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Der folgende Artikel erschien zuerst in:
Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 4 (12), 3. November 2000, S. 17-23

Den Bann brechen! - Max Stirner redivivus

Wider Marx, Nietzsche et al.
Eine Ermutigung anlässlich zweier mutloser Neuerscheinungen (*)

Teil 2: Über Nietzsche und die Nietzscheforschung

siehe auch: »Nietzsches initiale Krise«

von Bernd A. Laska


Teil 1:
»Stirner - Marx - Marxforschung«
2. Nietzsche
2.1 Die Nietzscheforschung summarisch
2.2 Curt Paul Janz
2.3 Henning Ottmann
2.4 Arno Münster
2.5 Rüdiger Safranski (post scriptum)
3. Beschluss


2. Nietzsche

Das Jahr 2000 war ein Nietzsche-Jubeljahr: "Nietzsche, Nietzsche... fast bis zum Überdruss begegnete er einem in den Sommermonaten in den Feuilletons nicht nur der überregionalen Presse, sondern auch der Provinzzeitungen. Interessant war dabei, dass Nietzsche überall gefeiert wurde. Negative Stimmen, die noch vor wenigen Jahrzehnten regelmässig zu hören waren, sind selbst in katholischen Zeitungen verstummt. Einzig Tugendhat hat in der ZEIT vor einer Verharmlosung Nietzsches gewarnt." Soweit Peter Moser, der Herausgeber von »Information Philosophie«. Natürlich nicht nur in den Feuilletons, auch in den Fachzeitschriften und in der Buchproduktion wurden neue Rekorde erreicht: »Nietzsche-Literatur ohne Ende« titelte die »Neue Zürcher Zeitung«. (1) Wenn ich der selbst von Experten kaum noch überschaubaren Überfülle an Nietzsche-Literatur nun einen weiteren Text hinzufüge, so kann ich dies damit rechtfertigen, dass ich darin weder einen "postmodern" verharmlosten Nietzsche feiere, noch vor einem "à la Antifa" dämonisierten warne, noch eines der üblichen akademischen Elaborate abliefere, sondern einen Nietzsche absconditissimus  in den Blick nehme, den die Nietzsche-Forschung, der der Nietzsche absconditus  längst wohlvertraut ist, bisher nicht kennt.
[Nov. 2002: vgl. dazu genauer: »Nietzsches initiale Krise«]

Was hier analog zum Teil 1 dieses Artikels - ebenfalls einem künftigen, materialreichen Band der »Stirner-Studien« vorgreifend - in grober, holzschnittartiger Skizze dargestellt werden soll, ist zweierlei: Erstens die Reaktion des jungen Friedrich Nietzsche auf seine (wahrscheinliche) Begegnung mit Stirners »Einzigem«, also seine (Primär-)Verdrängung der ihn tief schockierenden spezifischen Idee Stirners durch Schaffung einer eigenen, diese Idee "überwindenden" Philosophie; zweitens - anhand von vier Beispielen (Janz, Ottmann, Münster, Safranski) - die (Sekundär-)Verdrängung jener Stirner'schen Idee (incl. der Wahrnehmung ihrer Verdrängung durch Nietzsche) durch die Nachgeborenen, die mit grösster Selbstverständlichkeit quasi dogmatisch davon ausgehen, dass Nietzsche ein geistiger Titan ist, Stirner allenfalls einer von vielen "Einflüssen" auf ihn. Letzteren Sachverhalt habe ich in der Einleitung zu diesem Artikel auf den "dauerhaften, nie erklärten und nicht ohne weiteres erklärlichen Bann gegen Stirner" zurückgeführt, auf einen Bann, dessen ungebrochene Stärke und bisherige Unanfechtbarkeit grossteils auf dem Publikumserfolg der Philosophien von Marx (der jetzt aus dubiosen Gründen verblasst) und eben Nietzsche (der jetzt aus dubiosen Gründen neu auflebt) beruht. Als "Ironie" dabei mag man die Merkwürdigkeit bezeichnen, dass Stirners Nennung meist gerade im Zusammenhang mit Marx oder Nietzsche erfolgt - aber eben stets als Fussnote, höchstens als marginaler "Einfluss". Jener hochwirksame Bann verhindert - was bei Marx bestens belegbar ist, bei Nietzsche mehr erschlossen werden muss - , dass die Reaktion der "Grossen" auf Stirner entweder überhaupt thematisiert oder, falls in seltenen Fällen (den hier genannten Beispielen) doch, auf so verquälte wie verquaste Weise bagatellisiert wird. Das mag insofern "logisch" oder verständlich sein, als in jenen Wenigen, die sich überhaupt intensiv in die Situation versetzten, in der die "Grossen" sich bei ihrer Konfrontation mit Stirner befanden, ähnliche Abwehrmechanismen wirksam geworden zu sein scheinen wie einst bei ihren Helden und sie deren Verdrängungsakt blind nachvollzogen. Hinzu kommt der Druck der seitherigen (Verdrängungs-)Geschichte und des mainstream.  -- Wie die plausibelste Erklärung auch immer lauten mag, zuerst heisst es einmal, in medias res  zu gehen (wobei hier nur ein "Skelett" geboten werden kann, das, wie gesagt, in späteren Detailstudien mit "Fleisch" versehen wird).

Friedrich Nietzsches Reaktion auf Stirner lässt sich nicht mit den gleichen Methoden erschliessen und belegen wie die von Karl Marx. Es gibt von ihm kein nachgelassenes Werk wie Marx' Anti-Stirner »Sankt Max«. Ja, es gibt von Nietzsche, dessen schriftlicher Nachlass eine der reichhaltigsten Dokumentensammlungen zu einer Einzelperson überhaupt ist, kein Manuskript, keine Notiz, keinen Brief, nichts, worin der Name Stirner auftaucht. Schon gar nicht ist Stirner in einer seiner veröffentlichten Schriften erwähnt. Auch Nietzsches engste Freunde konnten sich nicht an Gespräche mit ihm über Stirner erinnern. Nietzsches Schwester, von Kindheit an über viele Jahre seine enge Vertraute, sagte, den Namen Stirner nie aus seinem Munde gehört zu haben. Nietzsche schien Stirner, nach all dem zu urteilen, gar nicht gekannt zu haben.

Gleichwohl meinten viele Leser in den 1890er Jahren - nachdem Nietzsche fast "über Nacht" weithin berühmt geworden war und im Gefolge seines Ruhms Stirners »Einziger« nach langer Verschollenheit wiederentdeckt wurde - erstaunliche Parallelen und Übereinstimmungen zwischen beiden Autoren feststellen zu können. Der Verdacht, dass Nietzsche Stirners »Einzigen« gekannt hat, lag auf der Hand und wurde in den Feuilletons immer wieder ventiliert, doch letztlich ohne handgreifliches Ergebnis. Schliesslich gab ein früher Lieblingsschüler Nietzsches, Adolf Baumgartner, zu Protokoll, er erinnere sich, dass Nietzsche ihm einst Stirners »Einzigen« zur Lektüre empfohlen habe. Dass Baumgartner sich damals das Buch aus der Universitätsbibliothek Basel geliehen hat, konnte anhand der Ausleihbücher bestätigt werden, und dies ist der einzige - wenn auch nicht jedem Einwand standhaltende - Beleg dafür, dass Nietzsche Stirner gekannt hat. Ob Baumgartner sich, was die Person des Empfehlenden angeht, richtig erinnert hat, und ob Nietzsche, falls er tatsächlich den »Einzigen« empfohlen hat, diesen selbst auch gründlich gelesen hatte, kann natürlich nach wie vor bezweifelt werden.

Es gibt freilich weitere Indizien dafür, dass Nietzsche Stirners Buch nicht unbekannt geblieben sein konnte. Bei Friedrich Albert Lange (1828-1875) etwa, dessen »Geschichte des Materialismus« (1866) Nietzsche in- und auswendig gekannt und sehr geschätzt hat, ist Stirners »Einziger« als "berüchtigtes Werk", als "das extremste [Buch], das wir überhaupt kennen" charakterisiert. Sollte Nietzsche das überlesen haben? Kaum denkbar. Wahrscheinlich indes ist, dass Nietzsche Langes fadenscheinige Begründungen, warum er auf dieses Werk nicht näher eingehen wolle, als subtile Botschaft aufgenommen hat. (2)

Ein weiteres starkes Indiz für Nietzsches Stirner-Kenntnis ist seine Reaktion auf Eduard von Hartmanns Buch »Philosophie des Unbewussten« (1869) - ein philosophischer Bestseller, der bis 1890 zehnmal neu aufgelegt wurde. Das Buch umfasst ungefähr 700 Seiten, und 3 Seiten davon sind Stirner gewidmet - was merkwürdig wenige sind, wenn man weiss, was Hartmann (1842-1906) erst postum wissen liess: dass er zuvor, als junger Mann, selbst eine Zeit lang "auf Stirners Standpunct" gestanden habe; dass dieses erfolgreiche Erstlingswerk also Produkt seiner Überwindung Stirners ist. Nietzsche bewies jedenfalls ein feines psychologisches Gespür und einen sicheren Blick für's Wesentliche, als er sich für seine fulminante Kritik Hartmanns, die er in seiner zweiten »Unzeitgemässen Betrachtung« publizierte, genau auf jenes Kapitel des Wälzers konzentrierte, das die drei Stirnerseiten enthält. Das Auffälligste - gleichwohl regelmässig Übersehene - dabei ist jedoch: Nietzsche erwähnt Stirner mit keinem Wort, liest, zitiert und argumentiert kunstvoll um ihn herum. Hier konnte er Stirner auf keinen Fall übersehen haben. (3)

Es sprechen allerdings gewichtige Anzeichen dafür, dass Nietzsche Stirners »Einzigen« nicht durch Lange oder gar erst durch Hartmann, sondern schon vorher kennengelernt haben muss. Ich habe die biographische Situation, in der Nietzsche mit grosser Wahrscheinlichkeit Stirners »Einzigem« das erste Mal begegnete, einmal wie folgt knapp geschildert:

"Friedrich Nietzsche, der zweite grosse 'Überwinder' Stirners, wurde im gleichen Jahr (sogar im gleichen Monat) geboren, in dem Stirners »Einziger« erschien. Doch zu Nietzsches Jugendzeit bereits galt der gesamte Junghegelianismus allenthalben als unseriös, als Tollheit einiger relegierter Privatdozenten und Radaupublizisten des Vormärz. Der junge Nietzsche indes, verdrossen über die 'Greisenhaftigkeit' seiner Kommilitonen, rühmte in einem Brief eben jene vierziger Jahre als eine 'geistesrege Zeit', in der er selbst gern aktiv gewesen wäre. Der direkte Kontakt mit einem junghegelianischen Veteranen war denn auch eine Weichenstellung für den späteren Philosophen. Im Oktober 1865 hatte Nietzsche eine längere, intensive Begegnung mit Eduard Mushacke, der damals zum engsten Kreis um Bruno Bauer gehört hatte und mit Stirner befreundet gewesen war. Die unmittelbare Folge war eine tiefe geistige Krise (Nov. 2002: vgl. »Nietzsches initiale Krise«) und ein panikartiger 'Entschluss zur Philologie und zu Schopenhauer'." (4)

Nietzsche hat die direkten Spuren dieser entscheidenden geistigen Wende in seinem Leben mit einigem Erfolg zu tilgen gesucht - was in meinen Augen den verbliebenen, verwischten um so grössere Bedeutung verleiht. Die Nietzsche-Forscher aller Richtungen sehen das nicht: sie kolportieren unisono  und ohne jedes Fragezeichen eine von Nietzsche selbst mitgeteilte, bei auch nur oberflächlicher Betrachtung eher fragwürdige Geschichte, wie er begeisterter Jünger Schopenhauers geworden sei - nachzulesen in jeder Nietzsche-Biographie. (Hier ist auf eine Parallele zur Marx-Literatur hinzuweisen: auch hier wird die von Marx selbst stammende, höchst zweifelhafte Angabe kritiklos übernommen, er habe seinen so monumentalen wie furiosen Anti-Stirner nur aus einer Laune heraus, zur blossen "Selbstverständigung", geschrieben und ihn dann "der nagenden Kritik der Mäuse" überlassen).

In der soeben zitierten Darstellung fahre ich fort: "Obwohl im Falle Nietzsches die Dinge in allen Details (auch in der Frage der positiven Belegbarkeit) anders liegen als bei Marx, ist doch bei beiden eine grundsätzliche Ähnlichkeit ihrer Entwicklung zu Denkern von überragendem Einfluss festzustellen: Konfrontation mit Stirner in jungen Jahren; (Primär-)Verdrängung; Konzeption einer neuen Philosophie, die eine beginnende ideologische Zeitströmung verstärkt und dadurch populär wird, dass sie die eigentlich anstehende (und von Stirner eingeforderte) Auseinandersetzung mit den tieferen Problemen des Projekts der Moderne, des 'Ausgangs des Menschen aus seiner Unmündigkeit', abschneidet und zugleich eine greifbare praktische Lösung suggeriert. Wie bei Marx folgte auch bei Nietzsche der Primärverdrängung die kollektive Sekundärverdrängung: durch die Nietzscheforscher aller Richtungen. Sie äusserte sich jedoch in flexibleren Formen als in der Marxforschung. Es wurden durchaus Vergleiche zwischen Aussagen Stirners und Nietzsches angestellt; sie ergaben, dass Stirner ein Vorläufer Nietzsches sei, und auch, dass er dies nicht sei. Es wurde die Frage gestellt, ob Nietzsche den »Einzigen« gekannt habe; sie wurde bejaht, und sie wurde verneint. Folgerungen wurden daraus nicht gezogen." (5)

2.1 Die Nietzsche-Forschung summarisch

Zwei Positionen markieren die Ränder des Spektrums der Urteile über Nietzsches Verhältnis zu Stirner. Eduard von Hartmann stellte Nietzsche als schöngeistigen Plagiator des durch ihn, Hartmann, bereits "überwundenen" Stirner hin (was brutal klingt, aber Nietzsches wirkliche Rolle verharmlost). (6) Alois Riehl meinte, schon wer Nietzsche überhaupt in irgendeine Beziehung zu Stirner zu setzen versucht, begehe einen verräterischen faux pas  und plaziere sich damit ausserhalb des Kreises der Kultivierten und Verständigen. (7) Dazwischen anzusiedeln und nennenswert ist noch die Position von Paul Lauterbach, der Stirner exponieren wollte, um Nietzsche als den Retter vor der nihilistischen Konsequenz Stirners feiern zu können. (8) Natürlich haben Stirnerianer wie John Henry Mackay oder Benedict Lachmann Stirner den Vorzug vor Nietzsche gegeben, aber nur aus einer trotzig-defensiven Position heraus, ohne die spezifischen Ideen Stirners auch nur erahnt zu haben, die Marx, Nietzsche et al. zu ihren Verdrängungsreaktionen getrieben haben.

Seit den 1890er Jahren gab es einige monographische Untersuchungen zum Thema "Nietzsche und Stirner": von Robert Schellwien (1892), Rudolf Steiner (1892), Albert Lévy (1904) u.a. (9) Noch in jüngerer Zeit gab es einschlägige Dissertationen (10) und Kongresse (11), deren Ergebnisse allerdings gegenüber denen der älteren Arbeiten keinen Fortschritt erkennen lassen. Eine Sichtung all dieser Beiträge ergibt, dass keiner der Autoren sich ausserhalb des oben bezeichneten Spektrums bewegte. Die von mir vertretene Sichtweise wurde, soweit ich sehe, bisher von niemandem erwogen.

2.2 Curt Paul Janz

Während die Stirner-Nietzsche-Frage um die Jahrhundertwende relativ häufig, gleichwohl - der Bann wirkte bereits - ohne ein in irgendeiner Weise relevantes Resultat ventiliert worden war, schwand das Interesse an ihr bald fast völlig. Die meisten Autoren, die seit den 1920er Jahren biographisch oder monographisch über Nietzsche und seine Philosophie schrieben, erwähnen Stirner nicht einmal mehr.

Eine Ausnahme ist Curt Paul Janz (1911-....), der im Dokumententeil seiner grossen, dreibändigen Nietzsche-Biographie (1978/79) der Stirner-Nietzsche-Frage einen Abschnitt widmet. Doch die sachlichen Fehler, die dem sonst sehr verlässlichen und gründlichen Autor hier unterlaufen, verraten, dass er sich - dem Bann unterliegend - mit Stirner kaum je befasst hat. Sie seien hier aufgezählt:
  1) Bei der Transskription von Briefen zur Stirner-Nietzsche-Frage, die Köselitz an Overbeck schickte (Band III, S. 343 ff), macht Janz aus dem Namen Mackay stets Markay, eine fiktive Figur, deren Vornamen er im Register dann auch nicht angeben kann. Auch Karl Schlechta, Mazzino Montinari und andere hochkarätige Nietzsche-Experten, die Janz zur Seite standen (Band I, S. 11ff), konnten ihm offenbar nicht sagen, dass es sich hier um John Henry Mackay handelt, dessen Name jedem geläufig ist, der Stirner nicht nur vom Hörensagen kennt.
  2) Eine weitere Person, die Janz offenbar nicht kennt, ist Lauterbach, der in einem zitierten Brief vorkommt und von Janz im Register mangels Kenntnis des Vornamens nur mit "Herr" näher bezeichnet wird. Paul Lauterbach (1860-1895) war einer der ersten Nietzsche-Verehrer. Er verkehrte seit ca. 1890 im Hause Nietzsche und wollte Nietzsche, der damals zwar als Schriftsteller schon berühmt war, aber noch nicht als bedeutender Philosoph galt, als den einzig wahren Überwinder, als "grossen Nachfolger, Ausbauer und Umschöpfer" Stirners vorstellen -- zunächst in der Einleitung zu der von ihm betriebenen Edition von Stirners »Der Einzige und sein Eigentum« in Reclams Universalbibliothek (1893). (Lauterbachs Nachlass liegt übrigens in der Universitätsbibliothek Basel, dem Wohn- und Arbeitsort von Janz.)
  3) An der Stelle, wo Janz selbst kurz auf die Stirner-Nietzsche-Frage eingeht (Band III, S. 212 f), paraphrasiert er einen Artikel Resa von Schirnhofers, in dem eine Publikation von 1894 auf 1874 datiert ist. Janz bemerkt diesen Druckfehler nicht und baut darauf eine - freilich abwegige - Vermutung auf.
  4) Da Janz die Geschichte, wie Nietzsche zur Philosophie kam, wie er quasi über Nacht zum begeisterten Jünger Schopenhauers wurde, ebenso unkritisch wie alle mir bekannten Biographen Nietzsches direkt aus einem autobiographischen Text übernimmt, konstatiert er zwar eine entscheidende Wende in Nietzsches geistigem Leben im Oktober 1865, zieht aber als Ursache dafür nicht die unmittelbar vorhergehende, zweiwöchige intensive Begegnung mit Eduard Mushacke (s.o.) in Betracht. Mushacke ist für ihn eine so unwichtige Randfigur, dass er dessen Vornamen unachtsam mit Eberhard angibt.

Diese zum Teil gravierenden Fehler in dem meistverbreiteten Standardwerk zu Nietzsche wurden auch vom gelehrten Fachpublikum offenbar nicht bemerkt - Stirner ist eben einfach "kein Thema" - und somit im Laufe von anderthalb Jahrzehnten nicht reklamiert: in der 2. - revidierten - Auflage des Werkes (1993) und in späteren Nachdrucken sind sie nach wie vor enthalten.

Janz' Unkenntnis Stirners ist ausnahmsweise fassbar, demonstrierbar, weil er, aus welchen Gründen auch immer, Stirner überhaupt Platz eingeräumt hat. Die Vermutung, dass viele heutige Nietzsche-Forscher Stirner überhaupt nicht kennen, liegt, obwohl naturgemäss unbelegbar, sehr nahe.

Als ich bei dem von Hermann Josef Schmidt organisierten 1. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium (am 5. Juli 1991) in einem Vortrag »Neues Licht auf die Stirner-Nietzsche-Frage« einige der hier vertretenen Punkte (Rolle Mushackes, Hartmann-Kritik etc.) vortrug, stiess ich auf geradezu demonstratives Desinteresse der anwesenden Nietzsche-Experten, Gelehrten, die sich ansonsten durchaus dem "Spurenlesen bei Nietzsche" (so der Untertitel von Schmidts 2500-seitiger, in vier dicken Bänden publizierter Kindheits- und Jugendgeschichte Nietzsches) verschrieben hatten.

2.3 Henning Ottmann

Henning Ottmann (1944-....), ein Schüler des ranghohen katholischen Funktionärs Nikolaus Lobkowicz (als Stirner- und Marxkenner in Teil 1 dieser Arbeit erwähnt, s. dort Fn. 21), veröffentlichte 1987 seine Habilitationsschrift »Philosophie und Politik bei Nietzsche«. Das Buch gilt inzwischen als Standardwerk über den "politischen Nietzsche". Ottmann widmet darin der Frage »Nietzsche und Stirner?«, dem bisher "ungelösten Rätsel der Nietzscheforschung, ob Nietzsche von Stirner beeinflusst war", zwei Seiten (307-309), auf denen er auch die Sekundärliteratur summarisch diskutiert. Ob er meint, das Rätsel gelöst zu haben, bleibt jedoch unklar, denn der Text dieses Abschnitts erscheint, auch im Vergleich zum übrigen, merkwürdig unstrukturiert und inhomogen, kaum referierbar, aber eben deshalb lesenswert. Es handele sich hier um "eine der intelligenteren Nietzsche-Legenden" - und dennoch um eine unbegründete. Das Interesse an dieser Frage im Kreis der alten Nietzsche-Freunde Overbeck, Köselitz u.a. sei gross gewesen - was Ottmann "erstaunlich" findet, aber nicht näher untersucht. Die "wichtigsten Briefe", in denen die Freunde sich dazu austauschten, meint er bei Janz gefunden zu haben. (12) Man merkt deutlich, wie er die Frage herunterspielen will, schnell eine Lösung zur - selbstgestellten - Frage präsentieren will; schliesslich sei doch "die Antwort auf das Problem Stirner-Nietzsche einfach genug." Auf den Punkt gebracht hat Ottmann sie so: "Nietzsches geistiger Horizont, von der Antike bis zur Moderne, ist immer der weitere. Er war mit der kleinbürgerlichen species anarchistica  nicht geistesverwandt!" Die altbekannte, oft gebrauchte und bewährte Formel der Stirner-Exorzisten: Kleinbürger! Interessant zu beobachten, wie der katholische Polit-Philosoph im Schulterschluss mit Marx und den Marxisten den "Antichristen" Nietzsche vor dem "Kleinbürger" Stirner retten will.

2.4 Arno Münster

Während ich bei Janz den Eindruck habe, er sei ein sozusagen unschuldiges Opfer des Bannes gegen Stirner bzw. er wisse nicht, ja ahne nicht einmal etwas von dessen Existenz, scheint mir Ottmann - schon durch seine akademische Herkunft, aber vor allem aufgrund der merkwürdigen Komposition seines Textes - den Bann, aus welchen bewussten oder unbewussten Gründen auch immer, aktiv aufrechterhalten und stärken zu wollen (wobei sich seine unvermeidliche Ambivalenz darin äussert, dass er nicht einfach, wie die meisten, schweigen kann und somit riskiert, "schlafende Hunde zu wecken"). Buchtitelseite Arno Münster, Nietzsche et Stirner

Vor diesem aktuellen Hintergrund weckt natürlich ein neues Buch besonderes Interesse, dessen Autor das Thema Nietzsche und Stirner monographisch behandelt. (13) Das Buch, »Nietzsche et Stirner« von Arno Münster (1942-....), ist jedoch eine einzige Enttäuschung. Zunächst ist es - wie schon Jouberts unter 1.4 besprochene »Marx versus Stirner« - nur ein halbes, ein aufgeblähter Aufsatz: von den ca. hundert Seiten füllt die titelgebende Schrift nur gut die Hälfte; der Rest ist eine Abhandlung »Nietzsche - Immoraliste?«, in der Stirner nicht vorkommt. Weiterhin verlässt Münster sich unkritisch auf seine Gewährsleute Janz und Ottmann, was bei ersterem noch angehen bzw. folgenlos bleiben mag, bei letzterem jedoch, von dem er sich zu seiner Untersuchung hat anregen lassen, nicht mehr. Ein dritter Gewährsmann, dem Münster die nötige Kritik erspart, ist der bei Stirnerkennern berüchtigte Hans G. Helms (der Stirner zum "Protofaschisten" und eigentlichen Chefideologen der Bundesrepublik stilisieren wollte). Bei diesen Vorgaben kann man sich Lektüre und Überprüfung der von Münster vorgetragenen Thesen getrost sparen. Was man findet, sind von Ottmanns Stichworten inspirierte Ausführungen über "krypto-anarchistische" Gedankengänge bei Nietzsche, die, wie der Autor mutmasst, eigentlich nur von Stirner her gekommen sein könnten. Über weite Strecken gerät ihm zudem sein Thema ausser Sicht, und er philosophiert allgemein über Staat, Nihilismus etc. Ich habe in dem ganzen Text keinen Gedanken gefunden, den ich nicht schon x-mal woanders gelesen habe. Selbst als Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes ist die Schrift nicht brauchbar.

2.5 Rüdiger Safranski (post scriptum)

Die Anfügung dieses Kapitels bot sich erst vor kurzem an, nachdem das Konzept dieses zweiteiligen Artikels, der das rezente Erscheinen der Bücher von Joubert (über Stirner und Marx) und Münster (über Stirner und Nietzsche) zum Anlass hatte, bereits stand. Es firmiert deshalb als post scriptum .

Rüdiger Safranski (1945-....) ist ein Autor, dessen Bücher zur jüngeren Philosophiegeschichte weithin als anspruchsvolle und auch für ein grösseres Publikum gut lesbare Literatur gelobt werden. In seinem ersten Erfolgsbuch behandelte er »Die wilden Jahre der Philosophie« im 19. Jahrhundert. Es folgten weitere biographische und ideengeschichtliche Studien, 1997 eine kommentierte Nietzsche-Auswahl und im Nietzschejahr 2000 »Nietzsche. Biographie seines Denkens«, das mit viel Kritikerlob und dem "Friedrich-Nietzsche-Literaturpreis" des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet wurde. [Anmerkung Okt. 2002: laut Auskunft des Hanser-Verlags ist das Buch bereits als Übersetzung in folgenden Ländern erschienen: USA/Grossbritannien, Frankreich, Spanien, Brasilien/Portugal, Italien, China, Japan, Korea, Israel, Niederlande, Dänemark, Schweden, Ungarn, Griechenland, Polen].

Da Safranski in seinen früheren Publikationen Stirner nie erwähnte (obwohl es durchaus Anlässe gegeben hatte) überrascht es, dass er in sein Nietzschebuch ein relativ langes Kapitel »Mit Max Stirner und über ihn hinaus« - wie es scheint: nachträglich - einarbeitete. (14) Anlass dafür war offenkundig mein ZEIT-Artikel über Stirner vom Anfang dieses Jahres (15). Safranski übernimmt zunächst aus diesem Artikel - mit für mich schmeichelhaftem Vertrauen in die dort nicht belegten Ausführungen - die unorthodoxe Sicht, dass namhafte Denker zeitweilig stark von Stirner beeindruckt bzw. beunruhigt waren, ihn aber nicht oder nur an entlegener Stelle erwähnen. Er nennt die Namen Feuerbach, Husserl, Schmitt, Simmel, formuliert etwas vorsichtiger bei Marx und Nietzsche, lässt Habermas weg. Safranski tritt dann in verschiedene teils detaillierte (zu Nietzsche) teils allgemeinere (Stirner als radikaler "Nominalist" etc.) Erörterungen ein und gelangt schliesslich zu folgendem Ergebnis: "In einer Hinsicht allerdings wird Nietzsche bei Stirner etwas gänzlich Fremdes und sicherlich auch für ihn Abstossendes wahrgenommen haben. Denn Stirner, so sehr er auch das Schöpferische betont, zeigt sich bei der Hartnäckigkeit, mit der er das Eigentum an sich selbst reklamiert, schliesslich doch als Kleinbürger, dem das Eigentum alles bedeutet, auch wenn es nur das Eigentum an sich selbst ist." In einer Hinsicht... - von einer anderen ist freilich nicht die Rede. Nun, schon in der Kapitel-Überschrift signalisierte Safranski unzweideutig, dass auch er - obwohl der neu entdeckte Stirner ihn sichtlich auf diffuse Art fasziniert - sich dem alten, ubiquitären Bann gegen Stirner nicht entziehen kann. Er übergeht deshalb die Kernaussage meines Artikels, ignoriert die Mushacke-Passage, und sucht schliesslich, nach einigen Seiten ungewohnt verwickelter und dann abrupt beendeter philosophischer Diskussion, sein Heil durch die Flucht in die - Marx'sche Kleinbürgerthese. Eine mustergültige Demonstration der Kraft des Bannes.

3. Beschluss

Aus den gelegentlichen Reaktionen auf meine Arbeiten weiss ich, dass diese oft als Bemühung um eine Aufwertung Stirners, um seine Rehabilitation oder Besserstellung im Kanon der philosophischen Autoren aufgefasst werden. Erst recht die hier titelgebende Aufforderung "Den Bann brechen!" könnte so verstanden werden. Deshalb möchte ich abschliessend - hier nicht zum ersten Mal - betonen, dass es mir eben darum nicht  geht. Im Gegenteil: indem ich an Autoren, die eine solche Promotion Stirners zu erreichen versuchten - s.o.: Max Adler, Henri Arvon, Wolfgang Essbach - zeige, dass auch und in besonderer Weise gerade sie unter dem von mir postulierten Bann stehen, will ich zum Kern des Problems weisen. Es geht nicht darum, Stirner im Rahmen der bestehenden Denkerhierarchie aufzuwerten, ihn z.B. als massgeblichen Einfluss auf Marx oder gar als diesem Ebenbürtigen hinzustellen. Es geht um viel, ich bin versucht zu sagen, um unendlich viel mehr - was, prosaisch gewendet, ungefähr heissen soll, dass Stirner die Möglichkeit eröffnet, das seit Jahrtausenden vergeblich beackerte Feld der "Philosophie" zu verlassen, ohne "geistlos" zu werden. Es gibt hier, auf höchster bzw. tiefster Ebene, kein Sowohl-als-auch, sondern nur ein Entweder-oder. Das wussten oder spürten mit Sicherheit gerade Marx, Nietzsche und andere Denker, die die offene Konfrontation mit Stirner mieden und ihn durch "Erfolg" besiegten, d.h. durch Schaffung einer massenbegeisternden "Philosophie". Das wussten oder spürten auch die Massen von Intellektuellen, die die Verdrängung Stirners durch Marx, Nietzsche et al. bereitwillig, faktenblind und unbeirrbar nachvollzogen. - Und noch ein Wort zu früheren Leserreaktionen: Wer den Rang des Problems, dem sich diese Arbeit und meine anderen Untersuchungen (16) zu nähern versuchen, ahnt oder gar erkannt hat, wird nicht erwarten, dass ihm der gerade erwähnte "Kern des Problems" sozusagen genussfertig serviert wird. (17)


zu Teil 1: Stirner - Marx - Marxforschung


Anmerkungen:

(*) Daniel Joubert: Marx versus Stirner. Paris: L'insomniaque [déc.] 1997
Arno Münster: Nietzsche et Stirner, suivi de Nietzsche-Immoraliste? Paris: Éditions Kimé [3e trim.] 1999

(1) Peter Moser in: Information Philosophie, Oktober 2000, Editorial; NZZ vom 31.10.2000

(2) vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners »Einziger«. Eine kurze Wirkungsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1996. S. 32

(3) ebd.

(4) Bernd A. Laska: Dissident geblieben. Wie Marx und Nietzsche ihren Kollegen Max Stirner verdrängten und warum er sie geistig überlebt hat. Ein Versuch über philosophische Konsequenz in der Aufklärung. In: Die Zeit, 27. Januar 2000, S. 49; ausführliche Darstellung mit biographischen Angaben zu Mushacke im nächsten Band der »Stirner-Studien« (Vorabdruck eines Teils davon im Nov. 2002: vgl. »Nietzsches initiale Krise«)

(5) ebd.

(6) vgl. Laska: Dissident, S. 39; Hartmann startete seinen Angriff auf Nietzsche, der ihn 1874 vehement kritisiert hatte, erst kurz nach dessen sog. Zusammenbruch Anfang 1889. S. a.a.O., Fn. 55, S. 129: "Die Interaktion Hartmann-Nietzsche wäre eine genauere Untersuchung wert. Wolfert von Rahden, der eine solche lieferte (»Eduard von Hartmann "und" Nietzsche«, in: Nietzsche-Studien, Band 13, 1984, S.481-502), kommt trotz grosser Akribie zu keiner erhellenden Interpretation, eben weil er die Rolle Stirners dabei nicht adäquat einzuschätzen vermag."

(7) vgl. Laska: Dissident, S. 141

(8) vgl. Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit. 150 Jahre Stirners »Einziger«. Eine kurze Editionsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1994 (s. Index)

(9) für die Zeit bis 1965 vgl. die Bibliographie bei Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: Schauberg DuMont 1966.

(10) z.B. Klokkenburg, C.G.: Overeenkomsten en verschillen tussen het denken van Stirner en Nietzsche. Diss. Utrecht/NL 1982

(11) z.B. AA.VV.: Nietzsche - Stirner. A cura di Pietro Ciaravolo. Roma: Editoriale B.M. Italiana [1985] (Convegno, dic. 1983, Tarquinia Lido)

(12) Es sind freilich sehr viel mehr Briefe, auch von weiteren Autoren, überliefert; sie werden im nächsten Band der »Stirner-Studien« dokumentiert.

(13) Arno Münster: Nietzsche et Stirner. Suivi de Nietzsche - Immoraliste? Paris: Éditions Kimé 1999

(14) Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. München: Hanser-Verlag 2000. S. 122-129
Korrigierende Ergänzung:
Safranski hatte Stirner bereits vor seinem Nietzschebuch erwähnt, und zwar auf eine Weise, die seine konventionelle Sichtweise demonstriert. Auf S. 444 seines Buches »Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie« (München: Carl Hanser 1987) heisst es:
"In den [achtundzehnhundert]vierziger Jahren kommt es zu einem Wettstreit der Radikalismen. ... Der Wettstreit wird mit ausserordentlicher Gereiztheit ausgetragen. Die 'Parteien' fallen übereinander her. Herwegh verurteilt Freiligrath. Engels zieht gegen Heine zu Felde. Heine gegen Börne und umgekehrt. Feuerbach kritisiert Strauss, Bauer kritisiert Feuerbach. Stirner will sie alle überbieten, doch dann kommt Marx, der sie alle in den Sack steckt: DEUTSCHE IDEOLOGIE."
Auf S. 456 nennt Safranski Stirner einen "Theoretiker der Sofort-Freiheit" (wie Bakunin und andere).

(15) a.a.O. (Anm. 4)

(16) in meinen als Bücher erschienenen »Stirner-Studien«, meinen ergänzenden Stirner-Artikeln im Internet (http://www.lsr-projekt.de/ms.html) sowie generell in den im Rahmen des »LSR-Projekts« publizierten Arbeiten (vgl. http://www.lsr-projekt.de)

(17) Für eine erste inhaltliche Annäherung vgl. Bernd A. Laska: Die Negation des irrationalen Über-Ich bei Max Stirner (http://www.lsr-projekt.de/msnega.html)


Replik von Christian Berners

Teil 1: Stirner - Marx - Marxforschung

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