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Erstveröffentlichung in: Anarchismus und Pädagogik. Studien zu einer vergessenen Tradition, hg. v. Ulrich Klemm. Frankfurt/M: dipa-Verlag 1991, S. 33-44 unter dem hier als Untertitel genannten Titel.


Bernd A. Laska

Die Negation des irrationalen Über-Ichs
bei Max Stirner

[Max Stirner als "pädagogischer" "Anarchist"]

Vorbemerkung

Diese 1991 verfasste Schrift ist eine von drei Arbeiten, die jeweils La Mettrie, Stirner bzw. Reich "...als 'pädagogischen' 'Anarchisten'" behandeln. Titel und Anführungszeichen wurden damals wegen des Ortes der geplanten Veröffentlichung gewählt (siehe Angabe oben). Der neu gewählte gemeinsame Titel soll deutlicher signalisieren, wovon diese Arbeiten handeln. Der alte Titel wurde als Untertitel bewahrt, denn Pädagogik und Anarchismus sind durchaus die Bereiche, in die die hier dargestellten Gedanken gehören -- wenngleich sie bisher dort noch nicht zu vernehmen waren.

Diese Schrift ist im Zusammenhang zu sehen mit:
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie«
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich«

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Max Stirners Bezug zum Anarchismus und zur Pädagogik ist nur herzustellen, wenn man diese, wie hier im [Unter-]Titel geschehen, in Anführungszeichen setzt -- die jedoch zunächst nur als Warnsignale verstehbar sind. Es hat sich zwar eingebürgert, Max Stirner umstandslos zu den Anarchisten zu zählen; doch tat und tut man dies eher aus Bequemlichkeit und mit zweifelhaftem Recht, denn man ignoriert dabei die Tatsache, dass die grosse Mehrheit der Anarchisten, namentlich ihre bekannten Theoretiker, zu Stirner eine deutliche Distanz hielten. Die Geschichte der Pädagogik hingegen kennt Stirners Namen fast gar nicht. Obwohl also Stirner weder Anarchist noch Pädagoge im geläufigen Sinne ist, kann, ja sollte er sogar, allerdings in einem sehr spezifischen Sinne, als pädagogischer Anarchist charakterisiert werden, aber eben als "pädagogischer" "Anarchist".

Max Stirner ist ein Autor, dessen Status in der Ideengeschichte überhaupt schwer zu bestimmen ist. Sein Werk besteht im Grunde nur aus einem Buch: »Der Einzige und sein Eigentum« (1845). (1) Die Reaktionen auf dieses Buch scheinen von Beginn an bis in unsere Zeit einhellig ablehnend gewesen zu sein, erweisen sich aber bei genauerem Nachforschen, insbesondere bei einigen zu grosser Bedeutung gelangten Denkerpersönlichkeiten, als überraschend zwiespältig -- und deshalb als ausserordentlich interessant.

Ludwig Feuerbach etwa, einer der von Stirner vehement Angegriffenen, veröffentlichte eine Replik, der es mitnichten anzumerken ist, dass er privatim, in einem Brief an seinen Bruder, das Buch "ein höchst geistvolles und geniales Werk" nannte, und Stirner "den genialsten und freiesten Schriftsteller, den ich kennengelernt". (2)

Die Reaktion von Karl Marx, zu der Zeit noch ein begeisterter Anhänger Feuerbachs, zeugt, wenn man sie im Detail rekonstruiert, von tiefster und nur mit gewaltiger seelischer und intellektueller Anstrengung bewältigter Irritation. Marx unterbrach seine nationalökonomischen Studien, warf einen langfristig aufgestellten Arbeitsplan um und nahm sogar den Ausfall dringend benötigter Honorare in Kauf, nur um statt dessen in monatelanger, intensiver Arbeit das furiose Riesenmanuskript »Sankt Max«, einen den »Einzigen« an Länge noch überbietenden Anti-Stirner, zu schreiben. Als es dann fertig war -- und zugleich das Konzept des "historischen Materialismus", also die theoretische Grundstruktur des späteren "Marxismus" -- zog Marx es nach einigem Schwanken vor, eine öffentliche Stellungnahme zu Stirners »Einzigem« überhaupt zu vermeiden. (3)

Die Wirkung Stirners auf die philosophische Entwicklung Friedrich Nietzsches, des anderen grossen, das Denken noch unserer Zeit dominierenden Philosophen des 19.Jahrhunderts, lässt sich nicht so unanfechtbar dokumentieren wie bei Marx, wohl aber durch eine genügende Anzahl biographischer Indizien plausibel belegen. (4)

Die Liste der Namen derer, in deren intellektueller Biographie eine nachhaltige

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Einwirkung Stirners nachweisbar ist, lässt sich bis in unsere Zeit erweitern: von Edmund Husserl und Carl Schmitt bis herauf zu Jürgen Habermas. Die Konfrontation mit Stirner fand in der Regel in jungen Jahren statt, und die Reaktion, soweit sie durch schriftliches Zeugnis überliefert ist, war in der Regel die schon bei Marx und anderen Zeitgenossen Stirners beobachtbare, vehemente Abwehr und "Verdrängung", jedenfalls möglichst kein öffentliches, meist gar kein Einlassen auf eine ernsthafte Auseinandersetzung.

Bei solchem Verhalten verwundert kaum, dass der »Einzige« schon bald nach Erscheinen aus der öffentlichen Diskussion verschwunden, "vergessen", und Stirner stillschweigend zur Unperson gemacht worden war. Erst vier Jahrzehnte später, im Kielwasser der Nietzsche-Begeisterung, waren eine Wiederentdeckung Stirners und eine weitere Verbreitung seines Buches (als Reclam-Ausgabe, 1893) möglich. Doch die nun einsetzende öffentliche Diskussion leistete natürlich nicht das, wovor gerade die grossen Denker ausgewichen oder zurückgeschreckt waren: die wirkliche Rezeption durch argumentativen Diskurs. Stirner wurde eine kurze Zeitlang Gesprächsstoff, Modethema und in der ideologischen Auseinandersetzung eine Art "Schwarzer Peter".

Dass Nietzsche Plagiator Stirners sei, behauptete 1891 der damals berühmte Philosoph und Nietzsche-Gegner Eduard von Hartmann. Dass der Anarchismus in Stirner wurzele, behauptete als erster 1886 der Anarchismus-Gegner Friedrich Engels im politischen Propagandakampf. (Nichtanarchistische) Historiker des Anarchismus, wie Zenker, Eltzbacher und Zoccoli, deren um 1900 entstandene Werke noch heute nachgedruckt werden, konsolidierten diesen Ruf; ungeachtet dessen, dass, wie erwähnt, Bakunin, Proudhon, Kropotkin und andere prominente Anarchisten Stirner nicht als ihren Vorläufer ansahen.

Der Pädagoge Stirner wurde, wie der Anarchist, in der ideologischen Polemik entdeckt, und zwar erstmals 1907 von dem Sozialphilosophen und Nicht-Pädagogen Georg Adler. Er erkannte in Stirner denjenigen Denker, der erstens "die konsequenteste anarchistische Doktrin, die je in der Weltliteratur in Erscheinung getreten ist", der also "die im Prinzip radikalste [Kritik], die diese [die herrschende] Ordnung je erfahren hat", ausgesprochen hat, und der zweitens, in Konsequenz dieser Kritik, "sogar die gesamte Kindererziehung verwirft." (5) Das ist freilich eine übertriebene Formulierung, denn Stirner wusste natürlich, dass Erziehung notwendig und ohnedies gar nicht vermeidbar ist, aber Adler meinte wahrscheinlich ganz selbstverständlich nur die ihm als eigentlich, als wesentlich erscheinende Funktion von Erziehung, die enkulturierende, Normen irrational verankernde -- und dann hätte er durchaus recht.

Stirner, der Pädagoge, wurde allerdings nur sehr selten in die Diskussion gebracht, auch dann aber vornehmlich, wie der Anarchist, als "Schwarzer Peter", also wenn es darum ging, in der Polemik der pädagogischen Positionen den ideologischen Gegner durch Diffamierung im Kern zu treffen. So wollte 1957 der marxistische Pädagoge Bogdan Suchodolski Stirners Buch ganz allgemein als das "ideologische Manifest" der Bourgeoisie, als Grundlage ihres Menschenbildes, ihrer Pädagogik etc. hinstellen; so kämpfte 1974 der "liberal-konservative" Pädagoge Wolfgang Brezinka gegen die anti-autoritären Erziehungskonzepte der damaligen Neuen Linken, indem er ihr Stirner unterzuschieben suchte; und so stritten moderne, sich als wertfreie Wissen-

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schaftler gerierende Pädagogen wie beispielsweise Jürgen Oelkers Anfang der achtziger Jahre auf gleiche Weise, den Popanz Stirner beschwörend, gegen die Anti-Pädagogik. Natürlich hatte keiner der so Angegriffenen -- wie bei den Anarchisten -- je etwas mit Stirner zu tun gehabt oder haben wollen. (6)

Diese knappe, leider hier nicht detaillierter zu gebende Skizze der bisherigen Wirkungsgeschichte (Anm. 1998: ausführlicher hier) Stirners schien mir als Einleitung sinnvoll, um vorab zu zeigen, dass Stirner generell und von allen bisherigen, auch nur minimal etablierten weltanschaulichen Positionen aus abgelehnt wird. (7) Der Grund dafür liegt m.E. gerade im Kerngedanken seines "pädagogischen" "Anarchismus", der so, auf der Folie dieser negativen Wirkungsgeschichte, besser deutlich zu werden verspricht.

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Der folgende Text gliedert sich in drei Teile: eine Lebensskizze Stirners zur weiteren allgemeinen Orientierung; eine Charakterisierung des geistigen Milieus, in dem und für bzw. gegen das Stirner schrieb; und schliesslich einen Versuch der Darstellung jenes Kerngedankens von Stirners "anarchistischer" "Pädagogik". Die Darstellung muss hier, aus Raumgründen, par force  über nur einen ausgewählten Zugang und argumentativ relativ "ungeschützt" erfolgen.

Max Stirner, eigentlich Johann Caspar Schmidt, wurde am 25. Oktober 1806 in Bayreuth als erstes Kind protestantischer Eltern geboren. Sein Vater, von Beruf Musikinstrumentenbauer, starb ein halbes Jahr später. Seine Mutter ging zwei Jahre nach dem Tode des Vaters eine neue Ehe ein. Die dreiköpfige Familie zog kurz darauf ins westpreussische Kulm um. Johann Caspar wurde jedoch im Alter von 12 Jahren (vielleicht aus schulischen Gründen) allein nach Bayreuth zurückgeschickt, wo er Aufnahme in der Familie seines Paten fand und jenes angesehene Gymnasium besuchte, das von Georg Andreas Gabler geleitet wurde, einem Philosophen, der 1831 die Nachfolge Hegels auf dessen Berliner Lehrkanzel antrat. 1826 schrieb sich Johann Caspar Schmidt an der noch jungen und bereits renommierten Berliner Universität ein, wo er bei Hegel, Schleiermacher und anderen, heute weniger bekannten Koryphäen studierte. Die erhalten gebliebenen Testathefte Schmidts zeugen von grossem Anfangseifer, der aber bald deutlich nachliess und schliesslich nach vier Semestern zu freiwilligem, fluchtartig anmutendem Verlassen der Berliner Universität führte. Schmidt machte noch einen Versuch an der Erlanger Universität, begab sich aber noch vor Semesterabschluss, wie er in einem Lebenslauf schrieb, "auf eine längere Reise durch Deutschland." Erst 1833 tauchte er wieder in Berlin auf, wo er unter allerlei Schwierigkeiten die formellen Bedingungen erfüllte, um schliesslich 1839, im Alter von 33 Jahren, ausgestattet mit einer nur bedingt erteilten facultas docendi,  seine erste bezahlte Stellung anzutreten: als Lehrer an einer Berliner Mädchenschule.

Ab Mitte 1841 verkehrte Schmidt bei den "Freien", einer in ihrer Zusammensetzung fluktuierenden Gruppierung von jungen, kritischen "Intellektuellen" um den (bald, 1842, relegierten) Privatdozenten Bruno Bauer, und trat mit kleineren Beiträgen als Journalist und Schriftsteller an die Öffentlichkeit: teils anonym, teils bereits pseudonym als "Max Stirner". Bei den "Freien" lernte er auch seine zweite (Ehe-)Frau kennen (die erste, eine unehelich geborene Verwandte seiner damaligen Zimmerwirtin, war 1838, nach einjähriger Ehe, im Kindbett gestorben), mit der er 1843-46 zusammenlebte. In denJahren 1842-47 verfasste Stirner seine wichtigsten Schriften,

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insbesondere sein Buch »Der Einzige und sein Eigentum«. Dies erschien, kurz nachdem Stirner seine Lehrerstelle aufgegeben hatte, im Oktober 1844, erregte für kurze Zeit ein skandalöses, von Verboten und Verbotsaufhebungen begleitetes Aufsehen, geriet aber, aus den oben genannten Gründen, schon Mitte 1847, also noch vor den Turbulenzen des März 1848, in völlige "Vergessenheit". -- Stirner verbrachte die restliche Zeit seines Lebens in wachsender Armut in Berlin und starb am 25. Juni 1856. (8)

Stirners Leben verlief, soviel verraten selbst diese kargen Daten, seit früher Kindheit nicht in den üblichen Bahnen. Stirner war nirgends wirklich fest verwurzelt und schlug auch nirgends mehr Wurzeln, auch nicht bei den radikalsten Bilderstürmern seiner Zeit, die, wie er bald bemerkte, doch im Innersten an das theologische Denken gebunden blieben, in dem sie grossgeworden waren, auch wenn sie es bisweilen vehement bekämpften; die also nur, wie Stirner schrieb, ausgezogen waren, "um das höchste Wesen anzufechten zu Gunsten eines -- andern höchsten Wesens." (9)

Als Stirner sich 1841 im Alter von 35 Jahren der erwähnten Gruppe der "Freien" anschloss, wo er die avantgardistischste Denkströmung der Zeit, den sog. Junghegelianismus, am wichtigsten der Orte seiner Entwicklung aus nächster Nähe kennenlernte, blieb er also auch dort, wenngleich man ihn zum Gruppenkern zählte, ein im Grunde distanzierter Zuhörer und Beobachter.

Der BerlinerJunghegelianismus hatte sich zu Beginn der 1840er Jahre das Ziel gesetzt, die Ideen der französischen Aufklärung, namentlich die ihrer radikaleren, atheistischen Richtung, wiederzubeleben. (10) Diese Ideen waren in Frankreich während der Revolutions- und Restaurationsjahre untergegangen, in Deutschland hingegen noch niemals wirklich rezipiert worden, denn hier herrschten, bisher unangefochten, die offen oder verkappt theologischen Systemkonstruktionen des sog. Deutschen Idealismus bis auf Hegel.

Da die führenden Köpfe des Junghegelianismus -- David Friedrich Strauss, Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer -- selbst ursprünglich hegelianische Theologen waren, hatte es mehrerer mühseliger Selbstbefreiungsetappen bedurft -- 1835 Strauss: »Das Leben Jesu«; 1840 Bauer: »Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker«; 1841 Feuerbach: »Das Wesen des Christentums« -- bevor Bruno Bauer 1843 schliesslich erleichtert ausrufen konnte: "Der zusammengepresste Geist hat sich mit verstärkter Elastizität erhoben, um auszuführen, was der französische Atheismus nicht vollbringen konnte, und den letzten Kampf mit dem Ungeiste, mit dem Unmenschen, mit der Geistlosigkeit und der ganzen Vergangenheit der Unmenschlichkeit auszukämpfen." (11)

Feuerbach, der allerdings gegen Bauers, den Franzosen entlehntes, religionsfeindliches Aufklärungskonzept den "religiösen Ursprung" des (d.h. seines) deutschen Materialismus betonte, verkündete in jenen Tagen mit gleichem Pathos seine »Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie.« (12)

Stirner hingegen, ohne theologische Vergangenheit, nahm bei den Junghegelianern eine Sonderstellung ein und erlaubte es sich, deren Wortführer, die auf ihre Emanzipation so stolzen Ex-Theologen Bauer und Feuerbach, auf sehr ernst gemeinter, philosophischer Grundlage zu verspotten: "Unsere Atheisten sind fromme Leute." (13)

Es ist hier nicht möglich, auf die Chronologie der Entwicklung und die Unterschiede

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der Positionen der konkurrierenden Neuen Aufklärer und Kritiker Bauer und Feuerbach sowie ihres Umfelds einzugehen (14) -- dies ist glücklicherweise hier, als Hinführung zu Stirner und dessen "pädagogischem" "Anarchismus", auch gar nicht nötig, denn Stirner fasst ohnehin meist den ganzen Komplex unter einem generellen Gesichtspunkt zusammen, den er, als Motto formuliert, vor die erste, die kritisierende Hälfte seines »Einzigen« setzt: "Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach. Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer. Sehen Wir uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an."

Feuerbach und Bauer stimmten insofern überein, als sie mit einem -- nicht in allen Punkten gleichen -- Begriff vom "Menschen" operieren, dessen normativer Gehalt ihnen als Massstab für ihre Kritik der menschlichen Wirklichkeit diente. Ein solcher Begriff aber sei, so Stirner, auch wenn dies vom Kritiker meist nicht reflektiert und bewusst oder unbewusst sogar kaschiert wird, stets eine dogmatische Setzung; er sei ein mehr oder weniger willkürliches Ideal, "wird sogar gewöhnlich aus der Zeitbildung ohne weiteres aufgenommen, wie z.B. 'die Freiheit', 'die Menschlichkeit' usw." Eine Kritik, die somit aufgrund irgendeines Dogmas, einer Idee, eines axiomatischen Begriffs(systems) etc. geübt wird, funktioniere, auch wenn sie sich atheistisch oder materialistisch nenne, stets auf gleiche Weise: "Das Geheimnis der Kritik ist irgendeine 'Wahrheit': diese bleibt ihr energierendes Mysterium. [...] 'Das Gute' ist der Prüfstein, das Kriterium. Das Gute, unter tausenderlei Namen und Gestalten wiederkehrend, blieb immer die Voraussetzung, blieb der dogmatisch feste Punkt für diese Kritik." (15) Stirner nennt diese Kritiken, obwohl sie sich selbst als "freie", "reine", "menschliche", "wahre" etc. bezeichnen, zusammenfassend "dienstbare" -- dienstbar eben einer meist verborgenen, dogmatisch gesetzten Idee, und dienstbar in diesem Sinne blieb alle Kritik bis auf den heutigen Tag. (16)

Stirner hebt also nicht etwa bloss darauf ab, dass der Kritiker aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit und argumentativen Stringenz das Kriterium seiner Kritik deutlich nennen sollte -- obwohl damit schon viel erreicht wäre. Er wendet sich generell dagegen, dass das Kriterium von Kritik -- und mit Kritik ist immer Kritik der menschlichen Wirklichkeit, individuell und sozial, gemeint -- ein tradiert vorgefundenes oder ein ausgedachtes normatives Ideensystem sei, ob dieses nun als "göttlich" "natürlich", "menschlich", "vernünftig" oder sonstwie deklariert werde.

Da Stirner damit logischerweise zur Negation nicht nur von jeglicher Religion, sondern auch von überkommener Sittlichkeit und von positiven ethischen sowie daraus abgeleiteten juristischen Systemen kommt, wurde sein Werk später manchmal als extrem "nihilistisch" und damit, trotz der gelegentlich bewunderten "Kühnheit" mancher Einzelaussagen, als insgesamt theoretisch leer, tautologisch oder trivial angesehen.

Diese Behauptung ist, im Gegensatz zu der meist anzutreffenden Entrüstung über Stirners Immoralismus, ernst zu nehmen. Die nächstliegenden Hinweise darauf, dass die Quintessenz des »Einzigen« alles andere als eine Trivialität ist, sind die merkwürdigen, diskussionslos ausweichenden Reaktionen vieler prominenter (insbesondere auch aufklärerischer) Denker auf Stirner, die ich nicht zuletzt dieser Hinweisfunktion wegen eingangs in ihren allergröbsten Zügen skizziert habe. (17) Es soll aber im folgenden doch zumindest im Prinzip gezeigt werden, dass und wie es Stirner gelang ("ein Anfang, wenn auch noch ein sehr unbeholfener"

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sei von ihm gemacht worden, sagt er selbst), (18) jene scheinbar denkunmögliche philosophische Position zu beziehen, die weder nihilistisch/relativistisch noch normativistisch/kritisch zu nennen ist. Damit wäre zugleich auch seine Position als "pädagogischer" "Anarchist" bestimmt.

Stirner, der die zeitgenössischen Kritiker (die später substantiell nicht mehr überboten wurden, vgl. Anm. 16), da sie sich allesamt so oder so "dem 'Guten' in tausenderlei Gestalt" verdingt hätten, pauschal als "dienstbare", im Grunde also uneigentliche Kritiker, als bloss weltliche "Pfaffen der Sittlichkeit" (dis-)qualifiziert, sieht sich selbst durchaus als -- und zwar als eigentlichen -- Kritiker. Was aber ist sein Kriterium? Das "Böse", wie manch empörter "Sittlicher" sofort (g)eifernd behauptete, ist es natürlich nicht, denn das liefe ja, wie bei de Sade und anderen, letztlich doch wieder auf dasselbe hinaus. Stirner war kein "Umwerter aller Werte". Das Kriterium der Stirner'schen Kritik ist, da vermieden werden muss, dass es als ge- oder erfundener "Gedanke" missverstanden wird, nicht umstandslos zu benennen.

Stirner nennt seine Kritik eine "egoistische" (19) oder "eigene". War für alle bisherige Kritik, so sagt er, "ein Gedanke das Kriterium, für die eigene Kritik bin Ich's. Ich, der Unsagbare, mithin nicht bloss Gedachte; denn das bloss Gedachte ist stets sagbar, weil Wort und Gedanke zusammenfallen." Stirner setzt seine Position gegen die der junghegelianischen Aufklärer und Kritiker wie folgt ab: "Die wahre oder menschliche Kritik bringt nur heraus, ob etwas dem Menschen, dem wahren Menschen konveniere -- durch die eigene Kritik aber ermittelst Du, ob es Dir konveniert." Und in einem "bündigen Ausdruck" heisst eigene Kritik, "dass nicht der Mensch das Mass von Allem, sondern dass Ich dieses Mass sei." (20)

Das klingt, wenn auch nicht solipsistisch, wie man oft vorschnell meinte, so doch -- fast -- unzweifelhaft nach banaler Willkür, nach Beliebigkeit, nach der thelemitischen Maxime "Tu, was Du willst!", oder -- gemäss einem (post-)modernen philosophischen Slogan -- nach "anything goes". Die Rettung aus dem hier wiederum drohenden Abgleiten in die Trivialität erfolgt über eine Bedingung, die Stirner nennt. Diese Bedingung hat jedoch keinen normativen, sondern einen rein definitorischen Charakter, nämlich: dass ich nur dann "eigene" Kritik übe, wenn ich "Eigner" bin. Das Problem besteht jetzt offenkundig darin, über den Eigner etwas auszusagen, ohne dass dieser sich, bei genauerer Prüfung, doch nur wieder als irgendeine Variante des "wahren Menschen" entpuppt. (21)
(Anm. 1998: Zur "gestaltlosen Gestalt" des Eigners vgl. jetzt auch Kap. 4 der Stirner-Studien Nr. 3.)

Als Zugang zum Verständnis dessen, was oder wen Stirner mit dem Eigner meinte, und worin sich der Eigner von jedem (präskriptiven und damit auch pädagogischen) Konzept eines wahren, idealen etc. Menschen unterscheidet, eignet sich am besten eine Darstellung dessen, was der Eigner nicht ist. Analoges gilt, da der Eigner als das "Erziehungsziel" von Stirners "Pädagogik" bezeichnet werden kann, für deren Verständnis.

Hier ist behutsam vorzugehen, zunächst einmal werkchronologisch. Stirners erste grössere Schrift (nachdem er, wie oben skizziert, mit ersichtlichem Widerwillen ein minimales Brotstudium absolviert, mühsam eine bedingte Lehrerlaubnis erworben und eine Stelle an einer privaten Mädchenschule angenommen hatte) war sein Aufsatz über »Das unwahre Prinzip unserer Erziehung«. Schon hier schlägt er

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ungewohnte Töne an: "Was sind unsere geistreichen und gebildeten Subjekte grösstenteils? Hohnlächelnde Sklavenbesitzer und selber -- Sklaven." Ein fulminanter und vor allem genuin anarchistischer Auftakt! Stirner demaskiert und denunziert mit diesem Aperçu alle Bildung-macht-frei-Propagandisten auf unübertreffliche Weise. Aus den pädagogischen "Menagerien" der Humanisten bzw. der Realisten (als Vertretern der damals konkurrierenden pädagogischen Konzepte), so fährt er fort, gingen bestenfalls "nur Gelehrte" bzw. "nur 'brauchbare Bürger'..." hervor, doch seien beide letztlich "nichts als unterwürfige Menschen". Gegen die Forderung (z.B. Diesterwegs) nach forcierter pädagogischer Charakter- und Gesinnungsbildung setzt Stirner die nach "einer persönlichen Erziehung (nicht Einprägung einer Gesinnung) [...] Erst der freie und persönliche Mensch ist ein guter Bürger (Realisten) und selbst bei dem Mangel spezieller (gelehrter, künstlerischer usw.) Kultur ein geschmackvoller Beurteiler (Humanisten)." (22)

Stirners hier noch "persönlich" genannte Pädagogik -- die nota bene  wirkliche Sozialisation ermöglichen und blinde Enkulturation (in eine "Sklavenkultur") verhindern will -- ist eine Pädagogik des Unterlassens: keine sog. Charakterbildung, keine Gesinnungsprägung, kein "formelles und materielles Abrichten". "Nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden [...] Man erdrücke [des Kindes] Stolz nicht, seinen Freimut."

Stirners in jenem Aufsatz formulierte "Pädagogik des Unterlassens" ist jedoch keine permissive: "Artet der Stolz in Trotz aus, so will das Kind mir Gewalt antun; das brauche ich mir, der ich ja selbst so gut als das Kind ein Freier bin, nicht gefallen zu lassen. Muss ich mich aber durch die bequeme Schutzwehr der Autorität dagegen verteidigen? Nein ... man ist sehr schwach, wenn man die Autorität zu Hilfe rufen muss, und sündigt, wenn man glaubt, den Frechen zu bessern, sobald man aus ihm einen Furchtsamen macht." (23)

Indem Stirner erstens das Erziehungsproblem zum Kernproblem des gesellschafflichen Lebens (24) erklärte und zweitens es auf die oben skizzierte Weise exponierte, stellte er sich bereits gegen alle Zeitgenossen.

Hegel hatte (noch ungeniert) gelehrt: "Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen [...] Das Vernünftige muss als seine eigenste Subjektivität ihm erscheinen [...] Die Sittlichkeit muss als Empfindung in das Kind gepflanzt worden sein..." (25)

Die aufklärerischen Hegelkritiker und -umstürzler, Marx eingeschlossen, nahmen bezeichnenderweise an dieser Auffassung keinen besonderen Anstoss.

Selbst Bakunin forderte noch als Ex-Hegelianer und leidenschaftlicher "Anti-Autoritärer", Kinder müssten sich "bis zum Alter ihres Freiwerdens ... unter dem Regime der Autorität befinden", das zwar mit fortschreitendem Alter milder werden solle, dies aber nur zu dem Zweck, "damit die herangewachsenen Jünglinge, wenn sie vom Gesetz freigemacht sind, vergessen haben mögen, wie sie in ihrer Kindheit durch etwas anderes als die Freiheit geleitet und beherrscht wurden." (26)

Im übrigen gilt die im Hegelzitat ausgedrückte Doktrin, nur in tausend andere Formulierungen zerredet, in der Pädagogik prinzipiell ja noch immer, so dass Stirners Oppositionsstel-

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lung auch noch immer eine einsame ist (wie die eingangs zitierten Pädagogen bestätigen).

Der "freie", "persönliche", "ganze", "wahre", "vernünftige", "prinzipielle" oder auch "selbstschöpferische" Mensch des Stirner'schen Erziehungsaufsatzes ist vornehmlich dadurch gekennzeichnet, dass ihm Eigenschaften, die durch Erziehung normalerweise erzeugt werden, fehlen: fremdgeprägter Charakter, eingepasste Gesinnung, Herren- und Sklavenmentalität etc. Er kommt unter dieser Bezeichnung in Stirners zwei Jahre später erscheinendem Buch »Der Einzige und sein Eigentum«, wohl aus Gründen terminologischer Abgrenzung, namentlich nicht mehr vor; hier spricht Stirner vom "Eigner". (27)

Auch jetzt betont Stirner, dass verhängnisvollerweise "der moralische Einfluss das Hauptingredienz unserer Erziehung" ist, (28) eben jenes "unwahre Prinzip", das zu eliminieren wäre. "Der moralische Einfluss nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab." (29) Das Übel bestehe m.a.W. darin, "dass unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d.h. sie Uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben Uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen." Die letzteren wären "eigene", wären Gefühle, deren "Eigner" ich bin. Die ersteren wären mir, obwohl zunächst fremd, durch die Art ihrer Implantation bald "heilig"; ich wäre nicht ihr Eigner, sondern sie wären sozusagen die Eigner meiner, ich von ihnen "besessen". (30)

Stirners Begriff des "Heiligen" ist der Schlüssel zum Verständnis des Stirner'schen "Eigners". "Alles, wovor Ihr einen Respekt oder eine Ehrfurcht hegt, verdient den Namen eines Heiligen." Während die natürliche Furcht den Impuls auslöse, sich aus der Macht des Gefürchteten zubefreien, "ist's in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloss gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich mich nicht mehr entziehen kann ... Ich bin vollständig in seiner Gewalt ... Ich und das Gefürchtete sind Eins." Das Heilige im Sinne Stirners repräsentiert also die dem Kind ursprünglich fremde, introjizierte, verinnerlichte normative Struktur der jeweiligen (zufälligen) Gesellschaft und ist das wesentliche Resultat aller bisherigen Erziehung. Es ist "mit einem Worte jede -- Gewissenssache"; es ist "unnahbar, unberührbar, ausserhalb seiner [des von ihm Besessenen] Gewalt, d.h. über ihm"; (31) es ist, mit einem prägnanten, moderneren, seit Freud (»Das Ich und das Es« 1923) geläufigen Ausdruck, das Über-Ich.

Der Eigner als "Idealtypus" ist also vor allem Eigner seiner selbst, seiner Gedanken ebenso wie seiner Triebe, aber auch Eigner der "Welt" (der Natur, der Menschen, der Dinge, des Staats etc.), und zwar insofern, als er ihr nicht "ehrfürchtig" gegenübersteht. (32) Der Eigner ("sein Ich") lebt, denkt und handelt nicht unter der irrationalen Herrschaft, unter dem unbewussten Zwang eines erzieherisch erzeugten Über-Ich; seine Autonomie ist echt und nicht, wie in den sonstigen -- aufklärerischen wie gegenaufklärerischen -- Philosophien, so oder so bloss verinnerlichte Heteronomie, er ist der wirkliche, sonst nur immer leerformelhaft beschworene, Selbstdenker und deshalb -- um zum Ausgangspunkt zurückzukehren -- das Kriterium seiner, der "eigenen" Kritik.

Stirner bezeichnete sein Buch, wie erwähnt, als einen Anfang einer solchen "eigenen"

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Kritik, der leider ein "noch sehr unbeholfener" sei. (33) Doch seine scharfe Polemik gegen (angeblich) "AIles", sein (vermeintlicher) "extremer Nihilismus", seine "totale Negation" (vermeintlich jeder Form) von Staat, Gesellschaft, Recht, Ethik, Gewissen, Liebe, Denken etc. wurden meist bloss als frivoler Exzess und kaum je in ihrer radikalen Ernsthaftigkeit verstanden, geschweige denn über ihren "unbeholfenen Anfang" hinaus weitergeführt. Stirners Negationen betrafen, genauer betrachtet, jene gerade (unvollständig) aufgezählten "Gebilde" jedoch nicht an sich, sondern "nur" in ihren mannigfaltigen Konkretionen in den bisherigen Gesellschaften, die ja allesamt Gesellschaften von Nicht-Eignern, von vom "Heiligen" "Besessenen", waren.

Dies wurde von den Rezensenten des »Einzigen« durchweg nicht verstanden, so dass Stirner in einer Replik noch einmal nachdrücklich auf die sublime, aber gravierende spezifische Differenz hinwies: "Nicht gegen die Liebe, sondern gegen die heilige Liebe, nicht gegen das Denken, sondern gegen das heilige Denken, nicht gegen die Sozialisten, sondern gegen die heiligen Sozialisten usw." sei seine Kritik gerichtet. (34) Stirner meinte, diese "durchaus heilige Welt", diese Welt der, wie man heute sagen könnte, Über-Ich-gesteuerten Menschen, "sollte endlich ihren verführerischen Schein verloren haben, nachdem sie hinter einer Wirksamkeit von Jahrtausenden nichts zurückgelassen hat als die heutige -- Misere." (35)

Seinen aufklärerischen und kritischen Zeitgenossen warf Stirner vor, dass auch sie diese Misere fortschrieben, solange sie nur das "Jenseits ausser Uns" bekämpften, das "Jenseits in Uns" (das Heilige, das irrationale Gewissen, das Über-Ich) dagegen unangetastet liessen und somit, ihrem fanatischen Atheismus zum Trotz, im "Zauberkreis der Christlichkeit" gefangen blieben. (36)

Im Gegensatz zu vielen dieser Zeitgenossen sah Stirner das Mittel zur gründlichen und endgültigen Überwindung der jahrtausendealten menschlichen Misere nicht in einer neuerlichen Revolution, denn, so meinte er, soviel sei doch aus aller historischer Erfahrung zu "erkennen, dass eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben." (37) Das Ende der Misere wäre nur eine Gesellschaft der Eigner, und Eigner entstehen zwar in glücklich gelagerten Einzelfällen durch individuelle Selbstbefreiung ("Empörung" (38)), in gesellschaftlichem Massstab aber nur, wenn die Erzieher ihren "moralischen Einfluss" auf die Kinder eliminieren und die Folgen zumindest hinnehmen würden: "Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d.h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde." (39) (In dieser Formulierung zeigt sich einmal mehr Stirners anthropologische Radikalität.) Dass dieser Prozess, wenn er denn überhaupt gewünscht würde und in Gang käme, ein langwieriger, sich über viele Generationen erstreckender, approximativer werden würde, ist Stirner bewusst gewesen: "Der Zukunft sind die Worte vorbehalten: Ich bin Eigner der Welt der Dinge, und ich bin Eigner der Welt des Geistes." (40)

Stirners "Eigner" und damit im Prinzip auch Stirners "pädagogischer" "Anarchismus" sowie Stirners singuläre philosophische Position im 19. Jahrhundert sind damit,

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soweit im hier gegebenen Rahmen möglich, dargestellt.

Abschliessend noch ein Hinweis: Stirner hatte einen Vorläufer im 18. Jahrhundert, Julien Offray de La Mettrie, und einen Nachfolger im 20., Wilhelm Reich. La Mettrie (1709-51), wurde zwar durch sein Buch »L'homme machine« bekannt, betrachtete selbst aber seinen »Discours sur le bonheur« als sein eigentliches Hauptwerk. Darin entwickelt er eine "Lehre vom Schuldgefühl", deren Quintessenz der Stirner'schen Position entspricht. Ihretwegen wurde auch er, wie Stirner, von den zeitgenössischen Aufklärern geächtet und zur Unperson gemacht. (41) Wilhelm Reich (1897-1957) erkannte, als einziger Psychoanalytiker, früh die Bedeutung Stirners als (theoretischem) Liquidator des Über-Ichs und wurde letztlich deshalb zum Antipoden Sigmund Freuds und zum von der psychoanalytischen und erst recht von der psychologischen community  Verfemten. La Mettrie und Reich sind deshalb mit gleichem Recht wie Stirner als "pädagogische" "Anarchisten" zu bezeichnen.


Diese Schrift ist im Zusammenhang zu sehen mit:
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie«
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich«


Anmerkungen

(1) Im folgenden abgekürzt EE. -- Wichtig sind allerdings auch einige Aufsätze, z.B. »Das unwahre Prinzip unserer Erziehung«, »Recensenten Stirners«, die in dem Band »Parerga, Kritiken, Repliken«, hg. von Bernd A. Laska, Nürnberg 1986, ediert sind (im folgenden abgekürzt PKR).

(2) Brief an Bruder in: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, Band 18, Berlin/DDR 1988, S.416f; Replik in: a.a.O., Band 9, S.427-441.

(3) Erstveröffentlichung des Manuskripts in allen erhaltenen Teilen 1932 innerhalb der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). -- Die Rolle Stirners bei der Entstehung des historischen Materialismus wurde, obwohl dokumentarisch evident, erstaunlicherweise bis heute in der Marxforschung in Ost und West weitgehend ignoriert -- was für sich genommen ebenfalls ein interessantes Faktum darstellt. Die wenigen Autoren, die sie thematisierten (Henri Arvon 1951, zuletzt Wolfgang Essbach 1978), blieben unbeachtet. Siehe hierzu:
Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident (Aug. 1996)
Bernd A. Laska: Den Bann brechen! - Max Stirner redivivus. Teil 1: Marx und die Marxforschung (Aug. 2000)

(4) Die Stirner-Nietzsche-Frage wurde, im Gegensatz zur Stirner-Marx-Frage, trotz dürftiger dokumentarischer Grundlage, in den Jahren um 1900 häufig diskutiert, allerdings ohne ein definitives Ergebnis. Eine erst seit kurzem mögliche Beleuchtung eines wichtigen biographischen Details bei Nietzsche fördert jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit das missing link  zwischen Stirner und Nietzsche zu Tage. Siehe hierzu:
Bernd A. Laska: Max Stirner, ein dauerhafter Dissident - in nuce (Jan. 2000)
Bernd A. Laska: Den Bann brechen! - Max Stirner redivivus. Teil 2: Nietzsche und die Nietzscheforschung (Nov. 2000)
Bernd A. Laska: Nietzsches initiale Krise (Okt. 2002)

(5) Georg Adler: Stirners anarchistische Sozialtheorie. In: Festgaben für Wilhelm Lexis zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Jena 1907, S.3-46 (31,8,12).

(6) Etwas ausführlicher und Literaturangaben dazu bei Bernd A. Laska: Max Stirner - ein anarchistischer Pädagoge? In: Anarchismus und Bildung, hg. v. Ulrich Klemm, Heft 2 (Juli 1988), S.18-30.

(7) Es ist hier nicht möglich, darzulegen, warum die wenigen "Stirnerianer", die es ja auch gab, bei dieser Untersuchung unberücksichtigt bleiben können.

(8) Stirners Biographie eruierte und schrieb: John Henry Mackay: Max Stirner. 3.erw.Aufl. Berlin 1914, (Nachdruck Freiburg 1977).

(9) EE, S. 50.

(10) Bruno Bauer: Das entdeckte Christentum. Zürich und Winterthur 1843, neu hg. v. Ernst Barnikol, Jena 1927. Vorrede. -- Bauer wählte den Titel nach Holbachs »Le christianisme dévoilé«, das er auch häufig benutzt.

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(11) Bauer, a.a.O.

(12) Vgl. dazu die Polemik vom Herbst 1844 des noch feuerbachianischen Marx gegen den bereits auf gewandelter Position stehenden Bauer in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 2, S.131-141.

(13) EE, S. 203, 42.

(14) Zur näheren Beschäftigung mit dem Junghegelianismus: Wolfgang Essbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München 1988. 470 S. (sehr materialreich); Rudolf Ruzicka: Selbstentfremdung und Ideologie. Bonn 1977.120 S. (Kurzdarstellung der philosophischen Positionen).

(15) EE, S. 393f

(16) Hans-Martin Sass, einer der wenigen Experten für junghegelianische Philosophie, stellte 1975 fest: "Alle Spielarten überhaupt möglicher kritischer Theorie, alle Spielarten von Anarchismus und Existenzialismus sind (damals) in Berlin durchgespielt worden, und alles, was später kam, sind (überspitzt gesagt) Neuauflagen: Adorno, Marcuse, Habermas und Heidegger; sie sind nicht nur historisch später, sie sind auch weniger originell, zugegeben in manchem gründlicher, im Grundsätzlichen schon lange durchgespielt in jenen Jahren in den zwei, drei Stammlokalen, die man in Berlin hatte." (In: Hermann Lübbe, Hans-Martin Sass (Hg.): Atheismus in der Diskussion. München 1975. S.146). Sass sieht jedoch, wohl aufgrund seiner theologischen Herkunft und Orientierung, die Sonderstellung der Stirner'schen Kritik nicht.

(17) Eine produktive Rezeptionsgeschichte des »Einzigen«, die zu ihrem Vorteil auch die bereits vorhandene, destruktive von Hans G. Helms (»Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«, Köln 1966) mit einbeziehen würde, wäre eine gute Hilfe, um die Vermutung der Existenz dieser so subtilen wie gravierenden Quintessenz weiter zu stützen, vielleicht sogar, um diese auf negative Weise zu definieren.
Anm. 1998: inzwischen erschien eine solche Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte:
Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners »:Einziger«. Eine kurze Wirkungsgeschichte. (Stirner-Studien, Band 2) Nürnberg: LSR-Verlag 1996

(18) PKR, S. 170.

(19) PKR, S. 171; Stirners affirmative, aber leider nicht durchgehend konsequente und häufig durch Adjektive modifizierte Verwendung des Begriffs Egoismus hatte polemische, aber auch sachlich gerechtfertigte Gründe; jedenfalls war sie oft (Mit-)Ursache für Fehlinterpretationen des »Einzigen« überhaupt. Ich werde, weil eine Klärung hier nicht möglich ist, ohne Verwendung dieses Begriffs auszukommen versuchen.

(20) EE, S. 393-401.

(21) Stirner ist in terminologischer Hinsicht nicht immer so klar, wie zu wünschen wäre. So verwendet er, z.T. aus polemischen Gründen, den Ausdruck "Egoist" meist synonym für "Eigner", manchmal aber auch für Egoisten, die keine Eigner sind, nämlich düpierte unfreiwillige etc. Ausserdem gibt es bei ihm den "Einzelnen", den "Eigenen" und, wie der Buchtitel sagt, den "Einzigen", deren terminologische Beziehungen zum "Eigner" bzw. "Egoisten" ebenso zu klären wären wie der spezifische, jedenfalls nicht bzw. nicht ausschliesslich ökonomische Sinn seines "Eigentums". -- Ich werde versuchen, hier die Verwendung dieser Ausdrücke so weit wie möglich zu vermeiden.

(22) PKR, S. 91, 90, 97.

(23) PKR, S. 94f

(24) PKR, S. 75.

(25) G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. §§ 174, 175, Zusätze.

(26) Michail Bakunin: Prinzipien und Organisation der internationalen revolutionären Gesellschaft (1866). In: ders.: Gesammelte Werke, Band 3. Berlin 1924, S.25.

(27) ausserdem manchmal synonym vom "Egoisten" und "Einzigen" (mit seinem "Eigentum"); siehe dazu Anm. 21.

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(28) EE,S.332.

(29) EE, S. 88.

(30) EE, S. 70f.

(31) EE, S. 77f.

(32) vgl. z.B. EE, S. 183, 374.

(33) PKR,S.170.

(34) PKR, S. 182.

(35) PKR,S.169;EE,S.346.

(36) EE, S. 170, 410 (bspw.).

(37) EE, S. 231.

(38) EE, S. 354ff.

(39) EE, S. 89.

(40) EE, S. 72.

(41) Die wichtigsten Schriften La Mettries erschienen in deutscher Übersetzung und mit ausführlichen Begleittexten versehen 1985-87 im LSR-Verlag Nürnberg.


Diese Schrift ist im Zusammenhang zu sehen mit:
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei La Mettrie«
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich«

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