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Bernd A. Laska

Die Negation des irrationalen Über-Ichs
bei Wilhelm Reich

[Wilhelm Reich als "pädagogischer" "Anarchist"]

Vorbemerkung

Diese 1991 verfasste Schrift ist eine von drei Arbeiten, die jeweils La Mettrie, Stirner bzw. Reich "...als 'pädagogischen' 'Anarchisten'" behandeln. Titel und Anführungszeichen wurden damals wegen des Ortes der geplanten Veröffentlichung gewählt (siehe Angabe bei der Stirner-Schrift). Der neu gewählte gemeinsame Titel soll deutlicher signalisieren, wovon diese Arbeiten handeln. Der alte Titel wurde als Untertitel bewahrt, denn Pädagogik und Anarchismus sind durchaus die Bereiche, in die die hier dargestellten Gedanken gehören -- wenngleich sie bisher dort noch nicht zu vernehmen waren.

»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie«
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner«

 


I. Die Reich-Renaissancen
II. Freud: "Wo Es War, soll Ich werden!"
III. Reich: Wo Über-Ich war, soll Ich werden!
IV. Epilog

Dem Vorhaben, den zwar weithin bekannten, aber nicht sonderlich renommierten Autor Wilhelm Reich (1897-1957) als eine wichtige Figur der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts vorzustellen, stehen mehrere schwer überwindbare Hindernisse entgegen. Einige davon entstanden aufgrund der zeithistorischen Kontexte der beiden Phasen, in denen Reichs postume Rezeption stattfand. "1968" wurde der frühe Reich als einer der ersten Freudomarxisten, als Antifaschist und als Künder einer "sexuellen Revolution" entdeckt. Nach dem Zerfall der Studentenbewegung entdeckte man den späten Reich als Therapieguru, als Pionier des New Age und als esoterischen Technologen ("Orgon-Energie"). Da diese populären Reich-Bilder in hohem Masse den Blick auf den singulären postfreudianischen Aufklärer verstellen, als der Reich vor allem von Bedeutung ist, wird in einem einleitenden Abschnitt kurz auf diese beiden "Reich-Renaissancen" einzugehen sein.

Weitere Hindernisse bleiben bzw. treten erst dann deutlich zu Tage, wenn man die oberflächlichen Sichtweisen, die als Resultate dieser Reich-Rezeptionen kursieren, ignoriert und sich ernsthaft mit Reichs Werk in seiner Gesamtheit befasst. Denn Reich sah sein Werk, das empirisch in viele Humanwissenschaften hineinreicht, als ein in erster Linie wissenschaftliches; als solches ist es jedoch in keinem Bereich anerkannt worden. Reich selbst, seine Schüler und seine heutigen Anhänger führen dies darauf zurück, dass die Entdeckungen, die Reich insbesondere in seiner zweiten Schaffensperiode gemacht hat, derartig umwälzend und folgenschwer seien, dass Akzeptanz nur langsam und über viele Jahrzehnte hinweg zu erwarten sei.

Reichs glaubte an seine "serendipity", die ihn seit seiner "Entdeckung der Orgonenergie" (um 1940) viele "prinzipielle" Lösungen zu jeweils aktuellen Menschheitsproblemen (Krebs, Schutz gegen Radioaktivität, "freie Energie", UFOs, Wüstenbildung u.a.) finden liess. Diese Schaffensperiode ist, wie auch die kulissenpolitische Kampagne, die Reich schliesslich ins Gefängnis und zu Tode brachte, und die gerichtlich angeordnete Verbrennung seiner Bücher in den USA, hier ausser Acht zu lassen, um einen freien Blick zu bekommen.

Die wahre Bedeutung Reichs als "Jahrhundertmann" hat sich gerade den Reichianern, die sich von jenen spektakulären Dingen faszinieren liessen, nicht erschlossen, weder denen, die Reich in jeweils modische ideologische Trends ("68", Selbsterfahrung, Ökologie, Esoterik, Spiritualität etc.) integrieren wollten, noch denen, die darauf beharren, dass Reich mit der "Orgonomie" eine Superwissenschaft begründet hat. Ein (Ex-)Reichianer jedoch, der sich nach zwanzig Jahren, in denen er sich intensiv mit Reich und den Reaktionen auf ihn befasst hatte, von ihm frei schreiben wollte, hat diese Sonder-, ja Schlüsselstellung Reichs in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts intuitiv recht gut erfasst, wenn er schrieb: "Reich was a splendid child of Europe's love of rationality, perhaps her last." (1)

Reich, dessen Werk also von den Wissenschaften nur selten und dann allenfalls in Nebenaspekten rezipiert wurde, als letzter Bannerträger der aufklärerischen Vernunft? Das muss zunächst als Gipfel des Paradoxen erscheinen. Trotzdem sollte mit dem folgenden Versuch zu erreichen sein, dass auch und gerade der skeptische, realistische und sich an gut gesichertem Wissen orientierende Leser die radikale Rationalität der Reich'schen Position erkennt -- vielleicht zunächst einmal auf instabile Weise, analog zum Betrachten einer Kippfigur. Es geht hier also (noch) nicht um begriffliche Präzision und systematische Darstellung einer Theorie, sondern zunächst -- unter sparsamster Verwendung von Fachterminologie -- um die Vermittlung einer Idee, die sonst nirgends konzipiert wurde (ausser bei La Mettrie und Stirner).

Reichs wissenschaftliches Werk wird zu diesem Zweck nicht bewertet; es wird stattdessen wie ein Palimpsest betrachtet, das in mehreren Schichten einen Grund bedeckt, der zwar überall durchschimmert, aber rein nicht ohne weiteres zu sehen ist. Dieser Grund wird hier freizulegen versucht, um die Erkenntnis zu ermöglichen, dass und warum Reich, allen genannten Hindernissen zum Trotz, sinnvollerweise als eine wichtige Figur der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts anzusehen ist, ja als Schlüsselfigur.

Grundlage dieser Untersuchung ist die Auffassung, dass Sigmund Freud -- trotz des nach den gegenwärtig geltenden Kriterien zweifelhaften wissenschaftlichen Status der von ihm begründeten Psychoanalyse -- der wirkungsmächtigste Denker der Aufklärung im 20. Jahrhundert war. Wilhelm Reich trat nun zunächst als Schüler, bald aber -- und dies gilt es herauszustellen -- als (unpopulärer) aufklärerischer Antipode des (populären) Aufklärers Freud auf. Was das heisst, mag nicht unmittelbar einsichtig sein, aber niemand spürte die Qualität dieser Herausforderung deutlicher als Sigmund Freud. Angriffe auf ihn als Person und auf die Psychoanalyse von der Art, wie sie seit einigen Jahren vornehmlich in der Anglo-Welt als "freud bashing" wieder üblich geworden sind, hat Freud souverän abwehren oder ignorieren können. Zur Verteidigung gegen Reichs "konsequente Psychoanalyse" indes griff er notgedrungen zu den niedrigsten Mitteln. Die genaue Untersuchung des Konflikts "Freud vs. Reich" wird also eine wichtige Ergänzung der vorliegenden Arbeit darstellen. (Vgl. »Sigmund Freud contra Wilhelm Reich«)

 

I. Die Reich-Renaissancen


Wilhelm Reich, 1897 in der Bukowina, dem östlichsten Vorposten des k.u.k. Österreich, geboren und -- nach einem turbulenten Lebensweg als Psychoanalytiker, Marxist und "Orgonom" mit Stationen in Wien, Berlin, Oslo, New York und Rangeley, Maine/USA -- 1957 in einem US-amerikanischen Gefängnis gestorben (vgl. Kurzbiographie), hat mit seinen Schriften ein breiteres Publikum erst postum erreicht. 1960 begann mit einem Band »Selected Writings« die Neuedition seiner Werke, die zuvor meist in Reichs eigenem Verlag erschienen und in den 50er Jahren in den USA verboten (und sogar verbrannt!) worden waren. 1966 erschien dann erstmals einer seiner deutschen Titel, »Die Sexualität im Kulturkampf« (1936), neu: »Die Sexuelle Revolution. Zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen«. Von da an, in der Hochzeit der sog. 68er Studentenbewegung, wurden auch weitere der frühen Schriften Reichs, z.B. »Die Massenpsychologie des Faschismus« (1933), als unlizensierte Nachdrucke zu regelrechten Bestsellern ausserhalb des regulären Buchhandels. Die 8 Bände einer Werkausgabe, die daraufhin der Verlag Kiepenheuer & Witsch 1969 mit dem Titel »Die Funktion des Orgasmus« (1942) startete, wurden so gut verkauft, dass sie ab 1971 zusätzlich als Fischer-Taschenbücher erschienen, wobei einzelne Titel die Gesamtauflagenhöhe von 100'000 überschritten. Das ist in der Tat als grosser Erfolg zu bezeichnen -- aber, bei genauerem Hinsehen, als ein vorwiegend bloss kommerzieller.

Allen Buchverkaufserfolgen zum Trotz: Reich war zu keiner Zeit jenes Idol der Studentenbewegung, zu dem Journalisten ihn wieder und wieder erklärt haben (vgl. »Wilhelm Reich als Sexuologe«). Idole der linken Intelligentsia waren vielmehr die Vertreter der "Kritischen Theorie", insbesondere Herbert Marcuse, die zwar auch, wie der frühe Reich, auf Freud und Marx aufbauten, aber in Reich nicht einen der ihren sahen, auch keinen Partner im aufklärerischen Diskurs, sondern eine Unperson, zu der sie sich öffentlich nicht äusserten. Die "kritische" junge Linke folgte ihren Lehrern willig zumindest in dieser stillschweigenden Einschätzung Reichs, und wenn sich einzelne Autoren dennoch aufgrund von Reichs merkwürdiger "Popularität" veranlasst sahen, über ihn zu schreiben, so geschah dies meist mit betont verächtlichem Gestus -- paradigmatisch 1970 in der massgeblichen linken Theoriezeitschrift »Das Argument« unter dem Titel: »Der heilige Wilhelm Reich und sein Fetisch Genitalität«. (2) Damit im Einklang setzte ein Repräsentant der Generation, deren Idol Reich gewesen sein soll, Hans Magnus Enzensberger, seine Verachtung Reichs sogar in Verse: "... O Dr Mabuse! O Maniak der Erlösung! O Rosenkreuzer des Ficks! / O Billiger Jakob der Wissenschaft! O Bauchredner Christi! ..." usw. (»Mausoleum«, 1975)

Reichs Theorie gewann damals, in dem Jahrzehnt um 1970, in dem sie zwar populär, aber gewiss nicht Bezugspunkt für Intellektuelle gewesen ist, keine spezifische Anhängerschaft, geschweige denn so viel Reputation, dass sie in den entsprechenden Disziplinen (Psychologie, Soziologie u.a.) mehr als nur marginal zur Kenntnis genommen worden wäre.

Mit dem Zerfall der Studentenbewegung und dem Aufkommen der Kulte vom "New Age" usw. entwickelte sich ein neues Interesse an anderen Aspekten des Reich'schen Werkes. Zunächst wurde Reich als "Vater der Körperpsychotherapien", die rasch und in vielen Varianten den Markt drängten, proklamiert. Doch auch hier beriefen sich diejenigen, die oft als Nachfolger Reichs bezeichnet wurden -- z.B. Alexander Lowen, Fritz Perls, Arthur Janov, aber auch Otto Mühl oder Bhagwan Shree Rajneesh (Osho) -- selbst nicht oder nur sehr zurückhaltend auf Reich. (Vgl. dazu verschiedene Artikel in »Wilhelm-Reich-Blätter«).

Etwas später setzte zusätzlich ein breiteres Interesse an Reichs "Orgonomie" ein, an der Lehre von der "primordialen Orgonenergie", die der späte Reich (ab ca. 1940) entdeckt zu haben behauptete. Es wurden "Orgon-Akkumulatoren" und andere Orgon-Artikel zum Verkauf angeboten, Orgongeräte gegen das "Waldsterben" eingesetzt u.v.a.m. [Zusatz 1999: Der trendige Buchvertrieb »Zweitausendeins« schätzte Reichs Chancen auf dem Esoterik-Markt immerhin so hoch ein, dass er ab 1995 Reichs »Späte Schriften« (Slogan: "In den USA verboten!") in 6 Bänden herausgab und damit diese "Zweite Renaissance des Regenmachers" (2001-Slogan nach einer FAZ-Parole) würdig besiegelte. Die zahlreichen Artikel, die zum »Wilhelm-Reich-Jahr 1997« erschienen sind, spiegeln die schillernden Bilder, die derzeit von Reich kursieren.]

Reich reüssierte indes in seiner zweistufigen postumen Karriere weder im therapeutischen noch in einem sonstigen esoterischen Bereich zu einem höheren Status als dem des Vorläufers einiger aktiver "Gurus", die ihn generös in ihre "grossen Synthesen" mit einschlossen. Orthodoxe Reichianer meinten freilich, dass diese Integrationen dem Reich'schen Werk nicht gerecht würden; doch waren sie nicht in der Lage anzugeben, worin denn nun Reichs überragende und noch nicht erfasste Grösse bestünde, welche seiner Entdeckungen/Gedanken in die gegenwärtig kursierenden Theorien/Ideologien nicht eingegangen und also zukunftsträchtig seien.

Ich habe 1975 die »Wilhelm-Reich-Blätter« gegründet, in denen ich einerseits Reichs damals hierzulande nur erst vage bekannte "Orgonomie" nicht, wie die (damals noch lautstarken) marxistischen Reichianer, von vornherein ungeprüft als Spinnerei eines im Exil Zusammengebrochenen abtun wollte, in denen ich andererseits Reichs politische (freudomarxistische) Phase nicht, wie die (damals fast nur amerikanischen) Orgonomen, leichtfertig als "Jugendsünde" des alle überragenden "Entdeckers der primordialen Orgonenergie" sozusagen verziehen sehen wollte. Die Art der Reaktionen auf Reich -- einst und jetzt, von Gegnern und Anhängern -- schien mir sicher auf eine besondere Qualität seines Werkes hinzuweisen, die ich klar erkennen und herauspräparieren wollte.

Ich merkte bald, dass mein Herangehen an das Phänomen Reich, dessen säkulare Bedeutung ich sicher spürte, nur von sehr wenigen Reichianern verstanden wurde. Man war "politischer" oder "wissenschaftlicher" Reichianer oder auch beides. Ich hingegen war weder das eine noch das andere. Reichs politische Periode, fand ich, war zeitbedingt und biographisch zu verstehen, Reichs "orgonomische" ebenso. Und Reichs Status als Psychologe, Soziologe, Biologe etc. konnte ich als Laie auf diesen Gebieten nicht im Ernst gegen die Ablehnung der Experten verteidigen. Gleichwohl schien mir Reich -- u.a. aufgrund der Art der Reaktionen der Experten auf ihn -- mehr denn je als Gestalt von singulärem Rang in unserem Jahrhundert, das in "aufklärerischer" Hinsicht von Freud (als Reichs entschiedenstem Gegner) geprägt wurde. Freud oder Reich? Das schien mir die grundsätzliche Frage, der viele Reichianer (und leider in gewissem Masse sogar Reich selbst) ausweichen zu können meinten, wenn sie Reich als legitimen Fortsetzer des jungen, angeblich "revolutionären" Freud darstellen. (vgl. dazu »Freud und Reich auf einen Blick«)

Die »Wilhelm-Reich-Blätter« sind somit nicht zu einem Forum von Leuten geworden, die im gleichen Sinne wie ich Reichs potentiellen Rang zu eruieren suchten. Obwohl sie sich finanziell gut trugen, stellte ich sie deshalb nach acht Jahrgängen ein, zum Ende 1982, einem Zeitpunkt, als ich bereits Stirner studiert, Kondylis' Deutung La Mettries kritisch rezipiert und somit das "LSR-Projekt" bereits in Umrissen konzipiert hatte.

[Zusatz 1999: Eine rezente, neuartige Reich-Renaissance kann man in der Diskussion erkennen, die der 1997 bei Suhrkamp erschienene Band »Der 'Fall' Reich« ausgelöst hat. (3) Reich wird hier, z.T. aufgrund bisher wenig oder gar nicht bekannten bzw. gesperrten Archivmaterials, in bestimmter Hinsicht zu rehabilitieren versucht, nämlich, indem sein politisches Verhalten gegenüber den Nationalsozialisten dem Freuds und der organisierten Psychoanalytiker gegenüberstellt und als weitaus realistischer, angemessener, couragierter beurteilt wird. Reich (sein Ausschluss aus den Organisationen der Psychoanalyse) erscheint als Bauern- oder, wenn man so will, als Damenopfer im Kontext einer schändlichen Politik des appeasement. Die Gegner dieser Deutung der Ereignisse verweisen darauf, dass Freud trotz aller Fehler doch letztlich weise gehandelt habe: Es sei unter den gegebenen Umständen das Beste für die Psychoanalyse erreicht worden; und was die Ausstossung Reichs angehe, so habe man ja gesehen, wie er sich nach 1934 entwickelt habe. -- Beide Parteien lassen jedoch den Kern des Konflikts Freud/Reich unangetastet. Die Verteidiger Reichs operieren primär mit dem heute so komfortablen Antifa-Bonus. Die Verteidiger Freuds nutzen diese systematische Schwäche; sie konzedieren, dass Freuds Methoden unfein waren, stellen dann aber die klare Alternative: Freud oder Reich? (4) -- Der Rest ist Schweigen...]

 

II. Freud: "Wo Es war, soll Ich werden!"


Um deutlich zu machen, dass und warum der Frage "Freud oder Reich?" nicht durch ein "sowohl als auch" ausgewichen werden kann, und um zum Titelthema dieser Arbeit hinzuführen, hebe ich im folgenden einige sonst wenig beachtete Ereignisse aus der Geschichte der Psychoanalyse und Freuds grundsätzliche "anthropologische" Position hervor.

Zunächst ein Blick auf das Jahr 1908. Der Nervenarzt Freud hatte bereits eine Reihe von Schriften veröffentlicht, in denen er seine Auffassung von der Ätiologie (Verursachung) der Neurosen darlegt. Er war damit in Fachkreisen nur auf geringe positive Resonanz gestossen, vor allem wohl, weil er in seiner "Libidotheorie" der (nicht nur genital bestimmten) Sexualität die zentrale Rolle im menschlichen Seelenleben zuwies. Freud lehrte, es gäbe bereits beim Kinde berechtigterweise sexuell zu nennende Triebregungen, deren notwendige "Verdrängung" in den psychischen Bereich des "Unbewussten", wenn sie "missglücke", zur Entstehung von Neurosen führe; die Aufhebung dieser Verdrängung im psychoanalytischen Verfahren, gefolgt von einer bewussten Verurteilung der Triebregung, sei Voraussetzung der Heilung.

Unter den wenigen Kollegen, die der bereits in seinem sechsten Lebensjahrzehnt stehende Freud (1856-1939) in jenen Anfangsjahren der Psychoanalyse für diese gewinnen konnte, waren zwei, welche, unabhängig voneinander, die weit über den psychiatrischen Bereich hinausreichende, noch latente aufklärerische Potenz der Freud'schen Erschliessung des Unbewussten sahen: die beiden jungen Mediziner Sándor Ferenczi (1873-1933) und Otto Gross (1877-1920).

Ferenczi trug seine Gedanken über die allgemeineren Konsequenzen der Freud'schen Entdeckungen auf dem ersten, noch in kleinem Rahmen veranstalteten psychoanalytischen Kongress im April 1908 in Salzburg vor. Er vertrat, deutlicher als Freud, die Auffassung, dass von jener "missglückten" Verdrängung im Grunde jeder, also auch der symptomfreie "Normale" betroffen sei. Die bei jedem vorhandenen, verdrängten und durch die Verdrängung im Unbewussten "zu einem gefährlichen Komplex antisozialer und selbstgefährlicher Instinkte" gewordenen "Gedanken und Strebungen" könnten aber nur mit hohem Aufwand, "durch das automatische Wirken gewaltiger Schutzvorrichtungen unterdrückt...werden, [d.h.] mit moralischen, religiösen und sozialen Dogmen." Diese irrationale Funktionsweise der Steuerung durch "unappellierbare Prinzipien", argumentierte Ferenczi, sei zum einen ausgesprochen unzweckmässig und unökonomisch; sie bringe zum anderen, sehr viel Seelenqual und geminderte Genussfähigkeit mit sich. Die gesellschaftlich zu beobachtenden "Äusserungen der illogischen Arbeitsweise des Verdrängten" gäben zudem Anlass, die bestehende Ordnung, die sich mittels derart zugerichteter Individuen "seit undenklichen Zeiten" immer wieder reproduziert, in Frage zu stellen.

Die massenhafte Reproduktion des Irrationalen, so Ferenczi weiter, geschehe durch den normalen Erziehungsprozess: "...ein circulus vitiosus.  Das Unbewusste lässt die Erwachsenen ihre Kinder unrichtig erziehen, [so]...dass sogar eine von edelsten Intentionen geleitete, unter den günstigsten Verhältnissen durchgeführte Erziehung" Schaden stifte. Ferenczi schlug deshalb vor: "Der erste und wichtigste Schritt zur Besserung wäre ... die Verbreitung der Kenntnisse über die wirkliche Psychologie des Kindes." Solcherart "Massenaufklärung" würde zur "Korrektur der infantilen Amnesie" führen. Nun käme der zweite Schritt: "Erst die so befreiten Menschen wären dann imstande, einen radikalen Umsturz in der Pädagogik herbeizuführen und hierdurch der Wiederkehr ähnlicher Zustände für immer vorzubeugen." Für Ferenczi folgte aus Freuds wissenschaftlicher Konstatierung eines Seins ein klares Soll: Neurosenprophylaxe in dem erforderlichen gesellschaftlichen Massstab durch "radikale Reform der Erziehung", konkreter: durch Abbau der "auf der Basis der Verdrängung stehenden moralischen Erziehung", d.h. Abbau des (als Terminus erst später, 1923, von Freud eingeführten) Über-Ichs. Die durch Freuds Erkenntnisse ermöglichte "innere Revolution", so Ferenczi in freudigem Optimismus, "wäre die erste Revolution, die der Menschheit eine wirkliche Erleichterung schüfe..." (5)

Gross, einer der ganz wenigen ärztlichen Fachkollegen Freuds, die sich in den Anfangsjahren der Psychoanalyse, noch vor Ferenczi, öffentlich für diese Lehre eingesetzt hatten, vertrat in der Zielrichtung ähnliche bis identische Auffassungen. (6) Auch er sprach auf dem genannten Kongress, und zwar über die "Perspektive, die sich mit der Entdeckung des 'psychoanalytischen Prinzips', d.h. der Erschliessung des Unbewussten auf die Gesamtprobleme der Kultur und den Imperativ der Zukunft richtet." Der Vortragstext ist nicht überliefert, sein Inhalt muss jedoch, wie aus veröffentlichten Schriften von Gross zu schliessen ist, auf der Linie Ferenczis gelegen haben. Freud reagierte auf die Ideen von Gross, den er bis dahin den neben C.G. Jung fähigsten Kopf unter seinen Anhängern genannt hatte, mit dem kurzen und brüskierenden Kommentar: "Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben." (7) (Dies war eine sehr unredliche Abweisung, denn Freud hatte die Psychoanalyse nie in der Medizin aufgehen lassen wollen, hatte stets Nicht-Ärzte als vertraute Mitarbeiter und exponierte sich öffentlich für diese sog. Laienanalytiker)

Ferenczi gelang es ebensowenig wie Gross, mit seinem kühnen Vorstoss auf dem Kongress von 1908 Einfluss auf die Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung zu nehmen. -- Gross wurde zum "Fall"; (8) er publizierte zwar weiter, aber nur in kleinen Blättern der literarischen Avantgarde, und starb, von Freud und seinen frühen Anhängern ignoriert und von den späteren Psychoanalytikern nicht mehr gekannt, im Jahre 1920. -- Ferenczi wurde, unter "Verdrängung" seiner radikalen Ambitionen, zu Freuds vertrautestem Mitarbeiter und kam erst gegen Ende seines Lebens, als seine intensive Beziehung zu Freud zerfiel, überraschend und doch nur mit einer eher erratischen Bemerkung auf sein altes Thema zurück, auf den Kampf gegen die Irrationalität der Menschen an deren Wurzel. Inmitten konventioneller Formeln tauchte bei ihm 1928 noch einmal kurz und nachdrücklich die Forderung vom "Abbau des Über-Ichs" auf, aber nun nicht einmal mehr als gesellschaftliches Problem, sondern nur noch als Ziel der individuellen Analyse. (9)

Zu dieser Zeit herrschte in der Psychoanalyse längst die Generallinie Freuds. Freud hatte noch im gleichen Jahre 1908 begonnen, sie in seinem Aufsatz »Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität« festzulegen, freilich ohne auf die hochfliegenden Ambitionen seiner beiden jungen Kollegen überhaupt einzugehen. Später konsolidierte er die konservative Grundposition in zahlreichen weiteren Arbeiten. [Anm. Juni 2002: vgl. dazu Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich]

Freud ging es dabei nicht etwa darum, den "naturalistischen Fehlschluss", der Ferenczi und Gross von Philosophen angelastet würde, zu vermeiden; auch nicht um die Unausgereiftheit ihrer Konzepte, die er ja hätte kritisieren und beseitigen helfen können; und auch nicht um deren wahrscheinlich schwache "Mehrheitsfähigkeit". Freud war vielmehr, aus introspektiv gewonnener Erkenntnis und angesichts der Jahrtausende überlieferter menschlicher Kulturgeschichte auch "wissenschaftlich" fest davon überzeugt: "[Unsere] Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut." (10) Diese These -- und die Vorstellung, dass dies so bleiben wird (und soll) -- blieb bei allem Wandel der psychoanalytischen Theorie ihr kaum je in Frage gestelltes Grundaxiom, so dass natürlich die Vision vom "Abbau des Über-Ichs", das wirksamster Vermittler und Träger der tradierten Kultur ist, ausser bei Reich nur sehr selten und merkwürdig "nebenbei" aufschien -- etwa beim späten  Otto Fenichel (s.u.) oder beim späten  Theodor W. Adorno, der in seinem letzten Werk »Negative Dialektik« zwar z.T. recht drastisch gegen die "gesittete Bürgerlichkeit [des späten  Ferenczi], die auf das Überich samt seinen Irrationalitäten um keinen Preis verzichten mag" polemisiert, dies aber, obwohl eigentlich thematisch zentral, an seltsam untergeordneter Stelle geradezu versteckt. (11)

 

III. Reich: Wo Über-Ich war, soll Ich werden!


Reich, der 1919 als Medizinstudent zur Psychoanalyse kam, hat von jenen gescheiterten Versuchen, die Ferenczi und Gross unternommen hatten, um der Freud'schen Lehre eine konsequent aufklärerische Entwicklungsrichtung zu geben, wahrscheinlich nie erfahren; denn sie sind an sehr entlegenen Stellen publiziert und innerhalb der Bewegung nicht mehr diskutiert worden. Reich hatte sich vielmehr in der mittlerweile bereits sehr komplexen und oft revidierten (just 1920 erschien Freuds »Jenseits des Lustprinzips«) Theoriegeschichte der Psychoanalyse zu orientieren, wobei nicht leicht zu erkennen war, wo Fortschritte und wo (obskurantistische) Konzessionen gemacht worden waren. Deshalb, und aufgrund seiner persönlichen Lebenssituation, fand Reich sich zunächst so sehr in die Sache der Psychoanalyse verstrickt, dass sie sich ihm mit "seiner Sache" verschmolz, und das verwischt werkgeschichtlich die Konturen seiner von Beginn an grundsätzlichen Oppositionsstellung zu Freud und seiner Bewegung. (12)

Freud hatte damals gerade eine neue dualistische Triebtheorie eingeführt ("Eros/Lebenstrieb" vs. "Thanatos/Todestrieb") und arbeitete zudem an der sog. Strukturtheorie der Psyche. Mit ihr gab er dem Kernproblem der Psychoanalyse, der Frage nach dem Wesen der ("geglückten" oder "nicht geglückten") Triebverdrängung und der Errichtung einer "moralischen" Instanz im Individuum, eine neue und letzte Formulierung. (13) Freud teilte den psychischen Apparat in die drei Bereiche des Es, des Ich und des Über-Ich, (14) wobei Ich und Über-Ich sich in früher Kindheit aus dem Es entwickeln. Das Über-Ich enthält von der Aussenwelt introjizierte normative Regeln; es ist das bleibende Ergebnis der Enkulturation eines Menschen. Otto Fenichel, der psychoanalytische "Polyhistor", der oft zwischen Freud und Reich schwankte, formulierte 1945 in seiner noch heute geschätzten Summa der psychoanalytischen Doktrin: "Nachdem das Über-Ich errichtet ist, entscheidet es, welche Triebregungen oder Bedürfnisse [des Es] erlaubt sind und welche unterdrückt werden. Das logische Urteil des Ich darüber, ob ein Impuls [des Es] Gefahr mit sich bringen könnte, wird jetzt durch unlogische Schuldgefühle kompliziert. Das Ich hat nun neben der Realität einen weiteren, häufig irrationalen Repräsentanten der Realität zu beachten." (15)

Das Über-Ich, dieser nicht nur "häufig", sondern grundsätzlich nicht rationale, nur mehr oder weniger rationalisierbare "Repräsentant der Realität", der das Ich mittels Lohn und mehr noch Strafe (Schuldgefühlen) dirigiert und durch seine Funktion bei der Triebverdrängung eng mit dem neurotischen Elend der Menschen verknüpft ist, war für Freud nun keineswegs ein unerwünschter Bestandteil der Psyche, sondern vielmehr der Garant von kultureller Kontinuität, ja von Kultur überhaupt. Freud bemühte sich deshalb, die Universalität des Über-Ichs, seine biologisch festgelegte Natur darzulegen, sicherheitshalber gleich mehrfach, sowohl phylogenetisch (Vatermord in Urhorde etc.) als auch ontogenetisch (lange Abhängigkeit des menschlichen Kindes von seinen Eltern). -- Wie und in welchem Begriffssystem auch immer abgeleitet: evident ist jedenfalls auch so, dass die bisherigen empirischen Menschen, bis auf wenige Ausnahmen (?), pseudoautonom bzw. in ihren Werturteilen von einem irrationalen Über-Ich abhängig waren.

Reich bestritt natürlich diese empirische Evidenz nicht. Und er konnte sich als Anfänger nicht sofort in Grundlagenfragen zu Wort melden. (Sein Tagebuch aus dieser Zeit verrät jedoch, noch unreflektiert, seine grundsätzliche Oppositionshaltung; s. später). Reichs erste Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, waren thematisch klar abgegrenzt, so dass sie kaum Schlüsse auf seine weltanschauliche Position zu der Zeit seines Anschlusses an die psychoanalytische Bewegung zulassen. Einige erst postum veröffentlichte Schriftstücke sind da etwas ergiebiger, so z.B. das Manuskript des Vortrags, den Reich am 13. Oktober 1920 vor der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft anlässlich seines Beitritts gehalten hat. Er sprach über »Libidokonflikte und Wahngebilde in Ibsens 'Peer Gynt'«, (16) d.h. in erster Linie über die psychoanalytische Deutung dieses Stückes, machte aber beiläufig auch einige Bemerkungen, die seinen philosophischen Standort andeuten. Er schätzte offenbar Nietzsche, denn er wählte als Motto die Zeilen aus dessen »Zarathustra«, wo es heisst, dass der Mensch dereinst für den Übermenschen das sein werde, was jetzt der Affe für den Menschen ist. Und er pries Ibsen als einen "geistigen Revolutionär", denn Ibsen "strebte der Bewusstheit zu, der Persönlichkeit, der geistigen Einheit im Sinne Stirners" und habe "den wahren Willen zur Selbständigkeit" gehabt. (17)

Bemerkenswert an diesem Text ist, dass Reich hier seine Nähe zu Ibsen und Nietzsche -- zwei Autoren, die von Freud, den Psychoanalytikern und einer breiten Öffentlichkeit geschätzt wurden -- ohne Scheu herausstellt, während er Stirner -- den allseits Verpönten -- gerade noch, von Ibsen sozusagen gedeckt, erwähnt; bemerkenswert freilich nur deshalb, weil Reich sich zur gleichen Zeit in seinem Tagebuch sehr dezidiert zu keinem anderen Denker als ausgerechnet zu Stirner bekannte. So notierte er am 22. Juni 1920 aus Anlass einer Diskussion mit einem Freund, der als Hegel- und Marx-Anhänger die Auffassung vertrat, jeder Einzelne sei verpflichtet, dem "objektiven Geist" bzw. dem "Ganzen" zu dienen: "Da stelle ich mich ... auf den Stirner'schen Standpunkt. Ich will nicht dienen, ich will den Geist in mir aufrichten, und wenn ich dies tue und alle dasselbe tun, ist der objektive Geist da. Ich will nicht einen neuen Herrgott auferstehen lassen und meine Individualität vor diesem, er mag heissen wie er will, kriechen sehen; ich verlange Auflehnung gegen alles, das über mir ist..." Deutlicher: gegen alles, das in mir über mir ist. Und fast ein Jahr später, am 12. März 1921, machte er anlässlich einer ähnlichen Diskussion den Eintrag, der der Schlüssel zum Verständnis seiner wahren Stellung unter den Psychoanalytikern ist: "Max Stirner, der Gott, der 1844 sah, was wir 1921 nicht sehen!" (18) Wir! Damit sind natürlich Freud und die Psychoanalytiker gemeint. (Reich erwähnte Stirner in keiner seiner veröffentlichten Schriften -- mit Ausnahme einer "Fehlleistung" 1953) (19)

Reich, der als junger Psychoanalytiker also mit Stirner "alles, das [in mir] über mir ist", jeden "neuen Herrgott ... er mag heissen wie er will", kompromisslos negierte, akzeptierte natürlich die Ubiquität des Über-Ich als anthropologisches Spezifikum, glaubte aber nicht an den von Freud postulierten, unentrinnbaren Zwang zur ewigen Kontinuität; er glaubte vielmehr, wie zuvor Ferenczi und Gross, an eine gerade durch Freuds psychologische Entdeckungen ermöglichte Umkehr der Entwicklung: zur Befreiung von der Herrschaft des irrationalen Über-Ichs über das Ich des Individuums (samt ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen), zur wahren Befreiung des Menschen also, nicht bloss zur formalen im Sinne des Liberalismus.

Reich stiess auf die innere Inkonsequenz der Psychoanalyse, die ja eine Nacherziehung des "neurotischen" Klienten sein will, als er die bestehende Theorie auf ihre elementarsten Grundlagen hin befragte: nach dem Ziel dieser Erziehung bzw. dem Kriterium der Heilung. Reichs "Kinderfrage" war in der Psychoanalyse tabu, denn man ahnte ihre Konsequenzen, "verdrängte" sie deshalb und beruhigte sich bei der Antwort: das möglichst reibungs- bzw. konfliktlose Funktionieren des Individuums in der gegebenen gesellschaftlichen Umwelt.

Dieses bloss palliative Ziel mochte, wenn es denn überhaupt erreicht wurde, dem zahlenden Klienten genügen, dem bezahlten Therapeuten auch, dem tiefer forschenden Analytiker jedoch nicht. Reich, der sich als hervorragender Kliniker, Lehranalytiker und Innovator ("Charakteranalyse") in wenigen Jahren einen guten Namen gemacht hatte, akzeptierte diese "Geschäftsgrundlage" der Psychoanalyse nicht, denn:
1) zeigt die klinische Erfahrung stets erneut, dass die bloss palliativ wirkende Psychoanalyse selbst im gelungenen Fall letztlich doch nur symptomverschiebende oder -unterdrückende Kurpfuscherei sein kann;
2) wäre, was ja auch Freud pro forma vertrat, im Grunde die grosse Mehrzahl der Menschen, auch wenn sie es nicht weiss, analysebedürftig ("Massenpsychologie"), d.h. dem "neurotischen" Massenelend wäre niemals durch Einzeltherapien, sondern nur durch Massenprophylaxe beizukommen.

Reich erneuerte also das Programm, das Ferenczi und Gross 1908 ansatzweise vertreten hatten. Er ging dabei zwar wesentlich gründlicher und beharrlicher vor; die Zielrichtung seines Wegs ist aber aufgrund seiner Loyalität gegenüber Freud und taktisch begründeter Umwege streckenweise nur schwierig zu rekonstruieren.

Ein wichtiger Markstein auf diesem Wege ist Reichs Buch »Die Funktion des Orgasmus« von 1927 (nicht zu verwechseln mit dem 1942 in den USA und 1969 auf deutsch erschienenen Buch gleichen Titels). Darin konzipierte Reich die "orgastische Potenz" (das Kriterium des anschliessend konzipierten Idealtypus' des "genitalen Charakters") (20) als ein Therapieziel, das nicht an beliebigen, historisch gewachsenen oder gesetzten, normativen Kriterien orientiert ist, sondern an "psychophysiologisch" gegebenen Gesetzmässigkeiten. Und darin wies er mit klaren Worten auf die gesellschaftliche Dimension der Probleme hin, mit denen es der Psychoanalytiker zu tun hat.

Dieses Buch hat Reich zwar "meinem Lehrer Professor Sigmund Freud in tiefer Verehrung" gewidmet; dieser aber hat es sehr wohl als das erkannt, was es im Grunde war: ein verklausuliertes, sich auf den frühen Freud berufendes Dokument der fundamentalen Gegenposition zu Freud. Es kam jedoch vorerst nur zu einem unterschwelligen "Konflikt mit Freud" (Reich, Feb. 1927 (21) ). Reich versuchte nun, da er innerhalb der psychoanalytischen Bewegung auf hinhaltenden Widerstand gegen seine Ideen stiess, diese in marxistische Organisationen zu tragen. Dies bot Freud schliesslich die Möglichkeit, sich Reichs auf eine Weise zu entledigen, die den Anschein erweckte, der Ausschluss Reichs sei (1933/34) vornehmlich politisch geboten gewesen. (vgl. »Sigmund Freud contra Wilhelm Reich«). Der wahre Grund lag freilich in der Unversöhnlichkeit der Grundpositionen beider, die zu debattieren Freud strikt verweigerte.

Diese Unvereinbarkeit von Freud und Reich lässt sich auch ohne grosses psychoanalytisches Fachwissen (das ohnehin seit langem in eine unüberblickbare Textmasse zerflossen ist) und ohne Rücksicht auf die nach derzeitigen Kriterien zweifelhafte "Wissenschaftlichkeit" beider Positionen verstehen.

Freud prägte zur Charakterisierung seiner Psychoanalyse die Sentenz : "Wo Es war, soll Ich werden"; wobei er freilich ein Über-Ich-gesteuertes Ich meinte, auch wenn er schrieb, die Psychoanalyse strebe an, das Ich "vom Über-Ich unabhängiger zu machen." (22)

Fenichel, der zwischen Freud und Reich stand und oft versuchte, den nie wirklich thematisierten Gegensatz zwischen beiden durch "diplomatische" Formulierungen (s.o.: Das Über-Ich sei häufig [!] irrationaler Repräsentant der Realität) zu verwischen, nahm denn Freuds Rede vom unabhängigen Ich (wozu das schwache Über-Ich?) angesichts anderer Äusserungen Freuds nicht zum Nennwert und resümierte am Ende seines 3-bändigen opus magnum  zur psychoanalytischen Theorie: "'Wo Es war, soll Ich werden', schrieb Freud. Diese Forderung sollte ergänzt werden durch den Satz: 'Wo Über-Ich war, soll Ich werden.'" (23)

Reich hätte seine Vorstellung vom Ziel der psychoanalytischen Kur bzw. Nacherziehung in folgende Sentenz zusammenfassen können: "Wo Über-Ich war, soll Ich werden." (Wobei Reich freilich vorderhand anstrebte, diese Nacherziehung erst gar nicht notwendig zu machen).

Reich sprach diese Formel jedoch so nicht aus. Dafür gab es mindestens zwei Gründe:
1) Reich wollte, als er noch Mitglied der psychoanalytischen Organisationen war, die schroffe Konfrontation mit Freud und den älteren Psychoanalytikern vermeiden, die bei einem so direkten Angriff auf den sakrosankten Kern der Lehre unvermeidlich gewesen wäre. Reich verfuhr deshalb mit einigen Freud'schen Begriffen, wie dem des Über-Ichs und dem damit eng zusammenhängenden des Ödipuskomplexes, ungefähr so wie einst Epikur unter den Griechen mit den Göttern: er liess sie bestehen, aber entband sie von ihrer (vermeintlichen) Funktion. Reich stattete z.B. den Idealtypus des psychisch gesunden Menschen (den "genitalen Charakter" als Gegentyp zum normalen, mehr oder weniger "neurotischen") u.a. mit folgenden Merkmalen aus: "Der Ödipuskomplex existiert aktuell nicht mehr [nur noch 'historisch']. [...] Das Über-Ich ... übt auf das Ich keinen besonderen Druck aus, [und da] es wichtige sexualbejahende Elemente enthält, besteht bis zu einem hohen Grad Einklang zwischen Es und Über-Ich." (24) -- Reich dürfte allerdings kaum erwartet haben, dass diese Rhetorik nicht durchschaut würde.
2) Ein weiterer Grund dafür, dass Reich nicht ausdrücklich den "Abbau des Über-Ich" als Therapieziel postulierte, auch nicht nach seiner Ächtung durch Freud und die Psychoanalytiker, lag in der Sache. Das Freud'sche Über-Ich entsteht als "Erbe des Ödipuskomplexes" in früher Kindheit, und die introjizierten Normen, die es als irrationales Gewissen, als Träger der "Werte", der Tradition usw. enthält, sind, obwohl grossenteils unbewusst, verbalisiert. Reich kam jedoch, je mehr er von der Psychoanalyse als rein verbaler talking cure  zu einer "Charakteranalyse" und "Vegetotherapie" fortschritt, die den Körperausdruck und allgemein das Somatische mit einbezog, zu der Auffassung, dass das, was die Psychoanalyse als Über-Ich erfasste, seinen massgeblichen Grund nicht, wie Freud meinte, in letztlich hereditären, unveränderbaren Gegebenheiten hat, sondern in frühkindlichen bis perinatalen präverbalen Einwirkungen der erziehenden Umgebung. Eine wirksame Neurosenprophylaxe wäre also durchaus möglich, allerdings nur, wenn sie bereits hier ansetzte. Der Kern der Reich'schen "anarchistischen" "Pädagogik" könnte somit als Verhinderung der -- richtiger: das Unterlassen der Erzeugung der Disposition zur -- Über-Ich-Bildung umschrieben werden (wobei er, aus den angegebenen Gründen, eine andere Terminologie wählte, die hier der Allgemeinverständlichkeit halber nicht benutzt werden soll).

Reich äusserte sich zum Erziehungsproblem während der beiden genannten Phasen seiner Entwicklung:
1) 1926-31 in einigen Aufsätzen, in denen er stets innerhalb des Rahmens der Freud'schen Theorie zu bleiben versucht;
2) 1950-56, wo er, lange nach seinem Ausschluss aus der Psychoanalytischen Vereinigung (1934), diesen Rahmen nicht mehr akzeptiert.

In einem Aufsatz von 1926 behandelt Reich den "Erziehungszwang", (25) dem auch aufgeklärte Eltern bei bewusst besten Absichten aus den mannigfaltigsten, in der Regel unbewusst bleibenden Motiven Folge leisten, ohne dies bewusst wahrzunehmen. Ein Beispiel dafür wäre, "dass die Eltern durch jede Triebäusserung des Kindes an ihre eigenen verdrängten infantilen Wünsche gemahnt werden und die Triebhaftigkeit des Kindes eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der eigenen Verdrängungen bedeutet. Diese Gefahr wird nun durch erzieherische Verbote abgewehrt." Schon dies weise in einer Kultur, die auf Verdrängung basiert, auf die gesellschaftliche Dimension des Problems. Die gewaltige Grösse des Erziehungsproblems zeige sich jedoch erst, wenn man zudem die Fragwürdigkeit des üblicherweise bewusst angestrebten Erziehungszieles der "sozialen Einordnung" (dessen Inhalte sich "mit Ort, Zeitalter und Klasse ändern") in Betracht zieht. Jeder Erwachsene möge da von seinem, durch seine einstige Erziehung grossteils vorgeprägten weltanschaulichen Standpunkt aus "recht haben", das Interesse des Kindes wäre jedoch nur gewahrt, wenn der Gesichtspunkt der Neurosenverhütung Vorrang hätte. Und natürlich wäre nur auf diesem Wege eine wirkliche Neustrukturierung von Individuum und Gesellschaft möglich.

Reichs "berechtigter Pessimismus", den er gegen den erzieherischen Optimismus z.B. der Schule Alfred Adlers (aber 1926 noch nicht explizit gegen den "unberechtigten Pessimismus" Freuds) vertritt, beruht auf der Einsicht in die Komplexität des Problems: "Die Frage der Erziehung ist von der der Gesellschaftsordnung und der der Neurosen nicht zu trennen." Reich meint, es sei "vorläufig nur eine utopische Vorstellung, dass ... die Massen der Erzieher [und] die massgebenden Autoritäten [und] die Masse" einmal ein grösseres Problembewusstsein bekämen. Doch erst wenn dies erreicht sei, werde man an "aktive Erziehungsmassnahmen" denken können. Bis dahin könne er nur eine negative Regel aufstellen: "Enthaltsamkeit in der Erziehung bis zum äussersten, Einschränkung der Erziehungsmassnahmen auf die allernotwendigsten Versagungen."

Reich schloss seinen Aufsatz über den Erziehungszwang mit den Worten: "Wir müssen daran denken, dass die ursprüngliche lebendige Kraft, die der Erziehungszwang zähmen will, aus sich selbst heraus einmal Kultur geschaffen hat. Man darf grosses Zutrauen zu ihr haben. Ist es gewagt, zu behaupten, dass sich das Leben seine notwendigen Daseinsformen selbst am besten zu schaffen vermag?" Das war die Grundformel einer nichtpräskriptiven Utopie, die das Dilemma moderner Philosophie, in das sie der Zwang zur Vermeidung des sog. naturalistischen Fehlschlusses führt, überwindet.

Reichs Auffassung von den nicht notwendig zwanghaften bzw. triebverdrängenden Ursprüngen von kultureller Aktivität (die sinngemäss auch schon in dem damals verschollenen Artikel Ferenczis von 1908 enthalten war) stand allerdings, ohne dies jedoch zu betonen, in krassem Gegensatz zu der von Freud, und dieser reagierte denn auch auf Reichs subversive Theoriearbeit entsprechend: zunächst mit ironischen Bemerkungen im privaten Bereich, dann (1930) mit der Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« (in der Reich namentlich nicht erwähnt ist), und schliesslich (1933), nachdem alle sanften Disziplinierungsversuche vergeblich geblieben waren, mit der internen Anweisung an einige psychoanalytische Funktionäre, Reich administrativ kaltzustellen -- die denn auch willfährig und mit grossem "diplomatischen" Geschick bei nächster Gelegenheit exekutiert wurde. (26) (Vgl. hierzu »Sigmund Freud contra Wilhelm Reich«)

In »Das Unbehagen in der Kultur« bekräftigte Freud noch einmal seine Position als "Realist". Wer die Welt umschaffen wolle, so schrieb er mit Anspielung auf den "ambitionierten" Reich -- und als Warnung an diesen -- werde "in der Regel nichts erreichen; die Wirklichkeit ist zu stark für ihn. Er wird ein Wahnsinniger, der in der Durchsetzung seines Wahns meist keine Helfer findet." Freud pries erneut ostentativ die innerpsychische, irrationale Selbstunterdrückung, das Regiment des Über-Ich, den spezifisch menschlichen "Kulturkampf", als den, wenn auch mit jenem untilgbaren "Unbehagen" (welch ein Euphemismus!) erkauften, "wesentlichen Inhalt des Lebens überhaupt". (27) Reich hingegen, von seinem "Wahn" nicht ablassend, postulierte 1936 in seinem Buch »Die Sexualität im Kulturkampf« den "Abbau der moralischen Regulierung", aus dem eine gänzlich neuartige, nicht mit Freuds "Unbehagen" geschlagene Kultur entstehen würde. (28) Im nachhinein war Reich sogar froh, dass Freud 1930 noch einmal deutlich gesagt hatte, dass seine Psychoanalyse nicht die "kulturumwälzende" Doktrin war, für die sie oft gehalten wurde; denn sie lehnte es ab, die bestehenden "Erziehungsverhältnisse [im Sinne des Abbaus der moralischen Regulierung] praktisch zu kritisieren und zu ändern." (29)

Reich hatte -- nachdem er bei den Psychoanalytikern auf hinhaltenden Widerstand gestossen war und 1927 anlässlich seines Buches »Die Funktion des Orgasmus« in einen ernsten "Konflikt mit Freud" geriet -- seine Erkenntnisse und Ideen über das komplexe Problem der Befreiung der Menschen, um sie für die gesellschaftliche Praxis nutzbar zu machen, in verschiedene, meist marxistische Organisationen zu tragen versucht. (Den Anarchisten warf er, bei aller Sympathie, vor, dass sie "die abgrundtiefen Probleme der menschlichen Freiheitsunfähigkeit" ignorierten.) Reich setzte damals seine Hoffnungen in eine "Partei, die vor der Revolution die Masse freiheitsbewusst, in der Revolution freiheitsfähig zu machen und nach vollzogener Umerziehung der Menschen sich selbst abzubauen hat." (30) Bei der gemeinten Partei stiess Reich mit seinen Auffassungen jedoch auf ebenso bornierte und diskussionsverweigernde Ablehnung wie in der psychoanalytischen Bewegung.

Reich kam -- nach seinem politischen Intermezzo in einer bewegten Zeit (ca. 1927-1937) und nach einer Periode intensiver "orgonomischer" Studien -- auf das Thema, das hier als "anarchistische" "Pädagogik" apostrophiert wird, erst wieder zurück, als er 1950 im amerikanischen Exil mit einigen Mitarbeitern ein Forschungsprojekt ins Leben rief, das er "Kinder der Zukunft" nannte. Von psychoanalytischer Terminologie, etwa von Verhinderung der Über-Ich-Entstehung, war jetzt natürlich auch nichts mehr zu vernehmen -- obwohl es der Sache nach auch jetzt darum ging. "Es gibt eine sexual-physiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus", schrieb Reich 1943. "Daraus folgt, dass die Bewältigung der physiologischen Freiheitsunfähigkeit eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen jedes echten Kampfes um Freiheit ist." (31) Diese Umformulierung der Problemstellung ist wohl nur verständlich bei Kenntnis von Reichs Weiterentwicklung der psychoanalytischen zur charakteranalytischen und vegetotherapeutischen Methode. Mit dieser ging Reich weiter der alten Frage nach, warum der Mensch, obwohl "frei" geboren, überall in Ketten liegt. Das Projekt "Kinder der Zukunft" brachte zwar einige tiefere Einsichten in den Prozess der Enkulturation des Individuums, die jedoch hier, wo auch die psychoanalytischen Theoriedetails keine Rolle spielen sollten, nicht von Interesse sind.

 

IV. Epilog


Zu der Zeit, als Reich zur Psychoanalyse kam -- und mit genialer Intuition bemerkte, dass der Fachmann Freud nicht sah, was der Laie Stirner gesehen hatte --, hat er auch den skeptischen Verdacht geäussert, "all das Ringen nach Freiheit sei fingiert, eine Komödie, die der Mensch seinem Narzissmus vorspielt und ihn deshalb veranlasst, ungehalten zu sein, wenn er aus seinem Spiel gerissen wird." (32) Reichs Erfahrungen mit den beiden geistigen und politischen Strömungen, die bei diesem Ringen nach Freiheit seinerzeit am bedeutendsten waren, mit Psychoanalyse und Marxismus, haben ihm diesen Verdacht bitter bestätigt. Das "westliche" Modell von Freiheit hingegen, dessen Verfechter (auf der Basis eines "wertfreien" Verständnisses von Wissenschaft) zynisch, pragmatisch oder naiv die Freiheitsfähigkeit der Menschen mit Erreichen der Volljährigkeit als gegeben ansehen (und Psychologie nicht zur Aufklärung einsetzen, sondern, im Gegenteil, für Reklamekampagnen aller Art), war natürlich schon gar nicht Reichs Sache. Reich blieb, auch ohne den (zuvor ohnehin nur vermeintlichen) Rückhalt bei irgendeiner gesellschaftlich relevanten Kraft, seiner Auffassung von Aufklärung treu: "Unsere Antwort ist wissenschaftlich-rational. Sie beruht auf der Tatsache der Freiheitsunfähigkeit der Menschenmassen, fasst sie aber nicht als absolut und ewiglich naturgegeben auf, [sondern als] veränderbar." (33) Reich betrieb deshalb weiterhin die Erforschung der Ursachen der menschlichen Freiheits(un)fähigkeit -- für den Fall, dass künftige Generationen doch einmal ernsthaft nach echter Freiheit streben sollten.


Anmerkungen:

(1) Leo Raditsa: Some Sense About Wilhelm Reich. New York: Philosophical Library 1978. p.46; Die zitierte Aussage wird von Raditsa nicht näher erläutert, steht erratisch im Text und ist wohl Ausdruck einer Intuition, die auf jahrzehntelanger Auseinandersetzung sowohl mit Reich als auch mit den Reaktionen auf Reich beruht.

(2) Ekkehard Ruebsam: Der heilige Wilhelm Reich und sein Fetisch Genitalität. In: Das Argument Nr. 60 (1970), S.178-191;
Vgl. a.:
Hans-Peter Gente [Hg.]: Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol. Bände 1 und 2. Frankfurt/M: Fischer-TB 1970, 1972.
Reimut Reiche: Sexualität und Klassenkampf. Frankfurt/M: Neue Kritik 1968, 1971;
Michael Schneider: Neurose und Klassenkampf. Reinbek: Rowohlt 1973;
Helmut Dahmer: Libido und Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1973.

(3) Karl Fallend / Bernd Nitzschke (Hg.): Der "Fall" Wilhelm Reich. Frankfurt/M: Suhrkamp 1997 (stw 1285)

(4) Klaus Schröter: Manichäische Konstruktion. Kritik an zwei Studien über Wilhelm Reich und seine Konflikte mit der DPG/IPV (1933-34). In: Psyche, 52. Jg., Heft 2 (Feb. 1998), S. 176-196. S. 190: "Dann fragt man sich, ob er [Nitzschke] die Reich'sche Kulturtheorie meint oder die Freud'sche, die ihr stracks zuwiderlief. - Ohne derartige Klärungen bleibt 'politisch' ein hohles Lobwort."
Schon früher, 1976, hatten zwei französische orthodoxe Psychoanalytiker von Weltgeltung, Béla Grunberger und Janine Chasseguet-Smirgel, offensichtlich alarmiert durch den Verkaufserfolg der Bücher Reichs und den daraus voreilig abgeleiteten Status Reichs als "Gott der neuen Linken", ein Buch mit dem programmatischen Titel »Freud oder Reich? Psychoanalyse und Illusion« schrieben und darin deutlich gemacht, dass und warum beide sauber zu scheiden und als echte Antipoden zu betrachten sind. Die Titelfrage ist natürlich rein rhetorisch. Für die Autoren war die Entscheidung vor dieser Alternative nicht fraglich, und sie konnten sicher sein, dass Reich-Sympathisanten (zu denen sie z.B. Deleuze und Guattari wegen ihres berühmten »Anti-Ödipus« zählten), wenn ihnen nur der bequeme Ausweg des "Sowohl-als-auch" versperrt würde, sich ebenfalls auf die Seite Freuds schlagen würden. Sie überschätzten allerdings das Interesse an einer Klärung der Frage, und bald nach Erscheinen ihres Buches verebbte diese seltsame Reich-Welle von 1968ff ganz von selbst, ohne dass sie nennenswerte theoretische Spuren im aufklärerischen "Diskurs" hinterlassen hätte.

(5) Sándor Ferenczi: Psychoanalyse und Pädagogik (ungarisch 1908); in ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, Band III, 1938, S.9-22; vgl.a. ders.: Zur Erkenntnis des Unbewussten (ungarisch 1911), ebd., S. 26-32. Hervorhebung B.A.L.

(6) vgl. dessen neu herausgegebene Schriften aus den Jahren 1908-1920: Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hg. Kurt Kreiler. Frankfurt/M: Robinson-Verlag 1980.

(7) Otto Gross: Ludwig Rubiners "Psychoanalyse". In: Die Aktion, 3(1913), S. 506. Zitiert in: Emanuel Hurwitz: Otto Gross, Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung. Zürich: Suhrkamp 1979. S. 94.

(8) vgl. Hurwitz, a.a.O.

(9) Sándor Ferenczi: Die Elastizität der psychoanalytischen Technik (1928). In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 14 (1928), S.197ff. Auch in ders.: Bausteine III, a.a.O, S.380ff.

(10) Sigmund Freud: Die "kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). Anfang des 2. Textviertels

(11) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M: Suhrkamp 1966. (Dritter Teil, Kap. I: Freiheit, Abschnitt »Vernunft, Ich, Überich«, S. 267-270)

(12) Béla Grunberger, Janine Chasseguet-Smirgel: Freud ou Reich? Psychanalyse ou Illusion. Paris 1976 (dt.1979, Zitat S. 73) betonen ebenfalls die "unübersehbare Divergenz", die zwischen Freud und Reich von Anfang an bestand, diskutieren aber nicht, warum diese Divergenz so lange übersehen wurde, vor allem, warum Freud, der sie gewiss sah, ganz entgegen seinem eigenen Ethos, nicht argumentativ gegen Reich Stellung bezog, sondern ihn auf politisch-intrigantem Wege kaltstellte.

(13) Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Wien 1923

(14) Welche Anteile dabei, gemäss Freuds erster Topik, bewusst oder unbewusst sind oder sein können, spielt hier keine Rolle.

(15) So Otto Fenichel, der vielleicht renommierteste Systematiker der Psychoanalyse, in seinem Werk: Psychoanalytische Neurosenlehre (1945). Übers. v. Klaus Laermann. Band 1. Olten und Freiburg: Walter-Verlag 1974. S. 155

(16) Wilhelm Reich: Frühe Schriften I. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 1977. S.19-77

(17) ebd., S.70f

(18) Wilhelm Reich: Passion of Youth. New York: Farrar, Straus & Giroux 1988. pp.111,158; zitiert nach dem deutschen Manuskript, S.125,180; Hervorhebungen: B.A.L.
[1999: Inzwischen ist die deutsche Ausgabe erschienen:
Wilhelm Reich: Leidenschaft der Jugend. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994. S. 139, 191]

(19) Verborgen in einer langen Literaturliste im Anhang zu einem sehr persönlichen Werk (»The Murder of Christ«. Biographical Material. Rangeley ME/USA: Orgone Institute Press 1953, dt. »Christusmord«. Olten, Freiburg: Walter-Verlag1978) ohne erkennbaren Bezug zum Text.

(20) Die spezielle Terminologie, die aus der psychoanalytischen abgeleitet ist, kann hier nicht erklärt werden.

(21) Randbemerkung Reichs auf einem Photo, das Bezug nimmt auf seinen Kuraufenthalt in Davos (Tuberkulose), den er als Folge seines "Konflikts mit Freud" ansah. (vgl. Bernd A. Laska: Wilhelm Reich. Reinbek: Rowohlt 1981. S. 34)

(22) Beide Zitate vom letzten Absatz der 31. Vorlesung von Freuds »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1933).

(23) Otto Fenichel: Psychoanalytische Neurosenlehre (1945). Übers. v. Klaus Laermann. Band III. Olten und Freiburg: Walter-Verlag 1977. S. 198

(24) Wilhelm Reich: Der genitale und der neurotische Charakter (1929). In: ders.: Charakteranalyse. o.O. 1933, S. 188-191; sowie Charakteranalyse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 196-199

(25) Wilhelm Reich: Der Erziehungszwang und seine Ursachen. In: Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik, 1,3 (Dez.1926), S. 65-74

(26) Vgl. dazu die Dokumente in: "Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter...", hg. v. Karen Brecht et al., Hamburg: Verlag Michael Kellner 1985, S. 99-109(101), 116-125 (117f)

(27) Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Mitte Abschn. II, Ende Abschn. VI

(28) Wilhelm Reich: Die Sexualität im Kulturkampf. Kopenhagen: Sexpol-Verlag 1936. Neuauflage als: Die sexuelle Revolution. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1966 (1. Kapitel)

(29) Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus (1942). Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969. S.181. Hervorhebung B.A.L.

(30) anonym [Wilhelm Reich]: Masse und Staat. Kopenhagen o.J. [1935] (nicht im Handel). S.17. Revidiert enthalten in: Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus (1946). Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971. S.231.

(31) Wilhelm Reich: Der biologische Rechenfehler im menschlichen Freiheitskampf (1943). In ders.: Massenpsychologie..., a.a.O., S. 336

(32) Wilhelm Reich: Libidokonflikte...(1920), a.a.O., S.70

(33) Wilhelm Reich: Der biologische Rechenfehler..., a.a.O., S. 308-348 (316)


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