktion auf Reichs Herausforderung für mich -- zur Statusbestimmung der Reich'schen Theorie -- von grösserem Gewicht ist als die Sichtung der Meinungen heutiger Freud-Epigonen.

I.

Das Verhältnis der Reich'schen Lehre zur Freud'schen ist ein Thema, das in der neueren Sekundärliteratur zu Reich, teilweise auf recht hohem Niveau, ausgiebiger bearbeitet worden ist als andere Teile seines Werkes. Die Gründe hierfür liegen nahe: Reich arbeitete eineinhalb Jahrzehnte lang innerhalb psychoanalytischer Organisationen und begab sich dann, nach seinem Ausschluss 1934, auf ein Terrain, auf das ihm -- abgesehen von einigen Schülern, die aber nur seine neue Therapietechnik lernen wollten -- keiner mehr folgte (ein Thema für sich übrigens, nicht ohne Bezug zum jetzigen).

Bei solcher Bearbeitung, meist zur Hebung der eigenen Reputation in Fachkreisen durchgeführt, hält

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man sich meist innerhalb eines orthodoxen Rahmens, d.h. einer anerkannten Lehre, zu der man die untersuchte in Beziehung setzt. Im Falle Reich ist man da aufgrund der Entwicklungsgeschichte seines Werkes auf zwei Orthodoxien verwiesen, die, wenngleich nicht unumstritten, einem doch relativ grossen Publikum als "Wissenschaft" gelten und somit geeignet erscheinen, einzeln oder kombiniert die Elle abzugeben, an der das Reich'sche Werk zu messen bzw. zu bewerten ist. Die gründlicheren unter denen, die so vorgingen, kamen zu dem Ergebnis, "dass Reich sich... zu Unrecht auf Marx und auf Freud beruft." (1) Angesichts der forschen Art, mit der jüngere Psychoanalytiker und Kritische Theoretiker Reichs Theorien abfertigen, erstaunt -- darauf sei hier nur hingewiesen -- welche Zurückhaltung die Grossen dieser Zünfte (Freud, Horkheimer, Marcuse, auch Fromm) ihrem Zeitgenossen Reich gegenüber an den Tag legten.

Das Urteil der rezenten Kritiker jedoch trifft weniger Reich, der sich ja nur relativ kurze Zeit ganz auf Marx und Freud berief. Es bereitet nur jenen Reichianern Probleme, die nicht ertragen können, dass Reich (und mit ihm sie selbst) ganz ausserhalb aller Orthodoxien, sozusagen im "unwissenschaftlichen" Bereich verortet wird.

Genau dort allerdings befand sich Reich ab Mitte der dreissiger Jahre, nachdem ihn marxistische und freudistische Organisationen trotz heftiger Gegenwehr ausgestossen hatten. Dies fiel zudem in eine Lebensperiode Reichs, die von einer Reihe von weiteren einschneidenden Ereignissen gekennzeichnet ist. Privat:  Trennung von erster Frau und Kindern, dänisches Exil + Ausweisung, schwedisches Exil + Ausweisung, norwegisches Exil + stets drohende Ausweisung, Emigration nach Amerika und Trennung von zweiter Frau. Politisch:  Triumphzug des Faschismus in Europa und Niedergang in der Sowjetunion, Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. "Beruflich":  die Charakteranalyse führte zur Psychosomatik, das ver-

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langte Klärung verschiedener physiologischer und biologischer Fragen über die Natur der Sexualität, die Reich von den zuständigen Wissenschaften nicht erwarten konnte -- Folge: eigene elektrophysiologische Arbeiten und Bionforschung. Das alles fiel in die Jahre 1934-39.

Aus diesem Strudel von Ereignissen tauchte Reich Anfang 1940 in New York wieder auf: neu verheiratet (mit Ilse Ollendorff); in einem Land, dessen politische Verhältnisse denen in Europa vorzuziehen waren; die Entdeckung der Orgonstrahlung war ihm zudem grosser Durchbruch und gewaltige Zukunftsaufgabe zugleich.

In dieser Situation, den alten Querelen (scheinbar) entronnen, blickte Reich hauptsächlich nach vorn, schrieb aber dennoch ein Buch, das einen Überblick über seine bis dabin geleistete Arbeit geben sollte: »Die Funktion des Orgasmus«, (2) dessen 1. Auflage 1942 in den USA im eigenen Verlag erschien. Denn Reich war der Ansicht, es sei "nützlich, wissenschaftliche Biographien in jungen Jahren zu schreiben. ... Auch ich könnte nachgeben und ableugnen, was in jungen Kampfjahren ehrliche wissenschaftliche Überzeugung war. (FO, 16 f) (3)

Der letzte Satz ist als Affront gegen Freud zu lesen. Aus ihm spricht aber auch die Fehleinschätzung, die Reich seine eigenen Kampfjahre mit denen Freuds vergleichen, ja gleichsetzen lässt. Schon kurz nach dem Höhepunkt der Machenschaften der Psychoanalytiker gegen ihn, hatte Reich Freud entschuldigt: "Niemand weiss besser als wir, niemand erfährt schmerzlicher als wir, weshalb die Welt Freud seinerzeit verdammte und heute der kämpferischen Wirklichkeit entrückt." (4) Obwohl Reich in dem Buch über seinen Konflikt mit der Psychoanalyse schreibt, fällt auf, dass Freud über Gebühr geschont wird. Mehr darüber später.

An dieser Stelle sind ein paar Worte zur Quellenlage angebracht. Material über den Konflikt wurde haupt-

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sächlich von Reich publiziert. Selbst über den Ausschluss Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) auf deren Kongress in Luzern 1934 -- nach des Betroffenen bislang unwidersprochener ausführlicher Schilderung ein Meisterstück verbandspolitischen Intrigantentums -- verzeichnet das Protokoll nur knapp und unwahr einen Satz, den der Freud-Biograph Ernest Jones später einfach übernehmen wird: "An diesem Kongress trat Wilhelm Reich aus der Vereinigung aus." (5) Jones freilich wusste es besser, denn er war lt. Reich einer der aktivsten Intriganten gegen ihn gewesen.

Jones muss sich 1957, als das Buch erschien, sehr sicher gewesen sein, dass seine Abhandlung des Falles Reich weder Proteste noch Argwohn auslösen würde. Denn Reich galt in Kollegenkreisen schon lange als "verrückt". Dieses Gerücht, das um 1934 in Umlauf gesetzt wurde, schien sich für viele Analytiker in den vierziger Jahren dadurch zu bewahrheiten, dass Reichs Veröffentlichungen ihnen immer unverständlicher wurden. So bewältigte man auch den bei einigen möglicherweise verbliebenen unangenehmen Nachgeschmack, den der Reich von vor 1934 hinterlassen hatte.

Aber die Abstempelung zum Verrückten genügte offenbar nicht. Eine Reihe von Analytikern, die ebenfalls in die USA emigriert waren, führten den Kampf gegen Reich auf die gleiche intrigante Art weiter wie zuvor in Europa. Erst als man ihn mit Hilfe der Food and Drug Administration (FDA)  im Gefängnis hatte, war man zufrieden. "Ich weiss, dass ich für den ganzen Stand spreche, wenn ich unseren tiefen Dank für diese gute Arbeit der FDA ausspreche", schrieb Daniel Blain, der Vorsitzende der American Psychiatric Association (APA)  vertraulich an den FDA-Chef. Ähnlich lautende Dankesbriefe kamen auch von der Psychoanalytic Association,  der Atomic Energy Commission  und anderen Verbänden. (6)

Neben dem oben genannten Buch Reichs ist eine zweite Hauptquelle für unser Thema ein Interview, das Reich 1952 für das Sigmund-Freud-Archiv gegeben hat. (RF) (7)

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Dieses Interview -- auch darin auffallend die schonende Behandlung Freuds -- wurde später von Reichs Nachlassverwaltern mit einem dokumentarischen Anhang versehen und gegen den Protest des Freud-Archivs veröffentlicht. (8)

Aber auch das neue Material löste kein Interesse an dem Konflikt, der nun schon Jahrzehnte zurücklag, aus. Die Meinung über Reich war schon zu gefestigt. Zudem war und ist, das mag mancher Psychoanalytiker durch das inzwischen gewucherte Theoriengestrüpp hindurch spüren, die Sache, um die es damals ging, keineswegs erledigt. Wer aber traute sich heute zu, wovor Freud sich zurückzog?

Allenfalls jüngere Analytiker, die genügend theoretisches Interesse haben und die Energie besitzen, sich durch 50 Jahre Literatur hindurchzuarbeiten, kommen per "Ochsentour" in etwa dahin, wohin eine Betrachtungsweise, die diesem Artikel zugrunde liegt, direkt führt.

Der Psychoanalytiker S. O. Hoffmann, Verfasser einer Monographie zur psychoanalytischen Charakterologie, der ersten deutschsprachigen überhaupt, ging diesen Weg und konzediert, dass seinerzeit "es Reich war, von dem die entscheidenden Impulse ausgingen. Bei der Beachtung, die dieser Autor heute wieder erlangt hat, ist kaum noch erinnerlich, dass vor 1968 auch unter Psychoanalytikern sein Name fast vergessen war." (9) Die Naivität Hoffmanns in Bezug auf die Rationalität des wissenschaftlichen Entwicklungsprozesses, die sein Buch charakterisiert, lässt ihn naheliegende Fragen nicht stellen, wie z.B.:
Was sagte Freud zu Reichs Orgasmustheorie und Charakteranalyse?
Warum weigerte sich 1933 der Psychoanalytische Verlag, Reichs »Charakteranalyse« in sein Programm zu nehmen?
Wie geriet Reich in jene Vergessenheit, die "kaum noch erinnerlich ist"?
Gewiss, solche Fragen passen nicht zur Anlage seines Buches. Aber sie werden auch nicht andernorts gestellt.
[1997 erschien das Buch Der "Fall" Reich, in dem u.a. zahlreiche bisher unpublizierte Dokumente ausgewertet wurden.]

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Die Rezeptionsgeschichte der psychoanalytischen Bücher Reichs, so aufschlussreich sie auch für unser Thema ist, kann hier nicht untersucht werden. Die im dokumentarischen Anhang gegebenen Auszüge aus Rezensionen sollen einen Eindruck vermitteln, wie die Bücher bei Erscheinen beurteilt worden sind. Unter den Psychoanalytikern hatte Reich bis 1934 nur einen Rezensenten: Otto Fenichel, der faire und kritische Referate lieferte. Die Anderen warteten diplomatisch ab, bis klar war, was "man" von Reich zu halten hatte. Die wahre Rezeption gelang erst mit Verzögerung und war eine Usurpation: man übernahm stillschweigend, ohne Reichs Priorität zu achten, viele seiner charakteranalytischen Erkenntnisse und entsexualisierte dabei die Theorie.

Bahnbrechend hierbei war Freuds Tochter Anna. Was Erich Fromm (in »Die Furcht vor der Freiheit«) mit Reichs Sozialpsychologie gemacht hat, (10) das tat sie mit Reichs Charakteranalyse, als sie 1936 ihr Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen« herausbrachte, in dem sie, sozusagen programmatisch, feststellte, "...dass im Menschen eine Neigung zur Abweisung bestimmter Triebe, besonders der Sexualtriebe, ...aus phylogenetischer Erbschaft schon von vornherein vorhanden ist." (sic!) (siehe dokumentarischen Anhang)

S. O. Hoffmann hat in seiner sehr gründlichen Studie die Sekundärliteratur zu Reich gesichtet und kam zu dem Ergebnis: "Die Rezeption von Reichs Auffassung der Charakteranalyse zeigt vielfältige Richtungen. Aber kaum ein Autor konnte sich entschliessen, ihm in der Rigorosität seiner Auffassungen ganz zu folgen." (11) Wo sie ihm nicht folgen, verschweigt er, als sei es eine Nebensache. Dabei ist es laut Reich die Hauptsache: sein Konzept des genitalen Charakters, das ohne Orgasmustheorie nicht formulierbar ist, sein Konzept seelischer Gesundheit also. Genau das aber umgeht Hoffmann in weitem Bogen, wobei er gleichzeitig die Formulierung eines Gesundheitskonzeptes als wichtigste Aufgabe der Psychoanalyse bezeichnet und sich darüber beklagt, dass sich niemand an dieses Problem richtig heranwagt. Reich aber,

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demgegenüber ambivalent zu empfinden er zugibt, erscheint ihm (ohne ein Beispiel zu geben oder es allgemein zu begründen) "über weite Strecken wie ein eifernder Zelot", seine Sexualökonomie ist ihm "Karikatur" (aber wovon?). Dennoch ist Hoffmanns Arbeit sehr um Objektivität bemüht. Vor lauter Wissenschaftlichkeit, auch Wissenschaftsgläubigkeit, auch Betriebsblindheit, zieht Hoffmann überhaupt nicht in Betracht, dass vielleicht vor aller gelehrten Diskussion im individuellen Forscher eine entscheidende Frage vorentschieden ist: Sexualbejahung oder Sexualverneinung? Wie dies im Falle Freud/Reich zu Buche schlug, wird uns noch beschäftigen.

II.

Was waren es für Gründe, die den Medizinstudenten Wilhelm Reich bewogen haben, sich der psychoanalytischen Bewegung Freuds anzuschliessen? Die rein persönlichen Motive sind uns nicht bekannt und sind auch aus dem Wenigen, was wir bis jetzt über seine Kindheit und Jugend wissen, nicht zu erschliessen. Er selbst teilt uns einen Tagebucheintrag vom 1.3.1919 mit: "Ich bin aus eigener Erfahrung, durch Beobachtung an mir und anderen, zur Überzeugung gekommen, dass die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum das gesamte soziale Leben wie die innere Geisteswelt des Einzelnen...sich abepielen." (FO, 31 f)

Über Sexualität war im Rahmen des Medizinstudium damals -- bis heute hat sich da nicht viel geändert -- nur wenig zu erfahren. Aber selbst die ein Schattendasein führende junge Sexualwissenschaft fand Reich in einem Zustand, der ihn in einem Fachartikel insbesondere betonen liess, es sei "eine unabweisbare Forderung, in erster Linie in sexualwissenschaftlichen Kreisen...die Sexualablehnung...zu bekämpfen." (12) Später schrieb er: "Die sexuologische Literatur zerfiel mir sofort in zwei Gruppen, die ernste und die 'moralisch-lüsterne'. Bloch, Forel und Freud begeisterten mich. ... Freuds 'Drei Abhandlungen' und die 'Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse'

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entschieden meine Berufswahl." (FO, 32)
[Vgl. hierzu Wilhelm Reich als Sexuologe (1997)]

Schon bevor Reich sich der Psychoanalyse anschloss, hatte er sich gegen Askese und "Veredelung" des menschlichen Trieblebens ausgesprochen: "Nicht Unterdrückung und In-den-Staub-Zerren der Sexualität, sondern einzig und allein freie Bekennung zu ihr und richtige Wertung der ihr eigenen energetischen Kraft sind die Wege, die, wenn auch nicht so bald, zu einer Sexualgesundung der Menschheit führen werden." (13)

Um wieviel komplizierter die Dinge lagen und welche Kämpfe ihm wegen seiner Haltung zur sexuellen Frage noch bevorstehen würden, mag Reich geahnt haben, als er das erste Mal einen Vortrag eines Vertreters der Lehre hörte, zu der er sich aufgrund seiner Lektüre am meisten hingezogen fühlte. Ein älterer Psychoanalytiker "sprach gut und interessant, doch die Art, wie er das Sexuelle behandelte, gefiel mir instinktiv nicht. ...irgendwie passte der Vortragende nicht zum Thema." (FO, 32) Erst nach vielen Jahren klinischer Erfahrungen und nach heftigen Kontroversen mit seinen psychoanalytischen Kollegen gab es für Reich keinen Zweifel mehr: "Ich verstand unter genitaler Sexualität eine Funktion, die unbekannt war und sich mit den üblichen Vorstellungen über die Geschlechtsbetätigungen der Menschen nicht deckte." (FO, 104)

Als Reich dies 1942 in seiner "wissenschaftlichen Autobiographie" (FO) niederschrieb, wurde er noch nicht sehr deutlich in der Frage, worin er hauptsächlich den Grund für seine Isolation von den Psychoanalytikern sah; und es bleibt offen, ob dies aus Takt oder aus Taktik geschah. Zehn Jahre später jedenfalls, als er erfahren hatte, dass die intrigante Wühlarbeit gegen ihn auch in den USA, wohin viele Analytiker emigriert waren, unvermindert weiterging, wurde er deutlicher: "Ich weiss nicht, warum ich zögere, aber ich zögere zu sagen: Die meisten Psychoanalytiker waren genital gestört, und das ist der Grund, warum sie es hassten [Reichs Konzept der or-

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gastischen Potenz, BAL]. Das ist es. Ich versichere Ihnen, dass ich das nicht sage, um irgendjemanden zu verletzen." (RF,17) Indirekt freilich hatte Reich das gleiche schon früher gesagt, etwa 1933, als er sich dafür einsetzte, dass die jungen Analytiker zumindest die gleiche Forderung erfüllen, die für den Kranken gilt: Herstellung des genitalen Primats und eines befriedigenden Geschlechtslebens. (14)

Zu bemerken wäre hier noch, dass Reich 1952 zwar die Psychoanalytiker als genital gestört bezeichnete, Freud jedoch ausdrücklich ausnahm. Darauf werde ich später zurückkommen.

Seine erste Begegnung mit Freud hatte Reich in geradezu euphorische Stimmung versetzt. Reich hatte ihn persönlich aufgesucht, um Literatur für das sexuologische Seminar zu beschaffen, das einige Studenten in Selbsthilfe gegründet hatten. "Ich war ängstlich gekommen und ging froh und glücklich weg. Von da ab schrieben sich 14 Jahre intensivster Arbeit in der Psychoanalyse und für sie." (FO, 43) Endlich hatte Reich eine Betätigungsmöglichkeit gefunden, in die er seine enorme Energie begeistert investieren konnte: "Man muss die geschilderte Atmosphäre in der Sexuologie und Psychiatrie vor Freud kennen, um die Begeisterung und Erleichterung zu begreifen, die mich erfasste, als ich ihm begegnete." (FO, 38)

Um Reichs Stellung innerhalb der psychoanalytischen Bewegung besser verstehen zu können, scheint es mir wichtig, aus dem leider so dürftigen Quellenmaterial jener "voranalytischen" Zeit einige markante Stellen herauszugreifen, die Auffassungen Reichs bezeichnen, die mit denen der Leute, die die Psychoanalyse repräsentierten, kollidieren mussten.

Als erster und entscheidendster Punkt wäre zu nennen: Reich bejahte "die Sexualität", allerdings die, die er aus eigener Erfahrung kannte. "Ich hatte das Geschlechtliche anders erlebt, als ich es damals vorgetragen bekam." (FO, 32)
Zweitens: Reichs "vormarxistische" Ansichten zur sozialen Frage, die im letzten Beitrag dieser Folge erörtert worden sind, waren

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grossenteils auch schon seine "voranalytischen" gewesen. Das Beheben materieller Not schien ihm schon als 22-jährigem als bloss erster Schritt zu einem Ziel, das er damals noch unpräzise formulierte als geistige Individualität im Sinne Stirners. (FSI, 70 f) Sexuelle Gesundheit, ebenfalls noch undefiniert, gehörte auf jeden Fall dazu. (s. Zit. 13)
Drittens lesen wir schon 1919 bei Reich, es sei "selbstverständlich, dass einzig auf Erkenntnis gehende Wissenschaft keine Rücksicht nehmen kann auf manche Stimmen, die sich zum Schutze der Kunst vor dem "zersetzenden" Einfluss der Wissenschaft erheben." (FSI, 20) Die unversöhnlichen Gegensätze in der "Kulturfrage" klingen hier ebenso an wie die therapietechnischen Konsequenzen, bei denen sich die Befangenheit in liberalistischer Toleranzideologie bis heute hemmend in der Psychoanalyse auswirkt. Folgen in der Theorie u.a.: Kein Gesundheitskonzept, keine konsistente Psychosomatik.
Viertens scheint mir der Verdacht aufschlussreich, den der junge Reich äussert: "...all das Ringen nach Freiheit sei fingiert, eine Komödie, die der Mensch seinem Narzissmus vorspielt und ihn deshalb veranlasst, ungehalten zu sein, wenn er aus seinem Spiel gerissen wird." (FSI, 70) Reichs spätere Konzentration auf die sog. negative Übertragung unter der Maske einer positiven sowie sein Bestehen auf ganzen Lösungen (Prophylaxe statt Therapie) ist hier schon angelegt.
Fünftens sei Reichs wie selbstverständlich gemachte Feststellung aus dem Jahre 1919 erwähnt, "dass nicht dies (das Auffinden der typischen Komplexe), sondern die Quantität, die Energieverteilung massgebend ist, und nur von diesem Standpunkt aus Verständnis einer Neurosenstruktur und Heilung möglich ist." (FSI, 63) Gegen den allzu leichtfertigen Gebrauch des Energiebegriffs im Seelischen durch manche Kollegen wendet er sich an anderer Stelle. (FSI, l62)

Diese Aussagen des jungen Reich sollte man parat haben, um seine Darstellung von 1942 richtig einzuschätzen: "Keine vorgefasste Meinung lenkte die Ent-

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wicklung meiner Anschauungen.... Sicher ist, dass ich durch ein erfahrungsreiches und kräftiges Vorleben befähigt war, Tatsachen, Forschungseigenheiten und Resultate wahrzunehmen und zu vertreten, die anderen verschlossen blieben." (FO, 31)

Als Reich im Oktober 1920, noch Student in den ersten Semestern, in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde, war das eine grosse Auszeichnung. "Die Psychoanalytische Vereinigung wirkte wie eine Gemeinde von Menschen, die geschlossen gegen eine Welt von Feinden kämpfen musste. Es war schön. Man musste Achtung vor solcher Wissenschaft haben. Ich war der einzige junge Mediziner unter lauter 'Erwachsenen', meist um 10 bis 20 Jahre Älteren." (FO, 51) Wie sehr ihn sein erster Eindruck getäuscht hatte, werden wir noch sehen.

III.

Das Jahr 1920, in dem Reich in die Psychoanalytische Vereinigung eintrat, war zugleich das Jahr, in dem Freud eine grosse Wende in der Theoriebildung der Psychoanalyse einleitete, die wiederum stark auf die Praxis rückwirkte. Aber Probleme der psychoanalytischen Praxis, die mit der klassischen Technik nicht in den Griff zu bekommen waren, bildeten den Hauptgrund dafür, dass Freud in seinem Buch "Jenseits des Lustprinzips" den Begriff des Todestriebs einführte. Reich dazu später: "Das ersparte alles weitere Nachdenken. Wenn man nicht heilte, war der Todestrieb daran schuld." (FO, 114)

Über die persönlichen Gründe und Anlässe, die Freud zu dieser drastischen Revision seiner Theorie gebracht haben, wurde seither viel geschrieben: der Eindruck des ersten Weltkrieges, schmerzliche Verluste durch Todesfälle in Familie und Freundeskreis u.a. Doch schon vor diesen Ereignissen war etwas Seltsames geschehen: Freud, der einer Art Biorhythmus-Theorie, die sein Freund Fliess entwickelt hatte, einigen Glauben schenkte, hatte sich sein eigenes

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Todesdatum errechnet: den Februar 1918. Die "Vorlesungen", eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse, waren 1917 erschienen und wurden von Freud als Abschluss seines Werkes betrachtet. Die titanische Leistung, die Freud mit diesem Werk vollbracht hatte, braucht hier nicht im Einzelnen gewürdigt zu werden. Und es entsprach ganz der persönlichen Integrität und kompromisslosen Haltung dieses überragenden Meisters der Analyse und Selbstanalyse, dass er im Stand von 1917 die Grenzen der Psychoanalyse im Wesentlichen erreicht sah. Was Freud danach mit dem zuvor Erreichten machte, ist in engem Zusammenhang mit Reichs Arbeit und Freuds Reaktion auf sie zu sehen.

In gewissem Sinne ist Freud in den Jahren um 1920 tatsächlich "irgendwie" gestorben. Er selbst hat wahrgenommen, dass "etwas" in ihm gestorben sei, wie er des öfteren äusserte, und brachte es in Verbindung mit dem Tod seines geliebten kleinen Enkels Heinz im Jahre 1923. In einem Brief an eine Schülerin, die ihm begeistert wegen seines Buches "Die Zukunft einer Illusion" (1927) geschrieben hatte, äusserte er sich so: "Dies ist mein schlechtestes Buch!... Es ist kein Buch von Freud..., es ist das Buch eines alten Mannes! ... Ausserdem ist Freud jetzt tot, und glauben sie mir, der echte Freud war wirklich ein grosser Mann." (17)

Dieser echte Freud, den er hier selbst ironisierend bewundert, war es gewesen, der sich nicht nur über seine Zeitgenossen, sondern vor allem auch über sich selbst emporgehoben hatte, als er seine bahnbrechenden Entdeckungen zur Sexualität machte. Dieser echte Freud war es auch, den Reich zuerst durch seine Bücher kennengelernt hatte und über alle Massen bewunderte. Doch Reich wollte bis zu seinem Tode nicht wahrhaben, dass dieser Freud, als er ihn persönlich traf, schon nicht mehr existiert hatte.

Der direkteste Zugang zum Verständnis von Freuds "Tod" in den Jahren um 1920 und sein Verhalten da-

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nach, auf das ich noch eingehen werde, soweit es in Bezug auf Reich von näherem Interesse ist, scheint mir über die "voranalytische" Einstellung Freuds gegeben, die ihn auch am deutlichsten zu Reich in Kontrast setzt: seine Sexualverneinung.  Für sie, für ihre Praktizierung und theoretische Begründung bzw. Rechtfertigung, gibt es ein prägnantes Zeugnis in einem Brief, den der 27-jährige Freud an seine Verlobte geschrieben hat: "Diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung." (18)

Diese Grundauffassung behielt Freud, trotz aller wissenschaftlichen Bemühungen, unverändert bis zu seinem Tode bei. Sie ist noch heute Zwangsjacke der Psychoanalyse; und es ist klar, dass es unter diesem Dogma bis heute keine psychoanalytische Sublimierungstheorie geben konnte, kein Konzept psychischer geschweige denn psychosomatischer Gesundheit.

Dass Freuds "Gewohnheit" nicht nur zu "Verfeinerung" führt, erlitt er am eigenen Leibe. Seinen einzigartigen Bemühungen zur Behebung der unerwünschten Nebenwirkungen ist die Entstehung der Psychoanalyse zu verdanken. Den Grenzen, die solchen Bemühungen gesetzt sind, aber ist der spätere lautlose und effektive Kampf (man denke an die von Freud beschriebene Wirkungsweise des Todestriebes) des "toten" Freud gegen Reich zuzuschreiben.

Freuds Festhalten am Wert der Sexualverneinung, die ganz im Gegensatz steht zu seiner populären Einschätzung als "Lustlümmel aus der Berggasse", lässt sich leicht in seinen Schriften verfolgen. 1908, als seine schöpferischste Periode gerade hinter ihm lag, schrieb er: "Wir befreien die Sexualität durch unsere Behandlung, aber nicht, damit der Mann von nun an von der Sexualität beherrscht werde, sondern um eine Unterdrückung möglich zu machen -- eine Rückverweisung der Triebe unter die Leitung einer höheren Instanz." (19) Und erst recht im hohen Alter bekräftigte Freud die Ansicht, von der er sich nie

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hat befreien können: "Es ist unsere beste Zukunftshoffnung, dass der Intellekt -- der wissenschaftliche Geist, die Vernunft -- mit der Zeit die Diktatur im menschlichen Seelenleben erringen wird." (20)

In diesem Satz drückt sich die ideologische Befangenheit Freuds aufgrund seiner Triebverneinung sehr deutlich aus; vor allem, wenn man ihm die von Freud mit Schweigen kommentierte Auffassung Reichs gegenüberstellt, die die traditionellen Kategorien von Herrschaft und Unterdrückung nicht benötigt, um die Beziehung von Funktionen des menschlichen Organismus zu beschreiben: "Genitaler und intellektueller Primat gehören ebenso zueinander, einander wechselseitig bedingend, wie Libidostauung und Neurose, Über-Ich (Schuldgefühl) und Religion, Hysterie und Aberglauben, prägenitale Libidobefriedigung und heutige Sexualmoral." (21)

Wie sehr Freuds Sexualfeindschaft, die bei den meisten seiner Anhänger Resonanz fand, sich auf die Entwicklung der Psychoanalyse hemmend auswirkte, lässt sich am Schicksal der Libidotheorie sehr gut demonstrieren.

Libido hatte Freud die Energie genannt, die als Sexualtrieb wahrnehmbar ist (wobei daran erinnert sei, dass "sexuell" bei Freud, wie bei Reich auch, ein umfassenderer Begriff ist als "genital"). Ihren Ursprung vermutete Freud in biochemischen Prozessen, nur sie konnte das Bindeglied zwischen Psyche und Soma sein. "Das Lehrgebäude der Psychoanalyse...", schrieb er 1917, "ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgend einmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll." (22)

In seinen produktivsten Jahren, kurz vor der Jahrhundertwende, hatte Freud seine Neurosenlehre in libidotheoretischen Begriffen formuliert. Er unterschied damals zwischen Aktual- und Psychoneurosen. Aktualneurosen nannte er jene, die durch aktuelle Störungen des Sexuallebens, durch Libidostau, ver-

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ursacht waren, deren Symptome auch bei Beseitigung dieser Störungen wieder schwanden. Als Psychoneurosen bezeichnete Freud solche Neurosen, bei denen er keine aktuelle Sexualstörung diagnostizieren konnte oder bei denen die Beseitigung einer aktuellen Sexualstörung kein Schwinden der Symptome bewirkte. Auch für die Psychoneurosen fand Freud eine sexuelle Verursachung, doch lag diese in der Vergangenheit, meist in der frühen Kindheit. Sie waren therapeutisch nur durch das Verfahren der Psychoanalyse zu beeinflussen.

Dem Ausbau dieses Verfahrens galten in der Folge Freuds Bemühungen -- und die der meisten seiner Mitarbeiter. Ein offenbares Problem geriet dabei ins Hintertreffen und wurde erst von Reich in Angriff genommen: "Woher bezogen sie (die Psychoneurosen) ihre Energie? Doch zweifellos aus dem 'aktualneurotischen Kern' gestauter Sexualerregung." (FO, 84) Dieses Problem, das der Libidoökonomie, den energetischen oder quantitativen Faktor der Neurosenlehre, rückte Reich ins Zentrum seiner Arbeit. Dies führte zur Orgasmustheorie.

Der Hauptstrom der Psychoanalyse hingegen machte um dieses Problem einen grossen Bogen. Freud selbst blieb sich dessen, im Gegensatz zu vielen seiner Schüler, stets bewusst. 1915 führte er diesen Mangel auf die methodischen Grenzen der Psychoanalyse zurück. (23) 1917 nannte er den ökonomischen Faktor "eines der wichtigsten, aber leider auch dunkelsten Gebiete der Psychoanalyse". (24) 1920, im Entstehungsjahr der Todestriebtheorie, schloss er: "Eine Fortführung der Libidotheorie ist vorläufig nur auf dem Wege der Spekulation möglich." (25) 1937, die Arbeiten Reichs auf genau diesem Gebiet ignorierend, beklagte er dann, "dass wir...zumeist versäumt haben, dem ökonomischen Gesichtspunkt in demselben Masse Rechnung zu tragen, wie dem dynamischen und topischen. Meine Entschuldigung ist also, dass ich an dieses Versäumnis mahne." (26)

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Freud und Reich -- auf einen Blick
(Quellenangaben in den Anmerkungen zum Haupttext)

Freud 1883 mit 27 Jahren:

"Diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung."

Reich 1919 mit 22 Jahren:

"Nicht Unterdrückung und In-den-Staub-Zerren der Sexualität, sondern einzig und allein freie Bekennung zu ihr und richtige Wertung der ihr eigenen energetischen Kraft sind die Wege, die, wenn auch nicht sobald, zu einer Sexualgesundung der Menschheit führen werden."

Freud 1908 mit 52 Jahren:

"Wir befreien die Sexualität durch unsere Behandlung, aber nicht, damit der Mann von nun an von der Sexualität beherrscht werde, sondern um eine Unterdrückung möglich zu machen."

Reich 1942 mit 45 Jahren:

"Für die sekundären, unnatürlichen, asozialen Triebe gilt weiter die moralische Bremsung. Für die natürlichen Lustbedürfnisse gilt das Freiheitsprinzip, wenn man will: das 'Ausleben'. Man muss nur wissen, was das Wort 'Trieb' jeweils meint."

Freud 1933 mit 77 Jahren:

"Es ist unsere beste Zukunftshoffnung, dass der Intellekt -- der wissenschaftliche Geist, die Vernunft -- mit der Zeit die Diktatur im menschlichen Seelenleben erringen wird."

Reich 1933 mit 36 Jahren:

"Genitaler und intellektueller Primat gehören ebenso zueinander, einander wechselseitig bedingend, wie Libidostauung und Neurose, Über-Ich (Schuldgefühl) und Religion, Hysterie und Aberglauben, prägenitale Libidobefriedigung und heutige Sexualmoral..."

Freud 1937 mit 81 Jahren:

"Nur das Zusammen- und Gegeneinanderwirken beider Urtriebe Eros und Todestrieb erklärt die Buntheit der Lebenserscheinungen."

Reich 1936 mit 39 Jahren:

"Die sogenannte individuelle Differenzierung der Menschen ist heute im wesentlichen ein Ausdruck überwuchernder neurotischer Verhaltungsweisen."

[Zurück zum Anfang]

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IV.

Es war also eine Zeit des Umbruchs, als Reich sich der Psychoanalyse anschloss. Freud, der unangefochtene und respektierte "Vater" der Bewegung, begann mit der Revision und Relativierung der Ergebnisse dessen, was den jungen Reich gerade angezogen hatte: "Mich fesselte das konsequente, naturwissenschaftlich-energetische Denken Freuds." (FO, 39) Reichs Arbeit galt in der Folgezeit der Anknüpfung an dieses Denken, während Freud sich mehr und mehr davon löste, gefolgt von der grossen Mehrheit seiner Schüler.

Es hat wenig Sinn, sich hier in eine inhaltliche Diskussion einzulassen. Zur Beurteilung von Freuds Arbeiten ab 1920 gibt es einen Gutachter, dessen Kompetenz trotz persönlicher Befangenheit nicht zu übertreffen ist: Freud selbst, dessen Aufrichtigkeit und Fähigkeit zu Selbstkritik (sofern nicht seine Sexualverneinung direkt betroffen ist) nicht genug zu bewundern ist. Als er sein errechnetes Todesdatum überlebt hatte, machte er sich Gedanken darüber, was er jetzt noch tun könne. Über seine zukünftige literarische Tätigkeit schrieb er 1919, er habe sich nun "als Altenteil das Thema des Todes gewählt". (27) Gedanken an den Tod hatten Freud Zeit seines Lebens immer stark beschäftigt, doch jetzt erst wolle er seinen Spekulationen zu diesem Thema Eingang in seine Schriften erlauben.

Dieser Absicht folgte bald die Tat. Er produzierte nun eine Reihe der Werke, die auch heute noch zu seinen bekanntesten zählen. Über die Qualität dieser Arbeiten in wissenschaftlicher Hinsicht machte er sich allerdings wenig vor: "Reichlich dunkel", schrieb er, seien grosse Teile von "Jenseits des Lustprinzips" (1920). Von da ab sei "die Kurve steil abwärts gegangen", kommentierte er "Das Ich und das Es" (1923). Was er von "Die Zukunft einer Illusion" (1927) hielt, wurde schon erwähnt. Und über seine Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" (l929) schrieb er in dem charakteristischen ironischen Ton an Lou Andreas-Salomé: "Sie kommt mir ... sehr

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überflüssig vor... Was aber sollte ich tun? Man kann nicht den ganzen Tag rauchen und Karten spielen." (28)

Diese demonstrative Pose weist auf eine verborgene Motivation, die einen Mann wie Freud dazu zwingt, laufend Schriften zu publizieren, von deren Inhalt er selbst wenig hält. Denn er war keineswegs so gelassen, wie er sich hier gibt. Reich, dessen Orgasmustheorie und Charakteranalyse zu diesem Zeitpunkt schon über die ersten Anfänge hinaus gelangt war und de facto -- obwohl Reich stets behauptete, er arbeite an Freuds "Sache" -- in krassem Gegensatz zu der von Freud geleiteten Entwicklung der Psychoanalyse stand, erinnert sich: "Die wenigsten wissen, dass Freuds 'Unbehagen in der Kultur' in den ... Kulturdiskussionen [im engen Kreis bei Freud] zur Abwehr meiner aufblühenden Arbeit und der von ihr ausgehenden 'Gefahr' entstand... (FO, 181)

Wie es in einer dieser Sitzungen zuging, schilderte später der Reich-Gegner Richard Sterba: Während einer Diskussion "weigerte sich Wilhelm Reich energisch, Freuds Gegenargument anzunehmen und verlangte wiederholt das Wort, um seine These weiter zu behaupten. (Da) sagte Freud mit einem sehr bestimmten Tonfall: 'Wer immer wieder das Wort verlangt, zeigt, dass er absolut recht behalten will. Ich lasse Sie nicht mehr sprechen.' ... (Reichs) weitere Entwicklung zeigte, dass er Freuds Urteil nicht beachtete und immer tiefer in ein unwissenschaftliches Fahrwasser geriet." (29)

Reich hatte trotz aller Loyalität Freud auf seinem Weg ab 1920 nur mit grossen Vorbehalten folgen können und berief sich stets auf Freuds Arbeiten aus früherer Zeit, nicht jedoch, ohne das Neue, das Freud bot, zu integrieren, im Gegenteil: aus Diskussionsprotokollen ist zu ersehen, "dass nur eine kleine Minorität (z.B. Federn, Reich, Nunberg) imstande war, die neue Theorie innerhalb eines Jahres in ihr eigenes Denken zu übernehmen." (30)

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Aber seine klinischen Erfahrungen hatten Reich auf einen Weg geführt, der ihm erlaubte, dort praktisch und theoretisch weiter zu kommen, wo Freud -- über die Gründe wurde schon gemutmasst -- steckengeblieben war: Die Orgasmustheorie knüpfte an die ursprüngliche Libidotheorie an; die charakteranalytische Technik half die sog. negative therapeutische Situation und andere Probleme der Praxis zu meistern. So blieb Reich die Annahme eines Todestriebes entbehrlich. Der von den anderen gemiedene "ökonomische Faktor" rückte ins Zentrum, und sogar für das von Freud postulierte "organische Fundament", auf das die Psychoanalyse dereinst zu stellen sei, fanden sich schon in der 1927er Ausgabe von "Die Funktion des Orgasmus" Ansätze: dort, wo Reich Beziehungen zu Funktionen des vegetativen Systems herstellt.

Reichs Sonderstellung beruhte zum Teil auf den Eigenschaften seiner Persönlichkeit, die ich schon grob skizziert habe. Hinzu kamen aber noch sein Ernst, Eifer und Elan, der über die Interessenlage der Kollegen weit hinauszielte: "Doch es ging, sachlich gesehen, nicht um Konkurrenz oder Beruf, sondern um Fortsetzung der Riesenentdeckung [Freuds]; es ging nicht nur um Ausbau des Bekannten, sondern wesentlich um die biologisch-experimentelle Untermauerung der Libidotheorie." (FO, 43)

Einer der jüngsten Kollegen griff also nach den Sternen, wollte Probleme lösen, vor denen Freud und die "erste Generation" der Analytiker eher ratlos waren, Desinteresse vorschützten. Was Reich 1942 über diese Zeit innerhalb der Psychoanalyse berichtet, ist eher durch Zurückhaltung gegenüber den beteiligten Personen geprägt; neben der auffälligen Schonung Freuds scheint ein Grund darin zu liegen, dass wahrheitsnahe Schilderung der Vorgänge wohl zu sehr nach Diffamierung einerseits, Grössenwahn andererseits klingen würde. Erst in dem Interview von 1952 wurde er deutlicher, wenn er z.B. über die Sitzungen der Wiener Gruppe (ohne Freud) sagte: "Sie waren fürchterlich

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langweilig. Etwa acht bis zehn Leute sassen herum... Jeder hatte eine Meinung über dies oder jenes... einer sagte dies, ein anderer sagte das... Als ich hinzukam, geriet alles irgendwie in Bewegung... Ich war wie ein Hecht im Karpfenteich." (RF, 40)

Erst vor kurzem sind Dokumente zugänglich geworden, (31) die "Isakower-Protokolle" aus den Jahren 1923/24, deren genaues Studium einen guten Eindruck von Reichs Stellung in der Gruppe -- was die fachliche Seite angeht -- vermitteln kann. Als erstes fällt auf, dass ausser dem Protokollführer Reich der einzige Teilnehmer an den sog. Behandlungstechnischen Diskussionen war, der an allen Abenden anwesend gewesen ist. Unter jenen Wiener Analytikern, die "nie an diesen Sitzungen teilnahmen, d.h. sich nicht zu den praktizierenden Analytikern zählten oder kein Interesse an behandlungstechnischen Diskussionen hatten", findet man so prominente Namen wie Otto Rank, Theodor Reik, August Aichhorn, Isidor Sadger, Paul Schilder und Anna Freud. Andere, wie Siegfried Bernfeld, Felix Deutsch und Robert Wälder, nahmen nur gelegentlich an den Sitzungen teil. Die Referate und Diskussionen wurden im wesentlichen von dem 26-jährigen Reich und den damals doppelt so alten Analytikern Federn und Nunberg bestritten. Beeindruckend fand ich die Selbstsicherheit, mit der Reich schon damals die "Charakterneurose ohne greifbare umschriebene Symptome" in die Diskussion brachte und darauf bestand, vorerst nur von Symptomfreiheit, noch nicht voreilig von Heilung zu sprechen. Letzteres Problem, die Definition psychischer Gesundheit, wurde bis heute umgangen, so dass S. O. Hoffmann es, ein halbes Jahrhundert später, noch immer als das vorrangigste bezeichnen muss (s. o.).

Ein weiterer Grund für Reichs Sonderstellung war seine Tätigkeit am Psychoanalytischen Ambulatorium, mehr noch die Konsequenzen, die er daraus zog. Freud hatte dessen Einrichtung zwar befürwortet, erwartete aber von der Arbeit dort keine Bereicherung der Theorie. Man solle dort, empfahl er, "das reine Gold

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der Psychoanalyse mit dem Kupfer der Suggestivbehandlung mischen." (zit. n. FO, 72) Die Psychoanalytiker teilten in ihrer grossen Mehrzahl Freuds Abscheu vor dem "Gesindel", (32) was sie aber nicht hinderte, aufgrund von Beobachtungen an ihrem sehr speziellen "Patientengut" sehr allgemeine Theorien über den Menschen an sich zu entwickeln. Reich: "Es gab die Auffassung, dass es bestimmte 'schlechte Charaktere' gäbe, die sich für die analytische Behandlung nicht eigneten. Sie erfordere, hiess es, eine gewisse Höhe der seelischen Organisation im Kranken... Die Arbeit war also recht eingeschränkt auf umschriebene neurotische Symptome bei intelligenten, zur Assoziation fähigen Menschen mit 'korrekt entwickeltem' Charakter." (FO, 72) Für Reich hingegen wurde die verpönte Arbeit am Ambulatorium eine "Fundgrabe von Einsichten in das Getriebe der Neurosen unbemittelter Menschen. Ich arbeitete dort vom ersten Tage an als erster Assistenzarzt, im ganzen acht Jahre... Der Ansturm auf diese Einrichtung war so gross, dass wir uns nicht zu helfen wussten... Jeder Psychoanalytiker verpflichtete sich, eine Gratisstunde täglich zur Verfügung zu stellen." (FO, 72 f) Doch die Analytiker zogen es bald vor, sich von dieser Verpflichtung freizukaufen. In einem Brief stellt Reich 1926 fest: "Fast niemand hat ein aktives Interesse am Ambulatorium." (RF,151)

Noch ein weiterer Umstand, der eine Sonderstellung Reichs bezeichnet und für seine fachliche Leistungen ausschlaggebend war, muss hier erwähnt werden: Seine Tätigkeit als Leiter des sog. Technischen Seminars von 1924-30, das 1922 auf seinen Vorschlag hin gegründet worden war. Hier sollten vor allem die jungen Analytiker (die Alten beteiligten sich nicht) über Probleme und Schwierigkeiten in der Praxis sprechen können und aus diesem Austausch sowie einer systematischen Aufarbeitung lernen.

Reich: "Das wichtigste Ergebnis des ersten Jahres seminaristischer Arbeit war die entscheidende Einsicht,

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dass die Analytiker unter "Übertragung" nur die positive und nicht die negative verstanden, obgleich die Unterscheidung von Freud längst getroffen war." (FO, 107) Kein Wunder, dass die älteren Kollegen eine so grundsätzliche Kritik, die zudem erhebliche Konsequenzen für Theorie und Praxis nach sich zog, ablehnten. "Sie kamen einfach nicht mit, fürchteten für ihre Reputation als 'erfahrene Autoritäten'. Sie mussten daher zu neuen Dingen, die wir erarbeiteten, entweder sagen: 'Das ist ja alles banal, steht schon bei Freud', oder sie erklärten, es wäre 'falsch'." (FO, 110)

Wenn Reich hier, 1942, "wir" sagt, so ist das wohl wieder eine Konzession an den Leser, der bei "ich" sofort das Etikett "Grössenwahn" parat hat. Die Mitarbeit seiner jungen Kollegen ist jedenfalls nicht sehr hoch einzuschätzen. Im offiziellen Bericht über das Seminar 1927 schrieb Reich zwar: "So verlor sich sehr bald die Scheu vor der Besprechung von Misserfolgen." (33) In einem Brief aus etwa der gleichen Zeit klagt er aber, er sei der "Einzige im Seminar, in Kursen und Veröffentlichungen geblieben, der über seine Misserfolge berichtet habe und diese in offener Diskussion zu klären versuchte. Die meisten Wiener Analytiker berichten entweder nur über die Theorie des Falles oder nur über erfolgreiche Fälle." (RF, 152)

Die Konfrontation zwischen Reich und einigen Schwankenden auf der einen, Freud mit einigen Entschlossenen und der grossen Mitläuferschar auf der anderen Seite war offenbar schon in vollem Gange, ohne dass offen darüber gesprochen wurde und ohne dass Freud je ein Urteil über Reichs Arbeit offiziell abgegeben hätte. Ein Ergebnis verwundert niemanden, der sich über die sachlichen und "menschlichen" Implikationen dieser Konstellation im Klaren ist: "Von den etwa 20 Studenten des Wiener Seminars hat keiner den Weg der Charakteranalyse weiter verfolgt." (FO, 148)

Diese Aussage Reichs von 1942 ist missverständlich, vor allem heute. Die Charakteranalyse wurde langsam

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salonfähig im wahren Sinne des Wortes, nachdem sie -- zunächst durch Anna Freuds erwähntes Buch und in dessen Gefolge von einer Unzahl anderer Arbeiten -- entsexualisiert worden war. Für Reich jedoch war Charakteranalyse ohne Orgasmustheorie ein kastriertes Monster. Und S. O. Hoffmann, der sich durch den seither publizierten Wust von Meinungen und Theorien hindurchgearbeitet hat, scheint Reich indirekt Recht zu geben, wenn er zu dem Schluss kommt: "Über die Grundzüge der Vorgehensweise (bei der Charakteranalyse) herrscht jedoch eine gewisse Übereinstimmung, was wohl vor allem Reichs Verdienst ist. Unklar ist dagegen von Beginn an, was überhaupt zu ändern ist. ... Wenige Analytiker wagen eine Formulierung von präziseren Therapiezielen." (34)

Doch die von Hoffmann dann gelieferten Zitate sind gar nicht so präzise, erlauben gar keine Präzisierung, denn sie sind meist ideologisch aus dem humanistischen Ärmel geschüttelt, bleiben im rein psychologischen Bereich stecken und ignorieren mit der traditionellen, geisteswissenschaftlichen Selbstgefälligkeit die unerlässliche Verträglichkeit mit den Funktionen des ganzen Organismus.

Auf diesem Gebiet scheint mir Reichs Überlegenheit zu liegen, wenngleich sein Therapieziel auch noch präziserer Ausarbeitung harrt. Sein Konzept der Biopathien, dessen Entwicklung und Absicherung leider seit 30 Jahren fast stagniert, ist prinzipiell ausbaufähig und braucht zur Formulierung des Therapieziels nicht im Zirkelschluss auf die (pathogenen) Ideologien einer Vergangenheit zurückzugreifen, die es ja gerade zu überwinden gilt. Allerdings -- das hat Reich schon in den Zwanziger Jahren erkannt -- ist bei den hier betrachteten Krankheiten (es sind die, vor denen auch die moderne Medizin machtlos ist) Therapieforschung nur sinnvoll, um aus ihr Hinweise für prophylaktische Massnahmen abzuleiten. Damit aber kommen wir in den gesellschaftlichen Bereich -- ein grosses Thema für sich.

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V.

Im Zentrum von Reichs Arbeiten als Psychoanalytiker hat also genau jener "ökonomische Faktor" gestanden, den Freud 1917 als wichtigstes, leider aber auch noch dunkelstes Gebiet der Psychoanalyse bezeichnet hatte. Doch zwanzig Jahre später -- Reich als einziger hatte sich auf dieses Gebiet konzentriert und Licht in das Dunkel gebracht -- mahnte Freud die Analytiker, den ökonomischen Faktor nicht weiterhin so sehr ausser Acht zu lassen wie bisher. Das jedoch war keineswegs ein Hinweis auf Reich (allenfalls ein sehr doppeldeutiger), der ja drei Jahre zuvor, zumindest mit Freuds Billigung, ohne Diskussion aus der Vereinigung ausgeschlossen worden war. Freud hatte seine Arbeiten über all die Jahre hinweg keines Kommentares für würdig befunden.

So aber hatte Freud in der Vergangenheit ganz und gar nicht mit seinen Schülern umzugehen gepflegt, auch nicht mit denen, die, auf welche Weise auch immer, ihm und seiner Lehre abtrünnig geworden waren.

Otto Rank z.B., als Laienanalytiker (Nichtmediziner) zuvor meist Verfasser von Arbeiten über die Deutung von Mythen und Legenden, veröffentlichte 1924 eine Theorie, in der er die zentrale Bedeutung, die der Ödipuskomplex in Freuds Theorie einnimmt, durch ein postuliertes Geburtstrauma ersetzte. Freud erlitt, wie er an Ferenczi schrieb, darüber einen Schock; denn er nahm Ranks Theorie zunächst so ernst, dass er ernsthaft glaubte, sein gesamtes Lebenswerk über die sexuelle Ätiologie der Neurosen sei nun überholt. Tröstlich mag ihm nur gewesen sein, dass auch bei Rank der neurotische Konflikt biologisch bedingt, fester Bestandteil der conditio humana,  war. Obwohl Freud bald gelassener in Bezug auf den Status seiner eigenen Theorie wurde und Ranks Fehler zu sehen glaubte (vgl. dazu Reichs Diskussionsbeitrag in den vorn erwähnten Behandlungstechnischen Diskussionen, an denen Rank nie teilgenommen hat), diskutierte er Ranks Idee lang und ausgiebig. Und obwohl Freud alles ver-

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suchte, um Rank für die Psychoanalyse zurückzugewinnen, gelang es ihm nicht. Auch die von Freud sehr missbilligte Art, in der Rank die Trennung vollzog, hinderte Freud nicht, Jahre später in einer Passage, in der er auf Ranks Theorie kritisch noch einmal zurückkam, von dessen "kühnen und geistreichen" Gedanken zu sprechen.

Zahl und Art der Erwähnung in Freuds Schriften galten unter den Psychoanalytikern als Massstab der Gunst, in der sie standen. Auch relativ unbedeutende Kollegen wurden so gelegentlich mit Lob bedacht, wie z.B. Ruth Mack Brunswick wegen ihrer "Geschicklichkeit". Der Name Reich jedoch ist im Personenindex von Freuds "Gesammelten Werken" nicht zu finden. Andere "Häretiker" hingegen, wie der schon erwähnte Rank, aber auch Jung, Adler und Stekel, sind mit etwa 50-70 Einträgen vertreten, sichtbarstes Zeichen für die gründliche Auseinandersetzung mit deren abweichenden Theorien.

So verschieden die psychoanalytischen Häresien auch gewesen sein mögen, eines hatten sie alle gemein: die Ablehnung der überragenden Rolle, die der frühe Freud der Sexualität zumass. Schon die Freundschaften Freuds mit Breuer und Fliess waren darüber zerbrochen. Im Falle Reich jedoch kehrte sich diese Konstellation um: Der Todestriebtheoretiker Freud war nun in der Rolle derer, die ihn einst verliessen -- allerdings nur in der Theorie. In der verbandspolitischen Praxis konnte Freud zu dieser Zeit nicht mehr der Isolierte werden. Freud schien diesen Rollentausch sehr wohl erkannt zu haben, wenn er privat zu Reich gesagt hat: "Sie haben entweder ganz unrecht, oder Sie werden bald ganz allein das schwere Los der Psychoanalyse tragen müssen." (FO, 186; RF, 178) Aber, obwohl er die Leiden der Isolation selbst nur zu gut kannte, brachte er es im Falle Reich nicht weiter als bis zu einer unentschiedenen Neutralität. Vielleicht ist das noch eine zu wohlwollende Einschätzung. Der Bekämpfung Reichs durch die niederen

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Chargen seiner Vereinigung sah er, bis auf wenige Gelegenheiten, wortlos zu.

Natürlich konnte Freud den aktiven Reich, da beide über ein Jahrzehnt hinweg in der gleichen Stadt lebten und oft zusammenkamen, nicht völlig ignorieren. Neben der Distanz, die er zu vielen, zumal den jüngeren Schülern hielt, wusste sich Freud Reich gegenüber nur durch Beschwichtigungen und hinhaltendes Lob unter vier Augen zu helfen, so z.B.: "Gehen Sie ruhig weiter mit Ihrer klinischen Arbeit. Was ich da vorgebracht habe (Todestrieb), ist nur eine Hypothese. Sie kann stehen oder fallen." (FO, 114; RF, 72) Gleichzeitig aber publizierte er laufend jene Arbeiten, die er selbst als schlecht einschätzte -- obwohl er wissen musste, wie das auf die meisten Analytiker wirken würde. Reich: "Die Klinik verödete... Der Ernst der psychoanalytischen Mitteilungen verlor sich... Man sprach noch von Sexualitat, doch man meinte sie nicht mehr... Das Formale überwucherte den Inhalt, die Organisation ihre eigene Aufgabe. Es begann der Verfallsprozess, der bisher alle grossen sozialen Bewegungen der Geschichte vernichtete." (FO, 112) Freud selbst aber war Initiator und Förderer dieses Prozesses: der "tote" Freud versuchte, das Werk des "lebendigen" zu zerstören.

Oft wird die Meinung vertreten, Reichs Konflikt mit Freud sei hauptsächlich auf sein Engagement in sozialistischen Organisationen zurückzuführen. Diese Sicht ist schon allein deshalb sehr oberflächlich, weil dies auch etliche andere Analytiker taten, ohne deshalb ähnliche Probleme zu bekommen. Zudem hat Freud Reich sogar zu diesen Tätigkeiten ermutigt. (RF, 78) Denn Freud war zwar ziemlich unpolitisch, aber keineswegs antisozialistisch eingestellt. Wenn er, wie Reich berichtet, in einem Gespräch über die Sexualgesetzgebung der Sowjetunion meinte, es sei "möglich, dass das Licht von Osten käme" (RF, 33), so zeigte er diese distanzierte Sympathie auch öffentlich, z.B. als er 1933 über den "grossartigen Ver-

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such einer Neuordnung in Russland" schrieb, der ihm "wie die Botschaft einer besseren Zukunft" erschien. (35)

Eher scheint es so, als sei es die unangenehme Situation gewesen, in die Freud durch Reichs Arbeiten und sein eigenes jahrelanges Schweigen zu ihnen gekommen war, die Freud 1932 auf das Niveau trivialen, ideologischen Zwists Zuflucht nehmen liess. In diesem Jahr legte Reich seine Arbeit "Der masochistische Charakter -- eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes" (36) zur Veröffentlichung bei der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse (IZP) vor. Es wird wohl kaum sicher zu klären sein, ob Freuds wütende Reaktion darauf echt oder vorgetäuscht war. Jedenfalls wollte er als Herausgeber dem Artikel Reichs -- sein Inhalt war rein klinisch -- eine lange Fussnote hinzufügen, die dem Leser erklären sollte, dass Reich Mitglied der "Bolschewistischen Partei" sei und diese ihren Mitgliedern ideologische Beschränkungen auferlege. (RF, 155) (37)

Diese völlig fehlplazierte und zudem überflüssige Bemerkung liess sich Freud jedoch von einigen besonnenen, durchaus aber nicht Reich-freundlichen Beratern ausreden; und Siegfried Bernfeld -- nota bene  selbst Mitglied einer marxistischen Partei -- schrieb im Auftrag Freuds eine Entgegnung, (38) die zu lesen jedem empfohlen sei, der einen Eindruck von der aufgescheuchten Irrationalität auf Seiten der Freud-Vasallen gewinnen möchte.

Freud selbst hüllte sich weiter in Schweigen. Aber das Signal, den Konflikt Freud/Reich ganz auf die politisch-ideologische Ebene zu verlagern, hatte bei allen Beteiligten suggestive Wirkung -- in gewisser Hinsicht auch bei Reich (über die Gründe später), der ja meinte, er vertrete "Freuds Sache" und somit die Hoffnung auf eine ernsthafte Auseinandersetzung über seine wissenschaftlichen Theorien noch nicht aufgegeben hatte -- die Ernüchterung kam 1934.

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Der Konflikt schwelte nun schon seit 1923, als Reich seinen Kollegen einen ersten Entwurf seines Genitalitätskonzeptes vorgetragen hatte. "Während ich vortrug, merkte ich eine Vereisung der Atmosphäre in der Versammlung... Nach einer Pause begann die Diskussion... [Die Kollegen] schienen mir aufgeregter als ihrer gewohnten wissenschaftlichen Reserviertheit entsprach." (FO, 91) Die sensibleren Analytiker erahnten spontan die Implikationen des Reich'schen Ansatzes. Es war nach einem späteren Vortrag Reichs über seine Fortschritte auf diesem Gebiet, als hinterher Theodor Reik, ein älterer Analytiker, an Reich herantrat und ihm ins Ohr raunte: "Die Arbeit ist gut, aber ich möchte sie nicht geschrieben haben." (RF, 101, 151)

Diese Bemerkung irritierte Reich offenbar wenig, denn er meinte ja, mit einigem Erfolg im Sinne Freuds zu arbeiten. Dessen Reaktion jedoch, als Reich ihm zu seinem 70. Geburtstag das Manuskript des ihm "in tiefer Verehrung" gewidmeten Buches "Die Funktion des Orgasmus" (1927) überreichte, war befremdlich: "Er besah das Manuskript, zögerte ein wenig und sagte dann wie in Unruhe: 'So dick?'... Das war keine rationale Reaktion. Er war sonst sehr höflich und hätte nicht ohne weiteres so verletzend gesprochen." (FO, 146) Freud behielt das Manuskript aussergewöhnlich lange bei sich und schickte es dann mit einigen glatten Lobworten zurück.

Die permanente Verunsicherung durch Reich bzw. die Ratlosigkeit, wie man ihr/ihm am wirkungsvollsten begegnen könne, war natürlich nicht nur ein Problem für Freud, auf dessen Urteil wohl viele Analytiker warteten. Sein beharrliches Schweigen führte wohl z.B. auch dazu, dass Reichs "Die Funktion des Orgasmus" in der IZP zunächst nicht besprochen wurde. Erst drei Jahre nach Erscheinen lieferte Otto Fenichel ein ausführliches Referat. Fenichel hatte sich zu dieser Zeit, 1930, auf die Seite Reichs geschlagen; beide blieben für etwa vier Jahre die dominierenden Figuren der sog. Opposition marxistischer Psychoanalytiker.

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Nach seiner Trennung von Reich 1934 gab es übrigens für Fenichel trotz seiner "Verfehlungen" keinerlei Schwierigkeiten, seinen angestammten Platz in der psychoanalytischen Bewegung wieder einzunehmen -- ein Fall unter mehreren für die Toleranz Freuds und der IPV gegenüber marxistischen Kollegen.

Über den Ausschluss Reichs aus der IPV, so wichtig die Details dieses Ereignisses auch sind, kann ich hier nicht schreiben, ohne die Arbeit übermässig ausufern zu lassen. Ich empfehle aber unbedingt, den Bericht Reichs darüber zu studieren. (RF, 255 ff) (39) "Die Art, in der der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk, dass sie dem Aussenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird", heisst es dort zu Anfang. Man erkennt die Schwierigkeit, das Vorgefallene sprachlich glaubhaft zu vermitteln. "Grotesk" ist noch ein schwaches und irgendwie sogar unpassendes Adjektiv, um den Eindruck zu bezeichnen, den die Schilderung Reichs hinterlässt, vor allem, wenn man weiss, worum es sachlich ging.

Um dieses Unglaubhafte an der Art der Ausschaltung Reichs, die entgegen aller heutigen (Pseudo-)Popularität Reichs noch immer wirksam ist (nur auf andere Art), glaubhaft und evtl. gar verständlich zu finden, muss man sich wohl allen Ernstes der Präzedenzlosigkeit der anthropologischen Position Reichs voll bewusst sein, dessen, was er später in seinem "Christusmord" als Befindlichkeit "ausserhalb der Falle" umschrieb. Dort jedoch blieb er stets allein. "Ich fühle mich wie in einer Wüste, ohne wirkliche, aktiv engagierte Mitkämpfer. Es besteht da irgendeine grundsätzliche Unentschlossenheit oder gar Abneigung, klar und offen für unsere Arbeit einzutreten und sie in der Öffentlichkeit mit dem gleichen Einsatz zu verteidigen, mit dem ihre Feinde sie diffamieren", (RF, 228) schrieb Reich 1948, als Dutzende von Ärzten seine Orgontherapie praktizierten, an seinen Freund Neill. "Niemand hat Interesse. Sie können gar kein Interesse haben. Ihr Protoplasma ist erloschen." (RF, 119) So versuchte Reich 1952 das Unglaubhafte zu erklären.

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Dabei ging es Reich stets nicht primär um die Richtigkeit seiner Antworten, sondern um die Richtigkeit bzw. (Lebens-)Wichtigkeit seiner Fragestellungen. "Das Missliche meiner sachlich so guten Position war, dass niemand die Tatsachen, die ich vorbrachte, hören wollte, aber sie auch nicht leugnen konnte." (FO, 179) So griff man denn zu dem in seinen technischen Einzelheiten so unglaubhaft anmutenden Ausschluss, der Reich zur Unperson machte.

Dass von psychoanalytischer Seite über dieses Ereignis zunächst nichts und erst viel später dann eine bewusste, sehr knapp gehaltene Fehldarstellung überhaupt publiziert werden konnte (ohne dass Zeugen protestierten), so wie dann die bis 1968 durchgehaltene weitgehende Tilgung Reichs aus der psychoanalytischen Geschichte, erinnert auf den ersten Blick an die Behandlung Trotzkis durch Stalin und die Stalinisten. Selbst die Art, das Opfer auch nach seiner Vertreibung so lange zu verfolgen, bis man es zur Strecke gebracht hat, passte in diesen Vergleich. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: den zwischen Funktionären in extremer politischer Diktatur und locker organisierten Psychoanalytikern in westlichen Demokratien. Diese Hervorhebung verfolgt weniger den Zweck einer Anklage; sie soll vor allem auf die eben schon angesprochene Dimension des "Falles Reich" hinweisen, der sich ausser Reich und einigen unermüdlich gegen ihn kämpfenden Intriganten nur wenige bewusst waren und sind.

VI.

Nur am Rande bin ich bisher auf das Verhalten Reichs gegenüber dieser eigenartigen -- ja: Verschwörung eingegangen, in der Feinde, Sympathisanten, Mitläufer und Gleichgültige, wahrscheinlich ohne dass eine genaue Absprache nötig gewesen wäre, so beispiellos zusammenzuwirken schienen. Reich hat verschiedentlich versucht, diesen phantomartigen und doch so realen und allgegenwärtigen Feind theoretisch und natürlich praktisch zu packen, ersteres verständlicherweise mit grösserem Erfolg ("Christusmord").

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Reichs Begeisterung beim Eintritt in die Psychoanalytische Vereinigung ist sehr bald erheblich gedämpft worden. Die Auffassung der Analytiker von Sexualität, über die wir Reichs Urteil schon gehört haben, trug sehr zu einer anderen Haltung bei, die Reich 1935, aus taktischen Gründen nur auf IPV-Funktionäre bezogen, so beschrieb: "[Sie] sind derart verwachsen mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Gross- und Mittelbourgeoisie, sind selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, dass sie mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mussten. (RF, 256) (40) Taktisches Manövrieren war, wie Reich meinte, nie seine Stärke gewesen, und er sah das als eine seiner guten Eigenschaften. So hätte er auch obige Charakterisierung nicht auf einige "Rädelsführer" beschränken brauchen, denn er war de facto  schon längst isoliert. Die meisten Analytiker waren schwache Mitläufernaturen und hatten ihr Fähnchen frühzeitig nach dem Wind gehängt. Und auch die Theorie war ja, von Freud selbst, längst so geändert, dass der Konflikt mit ihr entfiel. Auf der Seite von Reichs Sympathisanten, ohnehin gering an Zahl, sah es laut Reich so aus: "Gerö erklärte, dass er auf meiner Seite ist, aber nicht dafür kämpfen wolle... Lantos sagte mir, dass sie mit mir sympathisiere, aber dass es nicht ihre Sache sei und sie keine Risiken eingehen wolle." Das akzeptierte Reich eher als dies: "Fenichels Haltung ist unaufrichtig, denn er ist gefangen in einem Konflikt zwischen Wollen und Können. (RF, 200)

Ambivalente oder abwartende Sympathisanten mit Zuschauermentalität, Freuds hinhaltendes Schulterklopfen und die Verborgenheit der Aktivitäten derer, die ihn bekämpften, erschwerten Reich die reale Einschätzung seiner Lage. Doch schon 1926, drei Jahre nach erstmaliger Präsentation seiner Genitalitätstheorie, beschwerte sich Reich in einem Brief (den er nicht absandte) an seinen ehemaligen Lehranalytiker und noch nicht als solchen erkannten Intimfeind Paul Federn, der damals eine Schlüsselposition innehatte, über den "Boykott meiner Person" bei der Besetzung von Posten

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in der Wiener Vereinigung und über "all die kleinen Schikanen -- so ungreifbar, aber deswegen nicht weniger schmerzlich -- die ich nicht aufzählen kann, ohne mich lächerlich zu machen." (RF, 148 ff) Im gleichen Brief kritisierte Reich auch verschiedene Missstände in der Vereinigung, wie das Desinteresse am Ambulatorium und vor allem die "Vogel-Strauss-Haltung" gegenüber der desolaten Situation psychoanalytischer Theorie und Praxis.

Reichs erster Eindruck von den Psychoanalytikern als "wissenschaftlichen Kämpfern" in feindseliger Umwelt korrigierte sich durch den Umgang mit ihnen: "Ich trat damals [etwa 1926] in die Periode ein, die jeder erwachende Mensch durchmacht. Ich begann, die Öde der gesellschaftlichen Gespräche zu spüren. ... Ich wurde zwar oft zu Abenden bei Kollegen eingeladen, doch ich lud immer seltener ein. Es schien mir eine Farce. Und ich verlor die Fähigkeit zu oberflächlichem gesellschaftlichem Ton." (41)

Durch sein Engagement am Ambulatorium war Reich mit einem Milieu in Berührung gekommen, das ihm nicht so verlogen und verspiessert erschien wie das der Analytiker. Mit einem Wiener Arbeiter befreundete er sich enger: "Zadniker war einfach, gerade, ohne Höflichkeit, aber auch ohne Hinterlist... Über sexuelle Probleme der Menschen, nicht nur der Arbeiter, konnte er ruhig, sachlich, ohne Spur von Zynismus sprechen... Es gab keine Frage meiner späteren Sexualökonomie, die er nicht automatisch, ohne Gelehrsamkeit, selbstverständlich, 'vom Bauch her' gewusst hätte... Er verstand, was Jahrzehnte Diskussion und Tausende Artikel den Psychiatern und Kulturträgern nicht beibringen konnten." (42)

Reich befand sich also schon bald in jener seltsamen Lage, in der sich auch heute der befände, der Reichs Arbeit produktiv weiterführen wollte. Potentielle Mitarbeiter mit fachlich-wissenschaftlicher Qualifikation "verstanden" ihn nicht, auch wenn sie "interessiert" waren; und jene Menschen, die ihn "ver-

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standen", waren nicht geeignet oder motiviert für eine Mitarbeit. In dieser Situation, hier freilich sehr reduziert dargestellt, brauchte Reich, der zur Resignation zu stark war, das illusionäre Bild von Freud, das er bis zu seinem Lebensende nicht ganz aufgeben konnte. Über die Funktion von Illusionen in Notsituationen schrieb er selbst, jedoch nicht explizit auf seinen Fall bezogen: "Illusionen sind also nicht nur irrationale Gebilde, sondern sie sind auch...kraftsteigernde Haltungen." (43)

Wenn Reich auch bald wenig Hoffnungen mehr gehabt haben mag, im "wissenschaftlichen Meinungsbildungsprozess" bei den psychoanalytischen Philistern echte Chancen zur "Mehrheitsbildung" zu haben, so setzte er doch lange Zeit noch auf Freud. Freud hatte persönliche Integrität, kompromisslose Wahrheitsliebe und Stehvermögen gegen eine feindselige Umwelt bewiesen und schien Reich in dieser Hinsicht und auch fachlich wohl als der einzige Ebenbürtige. Zudem war Freud für seine faire Haltung gegenüber Kritikern bekannt.

In der Tat wäre die Situation für Reich sehr günstig gewesen, wenn nicht "Freuds Sache", die Reich zu vertreten glaubte, nicht mehr die Sache Freuds gewesen wäre, ja es tatsächlich auch niemals wirklich gewesen war. Den Zugang zum Verständnis der Situation bildet die von Reich stets verdrängte, aber durchgängig vorhanden gewesene Grundhaltung Freuds: "Wir befreien die Sexualität ... um eine Unterdrückung möglich zu machen." Als Freuds Forschungen eine Eigendynamik entfalteten, die dieser Intention entgegenlief -- "starb" er. Seine Reaktion auf Reichs Weiterführung der ursprünglichen Psychoanalyse habe ich oben beleuchtet.

Reich versuchte, diese für ihn so hoffnungslose Situation zu bewältigen, indem er sein illusionäres Freud-Bild trotz aller Vorfälle nicht ganz aufgab. Er betonte stets, es gelte, nur gegen den bürgerlichen Kulturphilosophen Freud vorzugehen, der dem radikalen Naturwissenschaftler Freud im Wege stehe. Doch der reale Freud war natürlich eine Person, und

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zwar eine sehr einheitliche, ungespaltene. Reich indes erhielt sich sein IdeaI-Bild von ihm noch lange. 1942 schrieb er: "[1934] erlebte ich eine schwere Enttäuschung durch Freud, die -- ich bin froh -- nicht zu Hass und Ablehnung führte. Im Gegenteil, heute weiss ich Freuds Leistung weit besser und höher einzuschätzen..." (FO, 43) Und noch 1952 war Reich der Meinung: "Im Prinzip war Freud mit mir einig. Aber wenn es konkret wurde ... wandte er sich gegen die Sache und gegen mich." (RF, 85)

Eine drastische Revision seines Freud-Bildes, das immerhin auch aus einem Jahrzehnt in Freuds näherer Umgebung resultierte, wurde Reich erst aufgenötigt, als 1953 ein Buch erschien, das zudem noch in dem Ruf steht, Freud eher schönfärberisch dargestellt zu haben: der erste Band der grossen Freud-Biographie (über die Jahre1856-1899) von Ernest Jones. Dessen Lektüre veranlasste Reich zu einer Nachschrift zu dem Interview (RF, 129 f), das er ein paar Monate zuvor für das Freud-Archiv gegeben hatte. Nun erst sah er Freud nicht mehr bloss als wehrloses Opfer der von ihm geleiteten Organisation. Auch die Einschätzung, Freud sei "genital gesund" (!) gewesen, widerrief er jetzt. Schliesslich urteilte er: "Seine psychologischen Entdeckungen, so gross und entscheidend sie auch waren, stellen somit ein Weglaufen dar von der vollen Kenntnisnahme jener Aspekte seiner Entdeckung, die ich ein Jahrzehnt lang in seinem Namen verfolgt habe." (RF, 130)

Ähnliche Gedanken, die er allerdings bald wieder verdrängt zu haben scheint, hatte Reich schon 1935 in einem Brief an seine Schülerin Lotte Liebeck geäussert: "Neulich habe ich nach langer Zeit wieder einmal in den 'Drei Abhandlungen' [zur Sexualität, von Freud] gelesen; und ich war sehr erstaunt über einige Passagen daraus, speziell über Genitalität. Ich habe mir ernstlich Unrecht getan, indem ich so viele Jahre unter dem Eindruck gearbeitet habe, meine Theorie der Genitalität ginge auf Freud zurück. Das habe ich meinem Vaterkomplex zu verdanken. Ich hoffe, dass ich eines Tages eine klare Trennung vollziehen werde. ( RF, 213)

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Diese klare Trennung ist Reich nie ganz gelungen. Vaterkomplex und rein wissenschaftliche Differenzen in der Auffassung der Genitalität schützte er vor, um die simple Tatsache weiterhin ignorieren zu können, dass Freud von Anfang an und bis zum Ende auf einem letztlich sexualfeindlichen Standpunkt beharrte.

Ein Jahr nach der ernüchternden Jones-Lektüre lobte Reich erneut Freuds grossartigen Mut, so lange allein gestanden und an einigen grundsätzlichen Wahrheiten festgehalten zu haben. (RF, S.V, Motto) Er unterliess es aber, den fundamentalen Unterschied zwischen Freuds Isolation und seiner eigenen zu benennen:

Freud wurde angefeindet, weil und solange seine Zeitgenossen ihn NICHT verstanden, weil und solange sie NICHT einsahen, dass er ja im Grunde dasselbe wollte wie sie, nur mit effektiveren und subtileren, vor allem auch "aufgeklärteren" Mitteln: die Sicherung der Triebunterdrückung als notwendige Voraussetzung zur Aufrechterhaltung DIESER Kultur. Reich hingegen wurde zum einen ohnehin von denen angefeindet, die ihn NICHT verstanden (und mit Freud in einen Topf warfen), zusätzlich aber -- und darin liegt der so schmerzliche und gravierende Unterschied -- gerade auch von den wenigen, die ihn SEHR WOHL verstanden und von denen Freud der höchstkarätige und prominenteste war.

Dieser Einsicht ist Reich aus verständlichen Gründen (s. Zit. aus Brief an Neill, oben) stets ausgewichen. Es ist anzunehmen, dass er auch Band II der Freud-Biographie von Jones (1900-1919) gelesen hat, die 1955 erschienen ist und sein Freud-Bild sicher weiter demontierte. Wie auch immer: zum 100. Geburtstag Freuds 1956 schrieb Reich einen Artikel, in dem es heisst: "Hier sind die Fakten, die den rationalen Kern von Freuds Todestriebhypothese freizulegen scheinen, so unannehmbar diese auch ist, solange sie sich auf den Bereich der Tiefenpsychologie beschränkt. ...würdigen wir seine echte Vorahnung einer zukünftigen physikalischen Entdeckung [DOR=Deadly ORgone]." (44)

Was hatte Reich 1942 gesagt? "Auch ich könnte nachgeben und..."

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Anmerkungen:

(1) Béla Grunberger / Janine Chasseguet-Smirgel: Freud oder Reich?, 1979, Ullstein-TB 3583, S.139;
Helmut Dahmer: Libido und Gesellschaft, Frankfurt/M 1973, S. 372 ff;
Juliet Mitchell: Psychoanalyse und Feminismus, Frankfurt/M 1976, S. 165-260;
Russell Jacoby: Soziale Amnesie, Frankfurt/M 1978 (Suhrkamp es 859).

(2) nicht zu verwechseln mit der 1927er Ausgabe

(3) Um diese Anmerkungsliste nicht zu überlasten, werden für Werke, aus denen oft zitiert wird, folgende Siglen verwendet:
FO: Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus, Köln 1969
RF: Mary Boyd Higgins / Chester M. Raphael (ed.): Reich speaks of Freud, New York 1968 (Noonday #340)
FSI: Wilhelm Reich: Frühe Schriften I, Köln 1977

(4) Wilhelm Reich: Unser Glückwunsch an Freud, in: Z.f.Politische Psychologie und Sexualökonomie, 3(1936), S. 156

(5) Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd.III, Bern 1962, S.229

(6) Dies wurde erst nach Inkrafttreten des Freedom of Information Act  bekannt; zitiert nach: Jerome Greenfield, W.R. vs. the U.S.A., New York 1974

(7) siehe Anm.(3)

(8) vgl. Martin Grotjahn: Freuds Briefwechsel. In: Die Psychologie des XX. Jahrhunderts, Bd.II,
Freud und die Folgen (1), München 1977, S. 98

(9) Sven Olaf Hoffmann: Charakter und Neurose, Frankfurt/M 1979, S.54

(10) vgl. Bernd A.Laska: Über Erich Fromm. In: Wilhelm-Reich-Blätter, Nr. 5,6/79

(11) Hoffmann, a.a.O., S. 310

(12) siehe Wilhelm-Reich-Blätter, Nr. 2/80, S. 64

(13) siehe Wilhelm-Reich-Blätter, Nr. 2/80, S. 66

(14) Wilhelm Reich: Charakteranalyse, Köln 1970, S. 160

(15) und (16) entfallen

(17) zit.n. Paul Roazen: Sigmund Freud und sein Kreis, Bergisch Gladbach 1976, S. 509

(18) Ernest Jones, a.a.O., Bd.I, S.228

(19) zit.n. Roazen, a.a.O., S. 171

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(20) Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), Fischer-TB 6390, S.139

(21) Reich: Charakteranalyse, a.a.O., S. 201

(22) Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917), Fischer-TB 6348, S. 305

(23) Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Fischer-TB 6044, S. 88

(24) Freud: Vorlesungen..., a.a.O., S. 280

(25) Freud: Drei Abhandlungen..., a.a.O., S. 88

(26) Sigmund Freud: Die endliche und die unendliche Analyse (1937), in: Ges.Werke XVI, S. 71

(27) Sigmund Freud / Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel, Frankfurt/M 1966, S. 109

(28) zit.n. Jones, a.a.O., Bd. III, S. 519

(29) Richard F. Sterba: Unpublizierte Diskussionsbemerkungen Sigmund Freuds. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. X, Bern/Stuttgart/Wien 1978, S. 213 f

(30) Hans Lobner: Die behandlungstechnischen Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. In: Jahrbuch..., a.a.O., S. 171

(31) in (30) abgedruckt

(32) zit.n. Jones, a.a.O., Bd.I, S. 228

(33) Wilhelm Reich: I. Bericht über das "Seminar für Psychoanalytische Therapie".... In: Int. Z. Psychoanalyse, 13 (1927), S. 242

(34) Hoffmann, a.a.O., S. 305, 307

(35) Freud: Neue Folge..., a.a.O., S. 147

(36) Kapitel II/V in Reich, Charakteranalyse, a.a.O.

(37) s.a. Jones, a.a.O., Bd.III, S.200

(38) Siegfried Bernfeld: Die kommunistische Diskussion um die Psychoanalyse und Reichs "Widerlegung der Todestriebhypothese". In: Int.Z.Psychoanalyse, 18 (1932), S. 352 ff

(39) Original in: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, 2 (1935), S. 54 ff; s.a. Wilhelm Reich: People in Trouble (1953), Noonday #438, New York 1976, pp. 224 ff

(40) Wilhelm Reich (anonym): Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. In: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, 2 (1935), S. 54

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(41) Wilhelm Reich: People in Trouble, a.a.O., p. 107
zit. n. dt. Originalmanuskript

(42) ebd., p. 103

(43) ebd., p. 69

(44) Wilhelm Reich: Re-Emergence of Freud's "Death Instinct" as "DOR" Energy. In: Orgonomic Medicine, 2 (1956), pp. 4, 11

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DOKUMENTARISCHER ANHANG

Auszüge aus Besprechungen der Bücher Reichs:

Der Triebhafte Charakter (1925)

Das Reich'sche Buch stellt einen sehr hoffnungsvollen und viel versprechenden Schritt in dies noch so dunkle Gebiet (die Pathologie des Ichs) dar. ... Reich hat völlig recht, wenn er einleitend eine psychoanalytische Charakterlehre als ideale Voraussetzung für eine wirksame Therapie erklärt. ... Die Lektüre des geistreichen Buches ist für den Psychoanalytiker ein Genuss. Leider wird dieser an manchen Stellen durch formale und terminologische Unachtsamkeiten sehr beeinträchtigt. Wir hätten ein so gedankenreiches und ausgezeichnetes Buch, das eine solche Fülle von Problemen aufwirft und zum Teil auch löst, das so vielfachen Gesichtspunkten Rechnung trägt und zur Psychologie des Ichs so viel Neues überzeugend zu sagen weiss, gerne auch von solchen Schlacken frei gesehen.

Otto Fenichel
Int.Z.PsA., 11 (1925), S. 381-387


Die Funktion des Orgasmus (1927)

Das für die psychoanalytische Forschung so bedeutungsvolle Thema dieses Buches, die Funktion des Orgasmus, hat merkwürdigerweise vor Reich nur sehr wenig Beachtung gefunden. ... Für die Beurteilung der scheinbar sexualbefriedigten Neurotiker wird der wertvolle Begriff der

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"orgastischen Impotenz" eingeführt. ...
So weit ist Reich rein klinisch. Es handelt sich um die ausserordentlich dankenswerte Beschreibung eines Hemmungsgebietes, das, da es bei keiner Neurose fehlt, für den Praktiker von besonderer Wichtigkeit ist. Was nun folgt, ist Theorie, durchwegs anregende, oft einleuchtende, leider nicht immer sehr klare. ...
Es ist nicht ganz klar, ob Reich diesbezüglich derselben Ansicht (wie Freud, über genuine Triebambivalenz) ist. Einzelne Stellen lassen vermuten, er meine, erst die Stauung der unbefriedigten Genitalität lasse die Qualität "Destruktion" entstehen. ...
Das letzte Kapitel über "die soziale Bedeutung der genitalen Strebungen" enthält sehr wertvolle Anregungen, zum Teil Dinge, die sich dem praktischen Psychoanalytiker täglich aufdrängen, ohne dass sie bisher wissenschaftliche Würdigung gefunden hätten...
Den Auseinandersetzungen, die man unter das Schlagwort fassen könnte, "Sexualbefriedigung und Sublimierung sind keine Gegensätze", wird man beipflichten. ...
Es folgt noch eine Apologie der Formulierung, der Psychotherapeut müsse die orgastische Potenz des Patienten wiederherstellen, die uns fast überflüssig zu sein scheint. ...
Über die wissenschaftliche Bedeutung dieses Buches muss das Referat selbst genügenden Überblick gegeben haben. Ein Schlusswort gelte seiner allgemeinen Bedeutung: Immer noch wird die Sexualität aus affektiven Gründen in ihrer Bedeutung nicht erkannt. Auf diesem Grenzgebiet gegenüber der Biologie immer mehr und genauer zu arbeiten, steht dem Psychoanalytiker wohl an, denn hier und nur hier sind die noch fehlenden oder noch problematischen Hauptpunkte der analytischen Theorie zu klären. Allzu wenig wurde in der analytischen Literatur bisher die Psychologie der eigentlichen Sexualvorgänge beachtet. Es kann ein Mahnruf an uns alle sein: Auf diesem unseren eigensten Gebiete ist noch viel zu holen...

Otto Fenichel
Int.Z.PsA., 16 (1930), S. 511-521 (vgl. im Text S. 143)


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Die Funktion des Orgasmus (1927)

Zum Unterschied von manchen neueren Arbeiten der Freudschüler verlegt sich R. nicht nur aufs Behaupten, sondern er sucht, wenigstens im Hauptteile, ernstlich Beweise zu geben, die allerdings mit den nicht untersuchten Grundbegriffen der Psychoanalyse stehen und fallen. In dem Kapitel "Über die soziale Bedeutung der genitalen Strebungen" werden manche gewiss richtige neue Zusammenhänge hübsch dargestellt neben anderem, das wenigstens dem Ref. noch problematisch erscheint... Die "bürgerliche" Moral wird zwar nicht in fanatisch absprechender Weise behandelt, aber wie ich glaube, doch etwas zu wenig gewürdigt; es wird zu sehr übersehen, dass sie sich mit Notwendigkeit aus unserer Biologie heraus entwickelt hat und noch nicht durch etwas Besseres ersetzt worden ist. Eine neue Färbung erhält das Buch auch dadurch, dass die Kranken anderen Kreisen entstammen, als die gewohnten Objekte der psychoanalytischen Forschung.

Eugen Bleuler
Mü. Med. Wo. schr., 74 (1927), S. 1425 f


Die Funktion des Orgasmus (1927)

Dieser ausserordentlich wertvollen und inhaltreichen Arbeit ist es wirklich gelungen, die Freud'sche Sexualtheorie und Neurosenlehre, auf die sie sich stützt, an Hand eines beträchtlichen Materials inhaltlich auszugestalten und gedanklich zu vertiefen. Ersteres, indem sie die Bedeutung des genitalen Orgasmus für Aufbau und gesamte Psychoplastik der Neurose zum erstenmal mit voller psychologischer Systematik aufhellt; und zu vertiefen, indem sie die Freud'sche Lehre von den Aktualneurosen exakter mit einem psychologischen und physiologischen Sinn zu erfüllen weiss. ... [Im ersten Teil] bringt der Verfasser eine Fülle des Beobachtungsmaterials, die dem Buch weit über die Grenzen der psychoanalytischen Voraussetzungen hinaus seinen klinischen und phänomenologischen Wert

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verleihen. Wenn auch Einzelbeobachtungen und Erklärungsversuche -- oft etwas schematisch und konventionell -- in die Sprache der Libidotheorie gekleidet sind, so ist doch das Bestreben des Verfassers rühmlich, jede Formulierung kasuistisch zu belegen und alle spekulativen Formulierungen zu vermeiden. ...
Er warnt, namentlich gegen Rank gerichtet, vor methodisch ungenauem Deuten, das häufig von "einer blossen Analogie auf Identität" schliesst, und ist ständig sorgsam bemüht, das wirklich Tatsächliche über seine Probleme zusammenzutragen. ...
Das Werk erfordert vertieftes und ernstes Mitgehen des Lesenden. Dann wird es jedem Psychologen, Psychiater und Sexualforscher -- keineswegs nur dem analytisch Eingeschworenen -- eine Fülle von Erkenntnissen vermitteln und vielen bisher Ablehnenden die psychoanalytische Forschungsweise näherbringen.

Arthur Kronfeld
Arch. Frauenk., 14 (1928), Heft 3, S. 271-272
[Anm. 8.10.2001: Über Arthur Kronfeld]


Die Funktion des Orgasmus (1927)

Es hat keinen Sinn, bei der Besprechung von Büchern, wie dem vorliegenden, immer wieder erst die wissenschaftlichen und methodischen Grundlagen der Psychoanalyse zu kritisieren. ...
Wenn man mit dieser Einstellung (Voraussetzungen unter diesem Vorbehalt anerkennen) an das Buch von Reich den Massstab des Kritikers anlegt, so ergibt sich das Vorliegen einer Arbeit von wissenschaftlichem Rang. ...
Therapeutisch erstrebt Reich, indem er die auch von Anhängern der Psychoanalyse vielfach vertretene Auffassung von ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch ein synthetisches Verfahren ablehnt, ...nur eben eine Synthese ohne jede Überredung und der Persönlichkeit des Patienten fremde Idealsetzung. ...
...erschliesst Reich sehr fesselnde Ausblicke..., und was er hier ... ausführt, ist zwar ... von der höchst subjektiven Wertsetzung des Verfassers eingeengt, aber dennoch reich an vorzüglichen Beobachtungen und treffenden Urteilen.

Max Marcuse,
Z. Sex. Wiss., 14 (1927), Heft 8


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Charakteranalyse (1933)

Als Ausgangspunkt für seine Darlegungen dient Reich die Leugnung einer für uns feststehenden Tatsache der Triebpsychologie, die Leugnung nämlich der Tatsache der genuinen Triebambivalenz. ...
Was nun Reich als seine Charakterologie versucht, ist eine Metapsychologie der Abwehrhaltungen, ... [die er] an einigen sehr schönen und ausgezeichnet analysierten Beispielen darstellt. ...
...liefert dazu ausgezeichnete Krankengeschichten, in denen er sich als Kliniker wie als Beherrscher der analytischen Technik in bestem Lichte zeigt. ...
Nunbergs Kritik an den Reich'schen Arbeiten, 1928 ...ausgesprochen, besteht auch für das neue Buch Reichs zu Recht: "...Abgesehen davon, dass alle diese Entdeckungen keine Neuentdeckungen sind, dass sie längst im psychoanalytischen Lehrgebäude ihren richtigen Platz gefunden haben..."

Richard Sterba
Int. Z. PsA., 20 (1934), S. 400-403


Charakteranalyse (1933)

Ohne sich um den neuen Weg, den uns Freud im Jahre 1920 gezeigt hat, zu kümmern, lässt Reich nicht nur den Hass aus der Liebe durch Versagung an der Aussenwelt entstehen, sondern auch die Angst, den Sadismus und den Masochismus. Das ist vielleicht doch etwas zu viel...
Der Analytiker ist durch seine Arbeitsweise der Gefahr ausgesetzt, durch Übereinstimmung an einigen Fällen fasziniert, verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen, die dem Reichtum der Erscheinungen nicht gerecht werden. Hoffen wir, dass auch Reich selber jenen im Rahmen des Lustprinzips unauflöslichen Rest neuerdings zu entdecken Gelegenheit finde, welchen Freud auf den Todestrieb zurückgeführt hat.

O. Sperling
Int.Z.PsA., 20(1934), S.403-405


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Charakteranalyse (1933)

R. ist ein Einzelgänger, der etwas zu sagen hat, schon deshalb, weil er sehr vieles und dies sehr scharf gesehen hat und sein Handwerk gut versteht, wofür (trotz aller Einwände) das Buch vortreffliche Rechenschaft ablegt...
In dem Buch, gegen das vor allem einzuwenden ist, dass hier der Begriff Charakter sehr weit genommen wird...
Es ist hier nicht der Ort, auf gewichtige Einwände einzugehen wie z.B. die Überbewertung der genitalen Sexualität.

Karl Landauer
Zeitschrift für Sozialforschung, 3 (1934), S. 106 f


Charakteranalyse (1933)

Dieses Buch verdient ganz besonders hervorgehoben zu werden. Aus zwei Gründen: Einmal, weil diese Anleitungen zur Therapie zum klarsten und eindeutigsten gehören, was die psychoanalytische Literatur hervorgebracht hat. Mehr noch: Weil hier die wesentlichsten psychoanalytischen Tatbestände zum erstenmal unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des neurotischen Charakters und seines in der Behandlung sich enthüllenden Aufbaus einer natürlichen, für den Praktiker unmittelbar verständlichen Ordnung sich fügen. Denn nicht neue Wunder aus dem Unbewussten werden enthüllt; gefasst wird die libido-ökonomische Struktur der Persönlichkeit von der Charakter-, besser gesagt: von der Ich-Seite her. -- Der zweite Grund, dieses Buch den Interessenten nahezulegen, ist ein negativer: So selbständig und erlebnisnah die praktisch-psychologische Seite aufgebaut ist, so abhängig und unselbständig gestalten sich die Versuche der theoretischen Verankerung. Einmal leidet das Buch, wie alle psychoanalytischen Arbeiten, an einem beinahe ostentativen Vorbeigehen an den Problemen der modernen Psychologie und Biologie. ...
Nach Reichs Meinung ist der Charakter lediglich als Produkt der Auseinandersetzung des Kindes mit der

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Aussenwelt zu verstehen. Der Verf. übersieht dabei, dass die psychoanalytische Methode nur einen bestimmten, allerdings den klinisch wichtigen Anteil des Charakters in der Form von Kindheitserlebnissen erkennt, versteht und angreift. ...
[Dies ist] eine unzulässige Einengung des Charakterbegriffs...
Dies musste gesagt sein, um den Lesern Mut zu machen, an diesen Klippen nicht kopfschüttelnd zu scheitern. Denn die eigentliche These des Buches, die Führung durch die Technik, entschädigt reichlich für den primitiven Positivismus des theoretisierenden Verfassers. Dieser Teil gehört zum besten und reifsten, was über Psychotherapie gesagt worden ist, und wenn ein Buch berufen ist, das Vertrauen in die kompromisslose psychoanalytische Therapie der Neurosen zu festigen, so ist es die Charakteranalyse von Wilhelm Reich.

Gustav Bally,
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 33 (1934), S. 153-155


Charakteranalyse (1933)

Von den Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Freud'schen Psychoanalyse möchte ich dieses Buch besonders hervorheben. Die Technik der Widerstandsanalyse und der Charakteranalyse wird klar und präzis beschrieben. Übertragung und Abbau der Übertragung werden meisterhaft geschildert...
Den schwachen Punkt des Buches bilden die Krankengeschichten, welche eine Unkenntnis der Traumdeutung bekunden. ...
Abgesehen von den Fehlern, wird jeder Psychotherapeut das Buch mit Genuss und Nutzen lesen.

Wilhelm Stekel,
Psychother.Praxis, 1 (1934), Heft 3


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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie

Schon der Titel der Zeitschrift weckt peinliches Befremden. Psychologie ist eine Wissenschaft, ein Stück Erkenntnis; Politik ist Zielsetzung. ...
Wenn R. dabei (im Aufsatz "Zur Anwendung der Psychoanalyse in der Geschichtsforschung") psychoanalytische Probleme berührt, bezeugt er ein Missverstehen elementarer psychoanalytischer Begriffe, das befremden muss...
Es hat schon viele Richtungen gegeben, welche sich der Psychoanalyse bedienen... Wie ist es zu rechtfertigen, gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksamkeit zu widmen? Nun, an der Spitze dieser Bewegung steht ein Mann, der durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich gewirkt hat. ... Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muss denn in aller Klarheit gesagt werden, dass ... niemand, der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen...

R[obert] W[älder]
Imago, 20 (1934), S. 504-507


Psychischer Kontakt und Vegetative Strömung (1935)

Wiederum streut Reich, der eigenwillige, hochbegabte aber allzustürmische Schüler Freuds, eine Fülle neuer Fragestellungen und produktiver Anregungen in einer recht wirbligen Art aus. Das Fundament, auf dem seine Empirie steht, ist eine biologisch-soziologische Dialektik, deren Auswirkungen notwendigerweise dazu führen müssen, dass Reichs Weg sich sowohl von dem der IPV trennt (R. ist bekanntlich aus dieser Vereinigung ausgeschlossen worden) -- als auch von dem der Wissenschaft (in ihrem bisherigen Sinn). Diese tief bedauerliche Tatsache wäre nur durch eine "Charakter-Analyse" Reichs zu beheben; und da zu fürchten steht, dass R. die subjektiven Voraussetzungen seiner aggressiven Haltung zur Welt nicht opfern wird, so müssen wir uns damit bescheiden, es

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zu beklagen, dass einer der Besten, ein Mann von schöpferischen Gaben, für unsere wissenschaftliche analytische und therapeutische Kooperation in Zukunft verloren sein wird, um seine eigene bizarre und unfruchtbare Bahn in die konstruktive Eigenbrötelei zu ziehen. Noch ist es nicht ganz so weit; neben bedenklichen Ansätzen nach dieser Richtung findet sich wertvollstes Gut...
Wir wünschen aufrichtig, dass Reich sich aus diesem Irrweg frei machen und den ihm gebührenden Rang in einer auf gegenseitigem Verstehen gegründeten analytischen Kooperation wieder einnehmen möge!

Arthur Kronfeld
Psychother.Praxis, 3 (1936), Heft 1, S. 51-52
[Anm. 8.10.2001: Über Arthur Kronfeld]


Besprechung von:

Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen.

Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936.
Aus: [Reichs] Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, 4 (1937), S. 226

Aus einer Reihe von Eindrücken, die bei der Lektüre des letzten Buches von Anna Freud entstehen, seien drei hervorgehoben, die mir besonders charakteristisch erscheinen. Einmal fällt hier wieder die ausserordentlich weitgehende Schematisierung der Begriffe Ich, Es und Über-Ich auf, wie wir sie in der gesamten psychoanalytischen Literatur finden. Kaum etwas spricht noch dafür, dass diese Begriffe einst abkürzende Bezeichnungen höchst lebendiger Prozesse waren. Auch Anna Freud hat diese Begriffe verabsolutiert und arbeitet mit ihnen wie mit scharf abgegrenzten Systemen.

Aus dieser Starrheit lässt sich zweitens auch erklären, dass Anna Freud die Charakteranalyse im Grunde nicht verstehen konnte, obgleich sie sicher von sich aus eine Bereitschaft dazu hatte. Die Art ihres Denkens in den vorher genannten abgrenzbaren Systemen

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hindert sie, gerade das IneinanderspieIen im charakteranalytischen Prozess zu erfassen. Für sie sind die Bearbeitung des Ichs und des Es zwei von einander getrennte Dinge. So schreibt sie: "Eine Technik, die extrem nach der anderen Seite arbeiten, also die Analyse der Widerstände ausschliesslich in den Vordergrund rücken würde, hätte in ihren Ergebnissen auch die Lücken auf der andern Seite. Wir bekämen auf diese Weise ein vollständiges Bild des Ich-Aufbaus im Analysierten, würden aber auf die Tiefe und Vollständigkeit seiner Es-Analyse verzichten müssen." (S.32) Sie kann sich demnach nicht vorstellen, dass gerade die genaueste Analyse des Ich die beste Möglichkeit gibt, das Es aus allen Tiefen herauszuholen, in die es ja gerade durch die Abwehrhaltung des Ich hineingedrängt war, -- wenn man diese Vorgänge in der psychoanalytischen Sprache benennen will.

Geradezu erschütternd ist aber das Missverhältnis zwischen Beobachtung und Auswertung, wie wir es schon in ihren pädagogischen Schriften kennen gelernt haben. Es würde zu weit führen, es an allen Stellen nachzuweisen. Ich greife hier nur als Beispiel einige Punkte aus ihrer Behandlung der Pubertätsfrage heraus. Sie beschreibt zunächst wieder mit grosser Klarheit und vollkommen richtig die wichtigsten Pubertätserscheinungen, ihre Verläufe, Vielfältigkeiten etc. Sie stellt dann eine Fülle von Vermutungen und Hypothesen über die Entstehung, die Kämpfe auf, die zu den Erscheinungen geführt haben. Dabei lässt sie sich zu folgender Behauptung hinreissen: "Das analytische Studium der Neurosen hat nun schon seit langem zu der Vermutung geführt, dass im Menschen eine Neigung zur Abweisung bestimmter Triebe, besonders der Sexualtriebe, ohne alle Erfahrung und ohne spezielle Auswahl aus phylogenetischer Erbschaft schon von vornherein vorhanden ist..." (S.181) Sic! Und bei der Beurteilung der Verstandestätigkeit kommt sie zu nicht minder merkwürdigen Ergebnissen: "Reale Gefahr und reale Entbehrungen spornen den Menschen zu intellektuellen Leistungen und Lösungsversuchen

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an, während reale Sicherheit und Überfluss eher dumm und bequem machen." (S.189) Wir werden uns bei dieser Einstellung nicht wundern, wenn sie die Verstandesarbeit, die das Ich in der Latenzzeit leistet, viel höher bewertet als die intellektuellen Leistungen in den Zeiten gesteigerter Sexualität.

Bei all ihren Untersuchungen vergisst sie nur eine: wie nämlich alles aussehen würde, wenn der Jugendliche die ihm zukommende sexuelle Befriedigung ohne Angst und Schuldgefühle geniessen könnte. Was dann mit der Angst vor dem Trieb und mit den Perversionen und andern schrecklichen Dingen geschähe.

Die Zusammenstellung dieser 3 Punkte erfolgte nicht zufällig. Sie haben alle eine gemeinsame Grundlage: Die Unfähigkeit, das Leben in Bewegung sehen zu können und nicht an die Naturgegebenheit bestehender Tatsachen glauben zu müssen. Sie sind wieder ein Beweis dafür, dass auch das richtigste und klarste Beobachtungsmaterial nichts nützt, wenn die Grundhaltung durch all die uns bekannten Momente des bürgerlichen Wissenschaftlers starr bleiben muss.

[Lotte] L[iebeck]

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