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La Mettrie, Lamettrie -- Die Kunst, Wollust zu empfinden    Bernd A. Laska

Einleitung
zu La Mettrie / Lamettrie
»Die Kunst,
Wollust zu empfinden«

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In der Einleitung zum ersten Band dieser Reihe gebe ich einen Abriss von Leben, Werk und Wirkung des Arztes und Philosophen La Mettrie (1709 - 1751); zeige ich kurz, dass er nach Erscheinen seiner ersten grösseren Schriften (»Histoire naturelle de l'âme« (1745), »La Volupté« (1745), »Politique du médecin de Machiavel« (1746)) im April 1747 aus Frankreich in das liberale Holland floh; dass er, nachdem er dort Ende 1747 die Schrift »L'homme machine« veröffentlicht hatte, im Februar 1748 wiederum fliehen musste und zunächst dankbar das Asyl in Anspruch nahm, das Friedrich II ihm anbot; dass er am Hofe des freisinnigen Königs dann jedoch einer zwar weniger barbarischen, aber im Grunde perfideren Zensur unterworfen war als zuvor; dass er dort schliesslich im Alter von 42 Jahren, trotz guter Gesundheit, eines merkwürdigen Todes starb, der als tragikomischer "gastronomischer Unfall" in die Geschichte einging; dass die unmittelbare Nachwelt, zuvorderst die aufklärerische, ihn zur regelrechten Unperson machte; dass er deshalb gegen Ende

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des Jahrhunderts de facto  vergessen war; dass spätere "Rehabilitationen", die ungefähr ein Jahrhundert nach seinem Tode einsetzten, für eine Reihe von Erkenntnissen ihm zwar die zeitliche Priorität zuerkannten, für seine "Lehre vom Schuldgefühl" jedoch, die er selbst als seinen originellsten und wichtigsten Beitrag zur Philosophie ansah, wie einst die Zeitgenossen (um das mindeste zu sagen:) kein Verständnis zeigten.

In der Einleitung zum zweiten Band dieser Reihe, der die Schrift mit jener "Lehre" (»Anti-Sénèque«) -- sein Hauptwerk -- enthält, betrachte ich die Umstände ihrer Entstehung und Publikation genauer; zeige ich, dass La Mettrie, der offiziell den Status eines Leibarztes und Vorlesers des Königs sowie eines Mitglieds der Königlichen Akademie der Wissenschaften hatte, diese Schrift heimlich und in grosser Eile schreiben musste, als sein "Freund" Maupertuis, Präsident der Akademie und inoffizieller "Aufpasser" für La Mettrie, im Oktober 1748 für ungewisse Zeit nach Frankreich reiste; dass er sie als Einleitung zu einer Übersetzung von Senecas »De beata vita« tarnen und zudem zu einer gewagten List greifen musste, um sie drucken lassen zu kön-

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nen; dass er damit zwar vollendete Tatsachen, aber auch eine äusserst prekäre Situation geschaffen hatte (Friedrich hatte ihm zwar Publikationsfreiheit zugesichert, glaubte aber, genügend Sicherheiten zu haben, dass La Mettrie diese nicht "missbrauchen" würde); dass La Mettrie, ohne Aussicht auf ein anderes Asyl, diese Situation für sich zu entschärfen hoffte, indem er von der Rolle des Spassmachers, die er schon zuvor spielte, in die des (Hof-)Narren changierte; dass seine Seneca-Übersetzung, ihrer Einleitung wegen freilich, die einzige philosophische unter den "scandaleusen Schriften" des damaligen Preussen war, wie aus den Geheimdossiers über "konfiskierte Bücher" hervorgeht; dass wahrscheinlich sie der Anlass war für Friedrichs »Edict wegen der wieder hergestellten Censur« vom 11. Mai 1749.

In der Einleitung zum dritten Band dieser Reihe berichte ich, dass La Mettrie nunmehr, unter verschärfter Zensur, keineswegs verstummen sollte, sondern auf Befehl des Königs sozusagen sein philosophisches Testament machte, indem er seine »Œuvres philosophiques« herausbrachte; dass für diese »Œuvres« des gerade 40 Jahre alten und erst

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seit 5 Jahren schreibenden Autors ein einziger Band ausreichte, zumal er die ihm wichtigsten Werke, »La Volupté« und »Anti-Sénèque«, nicht aufnehmen durfte; dass auch diese reduzierten »Œuvres« bald nach ihrem Erscheinen (Mitte 1750) verboten wurden, weil La Mettrie eine Einleitung und eine Art Nachwort geschrieben hatte, die wiederum den Unwillen des Königs und seiner Berater erregten.

La Mettrie scheint jedoch unfähig gewesen zu sein, sich dem (weiter verstärkten) Druck der Zensur seiner freisinnigen "Schutzherren" zu beugen. Im Herbst 1750 bereits bewies er ungebrochene Renitenz: Er liess jene Einleitung zur Seneca-Übersetzung, die ihm so übel vermerkt worden war, nunmehr separat erscheinen. Diese Ausgabe, eine überarbeitete Version des unter starkem Zeitdruck geschriebenen Ersttextes, war es, über die der junge Lessing am 2. November 1750 an seinen Vater schrieb, dass sie "nicht mehr als zwölfmal ist gedruckt worden. Sie mögen aber von der Abscheulichkeit derselben daraus urtheilen, dass der König selbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat." Wenn auch die angegebene Auflagenhöhe,

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die dem »Avertissement« des Buches entnommen ist, nicht zu stimmen braucht: das Buch wurde so wenig bekannt, dass spätere Auflagen der »Œuvres«, die den »Anti-Sénèque« enthalten, stets den Text der ersten Version übernahmen. (Eine deutsche Übersetzung, die wenig später unter dem Titel »Das Höchste Gut / oder / des Herrn de la Mettrie Philosophische Gedanken über die Glückseligkeit« (Frankfurth und Leipzig 1751) erschien, blieb gar bis vor kurzem gänzlich verschollen. Auch eine dritte, nochmals überarbeitete Version des (französischen) Textes, die im August 1751* in Amsterdam erschien, fand kaum Verbreitung.)
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   * Ich möchte an dieser Stelle meine Vorbemerkungen »Zur Edition« von La Mettries »Über das Glück... (Anti-Seneca)« (Nürnberg 1985) korrigieren. Dort habe ich (p. XXVII) von John Falvey, dem Herausgeber der kritischen Edition des Werkes, die Angabe übernommen, dass jene dritte Version (Version C) in der Zeit von Ende August 1751 bis Ende Januar 1752, somit möglicherweise postum, erschienen sein könne. Eine Fussnote in La Mettries letzter Schrift, »Le petit homme à longue queue« (p. 9) belegt jedoch zweifelsfrei, dass La Mettrie das Erscheinen des Buches noch erlebt hat. Der von Falvey als bloss wahrscheinlich angenommene Publikationstermin August 1751 ist damit als gesichert anzusehen.

Obwohl La Mettrie wegen dieser Neuauflage erneut Schwierigkeiten mit seinen Asylherren gehabt haben wird, begann er schon

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wenig später, die zweite Schrift, die er in seine (inzwischen bereits verboten gewesenen) »Œuvres« nicht hatte aufnehmen dürfen, »La Volupté«, zur separaten Neu-Publikation vorzubereiten. Möglicherweise, um wiederum einem Befehl (ohne ausdrückliche Erlaubnis keine Neuauflagen!) formal Folge zu leisten, schrieb La Mettrie das Buch vollständig um und versah es mit einem neuen Titel: »L'art de jouir«. Es erschien im Mai 1751.

Die Umarbeitung des Textes kann hier nur grob beschrieben werden. La Mettrie übernahm ca. 50% des Textes von »La Volupté« (genauer: von deren dritter Auflage aus dem Jahre 1747, die auch in einigen späteren Auflagen der »Œuvres« enthalten ist), zerteilte ihn in viele, manchmal nur wenige Sätze umfassende Passagen, die er in veränderter Reihenfolge, teilweise durch neuen Text verbunden und ergänzt, zu jener neuen Schrift zusammenfügte. »L'art de jouir« hat ca. 75% des Umfangs von »La Volupte«.

La Mettrie hatte offenbar auch sachliche Gründe für die nicht unerhebliche Revision von »La Volupté«. Schon in der 1748er Version des »Anti-Sénèque« hatte er geschrieben, er habe jetzt eine "gemässigtere Einstel-

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lung" zur Beziehung zwischen Wollust und Glückseligkeit als in früheren Jahren, und in der 1751er Version trug er in einer Fussnote nach, dass diese Bemerkung auf »La Volupté« gemünzt gewesen sei, die er nun als (bloss?) "polemische" Schrift bezeichnete.*
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   * La Mettrie: Über das Glück... (»Anti-Seneca«). Nürnberg 1985. S. 105

Für »L'art de jouir« strich La Mettrie den grössten Teil der polemischen Passagen, vor allem jene, mit denen er sich 1747, wenn auch kritisch und ironisierend, noch irgendwie in eine Tradition "wollüstiger" Schriftsteller hatte stellen wollen (seine Liste umfasst u.a. die Namen Voltaire, Saint-Foix, Crébillon fils, Moncrif, Bernard, Gresset, Bernis, Fréron, Piron). Zwar war schon in »La Volupté« ein Hauptanliegen La Mettries gewesen, obszöne bzw., wie man später sagte, pornographische Schriftsteller und "Meister der reinen Wollust" deutlich zu scheiden; zwar hatte er schon hier gesagt, dass er zur letzteren Gruppe nur sehr wenige zähle; doch ist er sich der singulären Position, die er selbst einnahm, erst in den folgenden Jahren bewusst geworden, in die u.a. die persönliche Bekanntschaft mit Friedrich II, Maupertuis,

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Voltaire und anderen Berühmtheiten fällt.

Die Singularität von La Mettries weltanschaulicher oder philosophischer Position im 18. Jahrhundert, die von den Zeitgenossen so eklatant bestätigt wurde, besteht wesentlich in seinen Auffassungen über das Schuldgefühl und, untrennbar damit verbunden, über "die Kunst, die Wollust zu empfinden" (so der Titel der autorisierten deutschen Übersetzung von »L'art de jouir«). Deshalb ist sein Werk über die Wollust, in der revidierten Fassung von 1751, sein neben dem »Anti-Sénèque« wichtigstes philosophisches Werk. La Mettrie jedenfalls, der diese beiden Werke unter hohem persönlichen Risiko sowohl in ihrer Originalsprache als auch in deutscher Übersetzung drucken liess, hat ihre Rangfolge zweifellos so gesehen.

Die bisherige Rezeption der Schrift »L'art de jouir« steht allerdings in krassem Gegensatz zu ihrer hier behaupteten Bedeutung. Lessing, der schon den »Anti-Sénèque« "abscheulich" fand, beschimpfte sie als "geiles Geschwätz" und "Porneutik". Friedrich Albert Lange, der La Mettrie 1866 in seiner »Geschichte des Materialismus« der Vergessenheit entriss und "rehabilitierte", fand des-

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sen "zynische Schrift über die Wollust" "besonders widerwärtig", ging auf ihren Inhalt freilich nicht ein und versuchte, diese Schandtat La Mettries zu kompensieren, indem er allerlei Positives über ihn berichtete. Poritzky, der 1900 eine apologetische Monographie über La Mettrie erscheinen liess, mochte nur widerwillig "einer schmutzigen Schrift gedenken, die besser ungedruckt geblieben wäre". Er meinte damit »La Volupté«. »L'art de jouir«, die in seinen Augen "noch gemeiner abgefasst war", erwähnt er nur noch ganz kurz. So oder ähnlich lautete bis in die 1960er Jahre das einhellige Urteil derer, die dieses Werk überhaupt erwähnen.

Erst in den letzten zwanzig Jahren befassten sich einige wenige Autoren, meist Romanisten, ernsthaft mit jenen Schriften La Mettries, die zuvor wegen ihres moralkritischen Inhalts insbesondere von wohlwollenden Betrachtern eher übersehen wurden. John Falvey und Aram Vartanian versuchten dabei auch, La Mettries Auffassungen über "die Kunst, Wollust zu empfinden" gerecht zu werden. Ann Thomson indes sah in dieser Schrift nichts als eine "Glorifizierung der Sexuallust" und zählte sie deshalb nicht zu La

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Mettries philosophischen bzw. theoretischen Werken.*
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   * John Falvey hauptsächlich in »The Aesthetics of La Mettrie«. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Vol. 87, 1972, p. 397-479.

Aram Vartanian in »La Mettrie, Diderot, and Sexology in the Enlightenment«. In: Essays on the Age of Enlightenment, in Honor of Ira O. Wade, ed. Jean Macary, Genève 1977, p. 347-367.

Ann Thomson in »Materialism and Society in the Mid-Eighteenth Century: La Mettrie's Discours préliminaire«. Genève 1981, p. 57; vgl. a. folgenden Aufsatz, in dem sie versucht, La Mettries Konzept von Sexualität von dem des Marquis de Sade abzugrenzen: »L'art de jouir de La Mettrie à Sade«. In: Aimer en France 1760 - 1860. Rec. et pres. par Paul Viallaneix et Jean Ehrard. Clermont-Ferrand 1980. p. 315-322.

Philosophen haben diese Arbeiten, die das übliche Bild vom "mechanistischen Materialisten" La Mettrie als reduziert und verzerrt erscheinen lassen, bisher kaum rezipiert. Wichtigste Ausnahme ist Panajotis Kondylis, der den "neuen" La Mettrie zur Schlüsselfigur seiner Untersuchung »Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus« (1981) machte. Kondylis verwendet allerdings einen fragwürdigen theoretischen Kunstgriff: Er stilisiert La Mettries Philosophie zusammen mit der Sades zu einem (wertrelativistischen) Nihilismus, so dass La Mettrie und Sade bei ihm als gleichgesinnte Denker erscheinen. Kein Werk La Mettries ist

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aber wohl besser geeignet als das hier einzuleitende, um zu zeigen, dass La Mettrie -- in seinen Auffassungen über Ursprung und Wesen der Wollust, die im Zentrum seiner Philosophie stehen -- tatsächlich Sades Antipode ist.*

[Anm. 1998: Vgl. hierzu »Panajotis Kondylis als unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts«]

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   * Um die Verquickung von La Mettrie und Sade bemühten sich bisher Vertreter aller drei moralphilosophischen Grundpositionen: der theologischen, der aufklärerisch-normativistischen und der aufklärerisch-wertrelativistischen. Zu dieser höchst bemerkenswerten "Dreieinigkeit" vgl. Bernd A. Laska: Einleitung. In: La Mettrie: Über das Glück.. (»Anti-Seneca«). Nürnberg 1985. S. XVIII-XXIII.

La Mettrie versah die deutsche Übersetzung von »L'art de jouir« -- nur sie, nicht das Original -- »mit einer Französischen Zuschrift von dem Verfasser, an den Herrn Professor Haller in Göttingen", datiert vom 15. August 1751. Dies erscheint zunächst merkwürdig, lässt sich aber leicht erklären. Die quérelle  zwischen Haller und La Mettrie hatte Mitte der 40er Jahre begonnen. Einen Abriss ihres Verlaufs bis Ende 1747 gebe ich vor der deutschen Übersetzung des »L'homme machine«.*
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   * s. Bernd A. Laska: Vorbemerkungen... In: La Mettrie: Der Mensch als Maschine. Nürnberg 1985. p. XXXVII-XL

Sie lässt sich anhand einiger Schriften beider Kontrahenten noch bis in das Jahr

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1750 hinein verfolgen, scheint dann jedoch zur Ruhe gekommen zu sein. Den Anlass für ihre Neubelebung Mitte 1751 gab wahrscheinlich Lessing. Er besprach im Juniheft von »Das Neueste aus dem Reiche des Witzes« die gerade erschienene »L'art de jouir«, d.h. er bemühte sich hauptsächlich mit grosser Sorgfalt um den Nachweis, dass La Mettrie in ihr Hallers »Ode an Doris« entstellend plagiiert habe, um dann empört anzuklagen: "Was für eine Beleidigung gegen einen tugendhaften Dichter, seine unschuldigen Empfindungen unter priapeische Ausrufungen vermengt zu sehen! Es ist das zweite Unrecht, welches dem Herrn von Haller durch den Herrn de la Mettrie geschieht. Doch vielleicht ist dieses nur eine Folge von dem ersten. Da er in der Zueignungsschrift seines Werkes »Der Mensch eine Maschine« sich die Gedichte dieses Mannes gelesen zu haben rühmte, so hat er vielleicht jetzo dadurch, da er sie ausgeschrieben, beweisen wollen, dass er sie würklich gelesen habe, woran man damals zweifeln konnte, weil die französische Übersetzung noch nicht heraus war." Lessing übersah in seinem Eifer, durch diese Anspielung auf La Mettries Bildung seinen Worten

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mehr Nachdruck zu verleihen, dass La Mettries leicht travestierende Paraphrase jener Haller-Ode bereits in »La Volupté« (1747) enthalten, also durchaus vor Erscheinen der französischen Übersetzung von Hallers Gedichten (1750) verfasst worden war. Dies mag La Mettrie, den früher schon Haller selbst einen Plagiarius gescholten hatte, gereizt haben, der deutschen Übersetzung des rezensierten Werkes, deren Erscheinen kurz bevorstand, erneut eine ironische Widmung an Haller voranzuschicken -- selbstverständlich in französisch.

Während so der Anlass für diese neuerliche Attacke La Mettries hinreichend plausibel erscheint, wurde ein tieferer Grund für sie und die gesamte Haller-Kontroverse, die erst mit La Mettries Tod endete, bisher noch kaum gesucht.

Dabei wurde die literarische Fehde zwischen dem spöttischen Gottlosen und dem humorlosen Frommen als eine der berühmteren des Jahrhunderts durchaus relativ häufig kommentiert. Die Urteile über den Part, den La Mettrie in ihr spielte, fielen allerdings selbst bei Autoren, die ihm wohlwollten, recht zwiespältig aus. Maupertuis etwa versuchte, La Mettrie zu "entschuldigen", indem

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er ihm aus persönlicher Kenntnis einen guten Charakter bescheinigte, aber auch eine partielle Unzurechnungsfähigkeit (vgl. Anhang 2 dieses Bandes). Der schon genannte Lange, La Mettries fairer Gegner im 19. Jahrhundert, betonte ebenfalls dessen guten Charakter, schränkte aber ein: "Als Freund mag er gefällig und aufopfernd gewesen sein; als Feind war er, wie es besonders Albrecht von Haller erfahren musste, boshaft und niedrig in der Wahl seiner Mittel." Ernst Bergmann, der der Kontroverse eine monographische Studie widmete, bemühte sich um eine lockere Sichtweise: "Wir sind mit ihm [Haller] entrüstet, aber wir lachen mit seinem Gegner. Unsere moralischen Sympathien gehören Haller, unsere ästhetischen La Mettrie". Bergmann begrüsst La Mettrie als amüsanten Spassvogel: "Sie haben die Herren Haller, ...mit Ihrer grotesken Maschinentheorie ziemlich unsanft emporgeschreckt und ihnen dann gleich, während sie sich noch verwundert die Augen rieben, mit dem 'Antiseneca' aufgewartet, wobei es Ihnen, wie mir scheinen will, nicht sowohl um die Auffindung der Wahrheit, als vielmehr um den Spass zu tun war. [...] Und wie der grosse König es lä-

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chelnd geduldet... so wollen auch wir Ihnen um Ihres Witzes und um Ihrer vielen lustigen Spässe und Einfälle willen verzeihen." Bergmann sieht sich zwar vor einem Rätsel: "Wir wissen nicht, warum er dem braven Haller so übel mitgespielt." Aber er warnt geradezu davor, es lösen zu wollen: "Man wird sich freilich hüten müssen, einem Sanguiniker vom Schlage La Mettries allzu ernste und allzu grosse Motive unterzulegen."*
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   * Ernst Bergmann: Die Satiren des Herrn Maschine. Leipzig 1913. S. 8f, Vf,7, 39

Heute, da eine weniger phobische Reaktion auf La Mettries "moralische" Schriften möglich ist, sollte es auch möglich sein, dessen kurz vor seinem Tode gegebene Versicherung ernst zu nehmen, wonach er in all seinen Werken das Stilmittel der Ironie nicht nur zum Spass, sondern hauptsächlich zu seinem Schutz eingesetzt habe: weil er sich "in der Lage eines Seefahrers befand, der in ungünstigen Wettern manövrieren muss"; weil ihm, der es gewagt habe, "den Hafen der Vernunft und der Wahrheit anzusteuern", stets alle Winde widrig gewesen seien (vgl. Anhang 1 dieses Bandes). Die Vermutung liegt nahe, dass La Mettrie, bei aller temperamentbe-

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dingten Lust an Spott und Satire, sich seinen Gegner Haller weder zufällig noch zum blossen (keineswegs ungetrübten) Amüsement gewählt hat.

Wer war Haller? Er wurde 1708 als Sohn eines Juristen in Bern geboren, entwickelte sich bald zu einem Wunderkind, das erstaunliche geistige Fähigkeiten zeigte, wurde vorwiegend privat unterrichtet und begann, obwohl zunächst für die Theologie bestimmt, 1723 das Studium der Medizin in Tübingen. Er wechselte 1725 nach Leiden in Holland, dem damaligen Mekka der Medizin, wo er sein Studium bei Albinus und Boerhaave fortsetzte und 1727 abschloss. Nach Studienaufenthalten in London, Oxford, Paris und Basel (Mathematik bei Johann Bernoulli) kehrte er 1729 nach Bern zurück. 1736 hatte er sich in der Fachwelt bereits einen solchen Namen gemacht, dass er einen Ruf an die neugegründete Universität Göttingen bekam, wo er bis 1753 sehr tatkräftig wirkte. 1740 wurde er, als Nachfolger für den 1738 verstorbenen Boerhaave, in die Royal Society of London gewählt. Viele weitere Ehrungen folgten. Rufe an renommierte Universitäten (Oxford, Utrecht) schlug er aus.

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1749 wurden ihm die Privilegien des Reichsadels verliehen. Seit 1745 leitete Haller (ab 1749: von Haller) die »Göttingischen Gelehrten Anzeigen« und machte die zuvor kaum beachtete Zeitschrift zu einem internationalen Besprechungsorgan. Hallers bedeutendste Leistung als Naturwissenschaftler waren seine Arbeiten zur Sensibilität und Irritabilität der tierischen Organismen (die La Mettrie, obwohl sie erst 1752 publiziert wurden, schon 1747 für »L'homme machine« auswertete).*
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   * Vgl. Bernd A. Laska: Vorbemerkungen... In: La Mettrie: Der Mensch als Maschine. Nürnberg 1985. S. XXXIX-XL

Neben dieser aussergewöhnlichen beruflichen und gesellschaftlichen Karriere (die hier nur bis zum Tode La Mettries interessiert) hatte Haller sich bereits in jungen Jahren einen dauerhaften Ruhm als Dichter erworben. Mit seinen Dichtungen »Die Alpen«, »Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben«, »Die Falschheit menschlicher Tugenden«, »Über den Ursprung des Übels« und »Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit«, die zwischen 1729 und 1736 entstandcn, gilt er als Begründer der deutschen philosophischen Lyrik und war als dieser u. a. der Lieblingsdichter

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Kants. Haller hatte dem Publikum allerdings auch Gedichte präsentiert, die einen La Mettrie zum Spott geradezu reizen mussten: z.B. »Ode an Doris«, »Vergnügen an den Wissenschaften«.

Als Wissenschaftler auf medizinisch-biologischem Gebiet, der Haller in erster Linie war (Dichter war er nur in jungen Jahren, bis ca. 1736, und nur, wie er sagte, in seinen "Nebenstunden", in denen Krankheit ihn am Arbeiten hinderte), war er entschiedener Empirist, Gegner jeglicher Spekulation, ein treuer Schüler Boerhaaves -- wie La Mettrie. "Man muss sich die weitgehende Übereinstimmung von La Mettrie und Haller auf diesem Felde klar machen", schreibt der Haller-Forscher Toellner, "um ermessen zu können, wie recht La Mettrie mit seiner angemassten Schülerschaft hatte, wie gefährlich daher dieser Angriff [durch »L'homme machine«] für Haller war."*
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   * Richard Toellner: Anima et Irritabilitas. Hallers Abwehr von Animismus und Materialismus. In: Sudhoffs Archiv, 51 (1967), S. 130-144 (135).
Tatsächlich steht sogar der Satz La Mettries, der oft als entsetzliche Quintessenz seines "mechanischen Materialismus" zitiert wird ("Der Körper des Menschen ist eine Maschine. die ihre Triebfedern selbst spannt." In: Der Mensch als Maschine. Nürnberg 1985. S. 26), bei Haller sinngemäss schon in dem 1733 verfassten Gedicht »An Gessner«, lin. 103 - 108:

"Bald suchst du in der Wunderuhr,
dem Meisterstücke der Natur,
bewegt von selbstgespannten Federn;
du siehst des Herzens Unruh geh'n,
du kennst ihr Eilen und ihr Steh'n
und die Vernutzung an den Rädern."

Während Toellner, der der Ironie der

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"angemassten Schülerschaft" des fast Gleichaltrigen aus der gleichen Schule keinen Sinn abgewinnen kann, meint, Haller habe diesen Angriff schliesslich erfolgreich abgewehrt, konstatiert Hintzsche, ein anderer Haller-Forscher, dass man heute, nachdem man La Mettrie lange Zeit ignoriert habe, "die von ihm vertretenen Anschauungen über die Irritabilität wegen ihrer umfassenderen Formulierung höher wertet als die Hallers. "*
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   * Erich Hintzsche: Neue Funde zum Thema L'homme machine und Albrecht Haller. In: Gesnerus, 25 (1968), S.135-166 (162)

Beim Kampf um Boerhaaves Erbe hatte La Mettrie damals schon aus wissenschaftspolitischen Gründen kaum eine Chance gegen Haller. Da man aber den wissenschaftlichen Prozess nicht oder nur ungern als (auch) politischen sieht, hat man La Mettries satirische Attacken auf Haller stets mit Verwunderung, Befremden oder gar Abscheu betrachtet. Als Motive unterstellte man La Mettrie Neid, Ra-

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chebedürfnis u.ä., bestenfalls eine ungezügelte Spottlust. (Letztere empfand man oft als infam. Sogar der oben zitierte Bergmann meinte ja wie selbstverständlich, Haller sei derjenige gewesen, dem "übel mitgespielt" wurde -- und nicht La Mettrie.) Wenngleich die genannten Motive nicht völlig ausgeschlossen werden brauchen, so ist bei besserer Einsicht in die Philosophie La Mettries und empathischer Betrachtung seiner Situation doch klar, dass ihn, wie zuvor bei seinen Satiren gegen bestimmte französische Ärzte, in erster Linie andere Motive bewegt haben müssen.

La Mettrie hatte nach seinem Studium bei Boerhaave, dem damals unbestritten führenden Mediziner Europas, dessen wichtigste Schriften ins Französische übersetzt, um in seinem auf diesem Gebiete zurückliegenden Vaterland den neuesten Kenntnisstand seiner Wissenschaft verfügbar zu machen. Erst die Gleichgültigkeit und selbstzufriedene Ignoranz, mit der die grosse Mehrzahl der französischen Ärzte, die nur an ihrer gesicherten Pfründe interessiert waren , darauf reagierten, hatten ihn zu jenen satirischen Attacken auf sie

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provoziert, derentwegen er dann das Exil auf sich nahm. Haller hingegen war ein Arzt ganz anderer Qualität. Er war von Forscherdrang beseelt und trug die gleiche "Fackel der Vernunft" wie La Mettrie; und doch provozierte er diesen zu vielleicht noch bissigerer Satire. Warum? Haller, dessen Boerhaave-Kommentare La Mettrie offenbar sehr schätzte (denn er übersetzte auch sie ins Französische), Haller, der Naturforscher, der Polyhistor, der "geistreichste Kompilator des Jahrhunderts" (Herder), der "letzte Universalgelehrte" (Toellner) etc., Haller, der radikale Empirist, war trotz alledem ein Mann, der sich, wie La Mettrie verwundert bemerkte, "im fünften Lebensjahrzehnt noch nicht von den Vorurteilen seiner Kindheit zu befreien vermocht hat."*
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   * La Mettrie: Philosophie und Politik. Nürnherg 1987. Fn.35

Der "fromme Aufklärer" Haller war für La Mettrie eine grössere Herausforderung als zuvor die leicht moralisch kritisierbaren französischen Ärzte. (Diderot, Holbach, Rousseau waren noch nicht hervorgetreten.)

Für La Mettrie war Haller, so sehr er ihn auch als Detailkrämer und Graphomanen schmähte, letztlich doch ein bon esprit,  kein blosser bel esprit  wie etwa Voltaire und die

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meisten Personen seines Umgangs. Er war für ihn -- neben Maupertuis, den er auch persönlich kannte -- ein unabweisbarer Fall eines brillanten und geschätzten Wissenschaftlers, der zugleich -- durchaus ernsthaft und ohne politisches Kalkül -- den "christlichen Wahrheiten" anhing.

Dieser paradigmatische Fall eines "beruflich" streng rationalen und ungebundenen, "privat" aber zutiefst irrationalen und gebundenen Geistes kurierte La Mettrie von jener Illusion über die Wirksamkeit von Wissen und Wissenschaft für die "Aufklärung", die nach ihm nicht nur die Enzyklopädisten, sondern noch Generationen von Aufklärern, bis in unsere Zeit hinein, gegen alle Evidenz aufrechterhielten. Angesichts Hallers und ähnlicher Figuren entwickelte La Mettrie die Grundzüge seiner Anthropologie.

Haller scheute sich nicht, sehr zum Unwillen manches Kirchenmannes, zu fordern, keine Kirche dürfe "uns zwingen, dasjenige zu glauben, was unserer Vernunft gerade zuwider liefe." Doch dies stand durchaus im Einklang mit seiner Feststellung: "Das vernünftige Christentum gründet sich auf das Gefühl unseres Verderbens und unserer Verschuldung

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gegen einen heiligen Gott."*
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   * zit. n. Richard Toellner: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten. Wiesbaden 1971. S. 111

Auch noch darin stimmten die Empiristen Haller und La Mettrie überein, dass die Quelle der Religiosität das existenzielle Schuldgefühl sei; der Gegensatz beider drückt sich darin aus, dass Haller vom Schuldgefühl des  Menschen sprach, La Mettrie hingegen vom Schuldgefühl der  (meisten) Menschen.*
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   * Dieser Gegensatz, an dem sich eigentlich die Geister hätten scheiden können, fiel einer kollektiven Verdrängung zum Opfer, aus der er bis heute nicht ins Bewusstsein trat. Bezeichnend dafür ist das zwiespältige Urteil des kenntnisreichen und einfühlsamen La-Mettrie-Experten Vartanian. Er bezeichnet La Mettrie einmal als "scharfsinnigen Psychologen", der sich als solcher "weit über seine Zeitgenossen erhoben" habe; ein andermal, wo er auf den Kern seiner Psychologie (die Negation nicht der Ubiquität, wohl aber der biologischen Natur jenes "Schuldgefühls") zu sprechen kommt, als "ziemlich schlechten Psychologen." (vgl. Aram Vartanian: La Mettrie's L'homme machine. Princeton NJ/USA 196(). p. 9, 23, 52)

Hier, also in durchaus diesseitigen Gefilden, liegt die differentia specifica  der Anthropologie La Mettries, die ihn von dem frommen Haller (im übrigen gleichfalls von den deistischen und atheistischen Aufkärern) trennt.

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Der skizzenhafte Exkurs über Haller, der meine Bemerkungen über ihn in Band 1 dieser Reihe ergänzt, wurde durch die ironische "Zuschrift" veranlasst, die La Mettrie der deutschen Übersetzung von »L'art de jouir« voranstellte. Er soll vor allem darauf hinweisen, dass La Mettries satirische Polemiken gegen Haller (und andere Personen) nicht bloss mehr oder weniger gelungene Hanswurstiaden sind, sondern durchaus einen ernsten Hintergrund haben. Wie zuvor jene gegen bestimmte französische Ärzte, waren sie, pauschalisierend gesagt, La Mettries Reaktion darauf, dass man seinen sachlichen Argumenten meist mit politischen Machtmitteln begegnete.

La Mettries letzte Schrift dieser Art, »Le petit homme à longue queue«, erschien im Oktober 1751, wenige Wochen vor seinem Tod. Sie blieb lange Zeit verschollen, und da man von ihr nur aus zweiter Hand wusste, hielt man sie für nichts anderes als eine neuerliche Attacke La Mettries gegen Haller, die, wie man aus ihrem Titel schliessen zu können meinte (queue = Schwanz, Schweif; a. fig.), obszönen Inhalts sei.*
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   * Obwohl die Schrift 1913 (von Ernst Bergmann) wieder aufgefunden und 1934 (von Pierre Lemée) neu herausgegeben wurde, überlebte diese Einschätzung bis heute. Vgl. Ann Thomson: op. cit., p. 57.

Tatsächlich ist in ihr nur auf 15 von 56 Seiten von Haller die Rede,

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und mit dem "langen Schwanz" meinte La Mettrie, dem sonstigen Inhalt nach, die Traktate und Traktätchen, die gegen seine "kleine" Schrift »L'homme machine« erschienen waren (während seine "grosse" Schrift, der »Anti-Seneca«, bis heute nur einen sehr "kurzen Schwanz" nach sich zog).*
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   * Diese Interpretation des Titels stützt sich auch darauf, dass La Mettrie schon zuvor sein Buch »L'homme machine« als "kleine Schrift" bezeichnet hatte. Vgl. La Mettrie: Über das Glück... (»Anti-Seneca«). Nürnberg 1985. S. 63.

Die Haller-Passage des »Petit homme« ist, sozusagen als Fortsetzung der "Zuschrift" vom 15. August 1751, in Anhang 1 dieses Bandes in deutscher Übersetzung abgedruckt. Während Haller die Zuschrift überhaupt nicht zur Kenntnis bekam oder ignorierte, reagierte er auf den »Petit homme« mit einem langen Brief an Maupertuis als dem Präsidenten der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften: "damit der gute Name eines Mitglieds der Akademie... wiederhergestellt werde", der durch La Mettrie, ein anderes Mitglied der Akademie, ver-

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unglimpft worden sei. Dieser Brief (vom 10. Nov.) ist, zusammen mit der Antwort, die Maupertuis am 25. Nov., also nach La Mettries Tod (11. Nov.) gab, in Anhang 2 dieses Bandes abgedruckt.

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