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Bernd A. Laska

Wilhelm Reich als Faschismusforscher

Vorbemerkung: Dieser Aufsatz entstand 1995 und erschien als ein "Portrait" Reichs in dem Band: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid (Hg.): "Meinetwegen ist die Welt erschaffen". Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Portraits. Frankfurt: Campus Verlag 1997. S.219-222.
[Reich über sein Verhältnis zum Judentum]

Vorgegeben war neben dem Eingangszitat die maximale Seitenzahl 4, was eine grosse textliche Konzentration erforderte (nach Drucklegung zeigte sich, dass kaum einer der anderen Autoren sich an diese Vorgabe gehalten hat: mehrere Beiträge umfassten gar mehr als 20 Seiten). Ich möchte dennoch die Gelegenheit einer (gewiss an manchen Stellen nützlichen) Erweiterung des Textes nicht wahrnehmen und ihn hier erneut in seiner ursprünglichen, konzisen Fassung vorlegen.

 

"Faschismus ist das Resultat jahrtausendealter Verunstaltung der Menschen"

Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971. S.311
(Dies ist die deutsche Erstauflage einer 1945 erstmals in englischer Sprache erschienenen, stark revidierten und erweiterten Fassung des 1933 im dänischen Exil unter gleichem Titel erschienenen Buchs)


Wilhelm Reich (1897-1957) stammte aus der Bukowina, dem östlichsten Teil der Donaumonarchie. Da schon seine Eltern, die einen Gutshof betrieben, sich aus der jüdischen Tradition ihrer Familien gelöst und vollständig der deutschen Kultur assimiliert hatten (ohne jedoch einer christlichen Kirche beizutreten), hatte er zum Judentum keine innere Beziehung. 1918, nach einer von tragischen Ereignissen überschatteten Jugend (Selbstmord der Mutter u.a.) und dreieinhalb Jahren Kriegsdienst, ging Reich, nunmehr mittellos, nach Wien und studierte Medizin (Dr.med. 1922). Bereits als Student, 1920, wurde er Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Reichs Karriere als Psychoanalytiker, die eine Zeitlang glänzend verlief, endete 1934 mit dem Ausschluss aus allen psychoanalytischen Organisationen. Der Hintergrund dieses beispiellosen Vorgangs ist komplex und noch immer wenig bekannt. Die Auffassung, Reich sei wegen politischer Aktivitäten, die er seit 1927 im Rahmen von Organisationen der Arbeiterbewegung betrieben hatte (aber: die SPÖ schloss ihn 1930 aus, die KPD 1933), für Freud und die Psychoanalytiker 1934 untragbar geworden, ist alles andere als plausibel, gleichwohl weit verbreitet. Der wahre, nie genannte Grund dafür, dass Reich zur Unperson der Psychoanalyse wurde, liegt in dem fundamentalen Gegensatz, in dem die anthropologischen Positionen Freuds und Reichs zueinander stehen.

Unter den Erschwernissen des Exils (ab 1933 in Skandinavien, ab 1939 in den USA) versuchte Reich, die Eigenständigkeit seiner Position zu konsolidieren, indem er seine psychologischen und soziologischen Erkenntnisse durch eigene physiologische, biologische und später auch physikalische Forschungen untermauerte. Er entwickelte seine psychotherapeutische Technik (die aus der Psychoanalyse hervorgegangene "Charakteranalyse") durch Einbeziehung des gesamten Organismus, insbesondere seiner vegetativen Funktionen, zur "Vegetotherapie" weiter (weshalb er heute oft auch als "Vater der Körpertherapien" bezeichnet wird); und er drang durch gezielte experimentelle Forschung in immer elementarere Bereiche

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vor, bis er mit dem von ihm so genannten "Orgon" die "primordiale" kosmische Energie entdeckt zu haben behauptete. Im Streit darüber kam es 1956 in den USA zu einer gerichtlich angeordneten Bücherverbrennung; Reich musste ins Gefängnis, wo er nach einem halben Jahr verstarb.

Reichs "interdisziplinäres" Wirken im Alleingang muss seltsam anmuten; sein Werk, soweit es wissenschaftlich zu sein beansprucht, kann hier jedoch nicht zur Debatte stehen. Aber auch das oben als Themenstellung vorgegebene Zitat kann Zweifel an der Seriosität seines Autors wecken. Es ist keineswegs aus dem Zusammenhang gerissen. Sein Kontext schränkt seine Aussage nicht ein, bekräftigt sie eher noch. Denn dort heisst es weiter: der Faschismus "ist keine spezifisch deutsche oder italienische Charaktereigenschaft. Er wirkt in jedem einzelnen Erdenbürger." Und zuvor ist als "Tatsache" festgestellt: "Die Menschenmassen sind infolge jahrtausendealter sozialer und erzieherischer Verunstaltung biologisch versteift [s.u.] und freiheitsunfähig geworden."

Alle Menschen sind also (latente, potentielle) "Faschisten". Die Faschismusforschung hat mit Reich nie viel anfangen können. Reich erhielt zwar gelegentlich, wegen seiner 1933 erschienenen »Massenpsychologie des Faschismus«, eine Art Ehrenplatz als einer der ersten, der die Gefährlichkeit des Faschismus erkannt, dessen Erfolge mit psychoanalytischen Mitteln analysiert und ihn mit persönlichem Einsatz bekämpft hat; er wird neuerdings gar als konsequenter Antifaschist, der einer beschämenden appeasement -Politik der psychoanalytischen Funktionäre (incl. Freuds) zum Opfer gefallen sei, zu rehabilitieren versucht. [Vgl. »Der "Fall" Wilhelm Reich«] Aber als Faschismusforscher zählt er kaum noch. Bestenfalls sieht man ihm Äusserungen wie die zitierten aus dem Jahre 1943 nach, weil er unter den Bedingungen des Exils "zusammengebrochen" sei.

Reich reüssierte bisher eher in wissenschaftsfernen Kreisen: zu Zeiten der Studentenbewegung als "Funktionär des Orgasmus" (Konkret, 1969), derzeit, bei den Verkündern des new age,  als "Regenmacher" u.ä. (Verlag 2001). Die wenigen seriösen Mediziner, die sich mit seinen Arbeiten befassten, fallen kaum ins Gewicht. Die Würdigung Reichs, die der angesehene Philosoph Paul Edwards -- übrigens auch ein Wiener Emigrant -- in der »Encyclopaedia of Philosophy« gab, blieb ohne Echo.

Es gibt also genügend Gründe, die nähere Beschäftigung mit Reich für entbehrlich zu halten. Dennoch und trotz des hier sehr beschränkten Raumes soll im folgenden zu umreissen versucht werden, warum Reich heute und wohl noch für lange Zeit eine hohe (potentielle) "Aktualität" besitzt.*
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  * Für eine ausführlichere Darstellung vgl. meinen Artikel »Wilhelm Reich« in: Lexikon der Anarchie, hg.v. Hans Jürgen Degen, Bösdorf 1993ff.

Reichs noch kaum erkannte Bedeutung liegt, wie die obigen Zitate signalisieren mögen, in seiner radikalen Untersuchung der Problematik der menschlichen "Freiheit". Er steht dabei in der Nachfolge des "Anarchi-

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sten" Max Stirner (1806-1856), der -- nicht zuletzt von den Anarchisten -- gleichermassen zum maudit  und zur Unperson gestempelt wurde wie Reich.

Dass die psychoanalytischen Entdeckungen eine ganz ausserordentliche Bedeutung für die Erhellung der Freiheitsproblematik haben müssten, sahen bereits um 1908 zwei von Freuds ersten Schülern: Sándor Ferenczi und Otto Gross. Sie meinten, dass nun -- erstmals in der Geschichte -- die realistische Möglichkeit bestehe, eine Entwicklung einzuleiten, die den wirklich freien, autonomen, selbstbestimmten Menschen hervorbringt.
[2002: vgl. »Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich«]

Freud bremste diese "anarchistischen" Vorstösse jedoch mit dem Machtwort "Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben!". Die Folge war, dass die therapeutische Psychoanalyse als Ziel ihrer Bemühungen, als Heilungs- bzw. Gesundheitskriterium, nur ein sehr fragwürdiges nennen kann: die Realitätstüchtigkeit und Angepasstheit des Individuums in der jeweils vorgefundenen Gesellschaft.

Reich, der von jenen gescheiterten Vorstössen nichts wusste, avancierte in den 20er Jahren schnell zu einem der angesehensten Kliniker der Psychoanalyse -- bis er, auf der Basis der Freud'schen Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, ein Gesundheitskriterium entwickelte, das nicht solchermassen beliebig, sondern an der psycho-physischen Organisation des Menschen orientiert war: die sog. orgastische Potenz. Der nach diesem Kriterium Gesunde wäre (was hier nicht begründet werden kann) zugleich der wahrhaft freie bzw. freiheitsfähige, sich selbst steuernde Mensch. Mit diesem Konzept und seinen weitreichenden Implikationen zog Reich sich die unversöhnliche, gleichwohl nur im Verborgenen aktiv gewordene Feindschaft Freuds und vieler Psychoanalytiker zu.

Die Bedeutung seines Gesundheitskriteriums für die therapeutische Praxis schätzte Reich indes nur gering ein; denn die Pandemie der Neurose (die auch Freud zugab) war durch Therapie Einzelner nicht zu bekämpfen. Reich sah seine Arbeit deshalb hauptsächlich als Grundlagenforschung für eine Neurosenprophylaxe im Massenmassstab, ein sich über Generationen erstreckendes Projekt.

Neurosenprophylaxe gebiete, da "Erziehung" als (weitgehend unbewusst wirkende) Neurosenverursachung nicht abschaffbar ist, für den Erziehenden zunächst die Beachtung einer negativen Regel: Beschränkung auf die notwendigsten Massnahmen -- jedoch keine "Permissivität". Generell geht es darum, zu verhindern, dass dem Individuum ein Über-Ich im Freud'schen Sinne introjiziert wird, denn dieses, das ihm später als Quell autonomer Werturteile erscheint, ist in Wahrheit der Inbegriff von Heteronomie, von Unfreiheit. Dabei ist irrelevant, welche Werte derart verinnerlicht werden; entscheidend ist der "neurotisierende" Vorgang. "'Moral' schafft

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erst dasjenige Triebleben, zu dessen sittlicher Beherrschung sie sich berufen ausgibt; und der Wegfall dieser Moral ist die Vorbedingung des Wegfalls der Unmoral, die zu beseitigen sie sich vergeblich bemüht." Die mehrtausendjährige Menschheitserfahrung belege zur Genüge die Kontraeffektivität der Verhaltenssteuerung durch ein irrational erzeugtes "Über-Ich".
[Vgl. »Die Negation des irrationalen Über-Ich bei Wilhelm Reich«]

Reich integrierte die Begriffe Freiheit und Gesundheit in ein umfassendes Konzept und versuchte, dies durch Ergebnisse aus den wichtigsten anthropologischen Disziplinen zu fundieren (die Rede von "biologischer Versteifung" in obigem Zitat erklärt sich so). Da dieses anspruchsvolle Konzept hier auf (fast unverantwortlich) stark vergröbernde Weise skizziert wurde, kann es nur eine ungefähre Vorstellung von Reichs singulärer Position vermitteln. Diese wird freilich nur den hellhörig und neugierig machen, der dem gegenwärtig dominierenden Freiheitsverständnis mit grosser Skepsis, aber ohne theoretischen Defaitismus gegenübersteht.

Die Quintessenz des Werks, das Reich hinterliess, hat letztlich unabhängig von der "wissenschaftlichen" Bewertung seiner Funde auf einzelnen Forschungsgebieten Bestand. Diese Philosophie, besser: diese Paraphilosophie Reichs ist indes nicht leicht zu eruieren. Reichs Werk gleicht einem Palimpsest, dessen psychoanalytische, marxistische und naturforscherliche Übermalungen der Grundschicht zwar einige ihrer Teile verdeutlichen, wichtige Strukturen aber verdecken. Dass dies so ist, liegt nicht zuletzt an Reichs äusserem Lebensschicksal. Reich wurde, wie viele in diesem Jahrhundert, von den Mächtigen verfolgt; er wurde aber zudem -- und dies zählt besonders -- von den selbst Verfolgten verfolgt, verfemt, vernichtet; er blieb stets Dissident unter Dissidenten. Ob und ggf. inwieweit sein Schicksal ein -- gar potenziertes -- "jüdisches" war, bleibe dahingestellt; Reich selbst sah es nicht so.*
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  * Vgl. dazu: Reich Speaks of Freud, ed. by Mary Higgins and Chester Raphael. New York 1967, pp. 60-63, 129;
für eine Kurzdarstellung von Leben und Werk vgl. Bernd A. Laska: Wilhelm Reich. Reinbek 1981, 5. Aufl.1999 (enth. Bibliographie)

Addendum:
Reich schrieb am 10. Mai 1954 an die Londoner anarchistische Zeitschrift »Freedom«:
"Not because it matters much, but merely for the sake of factual record I would like to correct your statement in one of your articles [17th April 1954] regarding my work to effect that I am 'jewish'.
I am not a Jew, either culturally, nationally, by way of education, religion, creed, habits, sympathies, nor do I feel, think, act or bring up my children as you would expect that a national or religious jew would do....."

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