Wilhelm Reich im LSR-Projekt


Wilhelm Reich schrieb den nachfolgenden Artikel »Der Erziehungszwang und seine Ursachen« (1926) in der wohl wichtigsten Phase seiner Entwicklung. Er hatte bald nach seinem Eintritt in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (1920) immer wieder die Frage nach dem umfassenderen Sinn der Psychoanalyse, nach dem Therapieziel, dem Heilungskriterium, also nach der psychischen Gesundheit, aufgeworfen. Ein blosses Funktionieren ohne lästige oder störende Symptome in der bestehenden Gesellschaftsordnung schien ihm nicht zureichend bzw. sogar falsch.

Freud und seine Schüler hatten diese Frage gemieden, weil sie wussten oder ahnten, dass sie der Keim einer radikalen Gesellschafts- und Kulturkritik ist. Nach einer von Freud schnell erstickten "Revolte" von Otto Gross und Sándor Ferenczi im Jahre 1908 war Reich der erste, der sie wieder aufwarf - aber sich in ihrer Verfolgung weder beirren noch einschüchtern liess.

Ende 1923 hatte Reich erstmals selbst ein solches Kriterium vorgeschlagen: die "orgastische Potenz". Seitdem wurde er, trotz seiner vordergründig zunächst glänzenden Karriere als Psychoanalytiker, beargwöhnt, insbesondere von Freud; eine öffentliche Diskussion des Themas fand nicht statt.

Reich indes, der sich stets auf Freuds frühere klinische [!] Schriften berief, arbeitete seine Theorie weiter aus und stellte sie in seinem Buch »Die Funktion des Orgasmus« dar (ersch. 1927 - nicht das heute bekanntere Werk gleichen Titels, das ab 1942 in englisch, ab 1969 in deutsch erschien). Freud erwartete offenbar mit Unbehagen, was sein brillanter, aber allzu eigenständiger Schüler da präsentierte; denn als Reich das Manuskript dieses - "Meinem Lehrer Professor Sigmund Freud in tiefer Verehrung" gewidmeten - Werkes ihm zu seinem siebzigsten Geburtstag (6. Mai 1926) überreichte, brüskierte Freud ihn mit einer scharfen ironischen Bemerkung.

Spätestens jetzt wusste Reich, wie prekär seine Situation in der von dem Übervater Freud geführten psychoanalytischen Bewegung war; (vgl. »Reichs Krise 1926/27«) wusste er, dass er sich im Konflikt mit Freud (so eine damalige Notiz Reichs) befand -- einem Konflikt allerdings, den öffentlich und argumentativ auszutragen Freud strikt verweigerte und der schliesslich 1934 in einem von Freud mit wahrhaft stalinistischen Methoden inszenierten geheimen Ketzerprozess und Reichs Ausschluss erstickt wurde. Danach war der einst so erfolgreiche Reich (»Charakteranalyse«) - wie, etwa zeitgleich, Trotzki in der Sowjetunion - eine Unperson für die Psychoanalytiker; er blieb es bis heute.


Diese Hinweise auf ein noch immer nicht ganz aufgeklärtes Kapitel aus der Geschichte der Psychoanalyse habe ich dem folgenden Reich-Text vorangestellt, weil in den letzten Jahren von "linksfreudianischer" Seite der "Fall" Reich neu aufgerollt und schliesslich behauptet wurde, dass der Hauptgrund für Freuds Vorgehen gegen Reich darin zu sehen sei, dass Freud mit dem Ausschluss des damaligen Kommunisten Reich der Psychoanalyse in NS-Deutschland die Chance des Überlebens erhalten wollte.

Reichs "Konflikt mit Freud" hatte jedoch spätestens 1924 begonnen, drei bis vier Jahre, bevor Reich erste Kontakte zur Arbeiterbewegung suchte. Seine zu Freud im Grunde gegensätzliche Position verrät sich in dem folgenden Artikel - trotz gewundener Bekenntnisse zu Freud und zu dessen Paladin Bernfeld - ebenso wie in dem gleichzeitig entstandenen Buch »Die Funktion des Orgasmus«, insbesondere in dessen letztem Kapitel »Über die soziale Bedeutung der genitalen Strebungen« -- in dem Reich übrigens die marxistische Auffassung, Neurosen seien "nur ein 'Überbau' ökonomischer Verhältnisse" als "Irrglauben" bezeichnete.

Kurz: wer Reichs Ausschluss aus der Psychoanalyse primär als "Bauernopfer" darstellt, das Freud und die führenden Funktionäre der Psychoanalyse im Taktieren gegenüber den NS-Organen gebracht haben, eskamotiert damit eine weitaus interessantere Frage: die nach der Natur von Reichs Konflikt mit Freud, der schon ein Jahrzehnt zuvor zu schwelen begonnen hatte. Interessant ist diese Frage heute deshalb, weil Freud - allen rezenten Demontagen zum Trotz - der wirkungsmächtigste Aufklärer des 20. Jahrhunderts war und in Reich seinen - aufklärerischen - Antipoden erkannte. Eine Analyse des noch immer verborgenen Konflikts, wie sie im Rahmen des LSR-Projekts geplant ist, könnte Aufschluss geben über die ebenfalls noch immer verborgenen Gründe für das sang- und klanglose Aufgeben des einst grossen Projekts der europäischen Aufklärung im Verlaufe des 20. Jahrhunderts - und Impulse für dessen Wiederaufnahme.

Bernd A. Laska


Vgl. hierzu
»Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Wilhelm Reich«
[Wilhelm Reich als "pädagogischer" "Anarchist"]


Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik, Jg. I, Heft 3 (Dezember 1926), S. 65-74

Wilhelm Reich
Eltern als Erzieher

Eine Aufsatzreihe von Dr. Wilhelm Reich,
Assistent am Psychoanalytischen Ambulatorium in Wien

I. Der Erziehungszwang und seine Ursachen
(aus rechtlichen Gründen hier nur auszugsweise wiedergegeben)

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Dass das Kind eines Säufers und einer unglücklichen Frau aus Gründen des Milieus zu schweren seelischen Schäden kommen muss, ist klar und in der neueren pädagogischen Literatur oft behandelt worden. Wichtig ist, dass unter den denkbar besten Umständen Erziehungsprobleme auftauchen, die sich aus der unbewussten Einstellung des Erziehenden zum Kinde ergeben und aus diesem Grunde schwer zugänglich sind: Das Wissen lässt sich nicht ohne weiteres in Handeln umsetzen. Man wird daher begreifen, dass hier gar nicht erst versucht werden kann, das Problem der Erziehung vom Standpunkt des "Was soll man tun?" anzugehen -- das wäre, da ich nicht Erzieher, sondern Seelenarzt bin, von vornherein verfehlt -- es ist angezeigt, sich auf die Untersuchung der psychologischen Voraussetzungen der Erziehung und auf die Analyse der Erziehungsmängel zu beschränken, ehe man an die Frage des "Soll" herantritt. Denn der oberste Grundsatz der Psychoanalyse ist, dass man erst gründlich verstehen müsse, ehe man handelt.

Mit meinen anspruchslosen Beiträgen zur Psychologie des Erziehers folge ich den Spuren des Pädagogen Bernfeld, der wiederholt, zuletzt in seinem geistreichen Buche »Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung« [Internat. Psychoanalytischer Verlag 1926], in erster Linie die "Erziehung des Erziehers" gefordert hat. Ich schliesse mich ihm rückhaltlos an, muss aber die Frage der Erziehung von einem anderen Standpunkt aus betrachten als er, nämlich nicht von dem des Pädagogen, der der Gesellschaft verantwortlich ist, sondern von dem des Arztes. der in erster Linie an der Entstehung und Heilung der Neurosen interessiert ist.

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Die Erziehung besteht nun darin, dass das primitive, einzig auf Lustgewinn gerichtete Streben des Kindes eingedämmt und bis zu einem gewissen Grade durch Triebhemmungen ersetzt wird. Freud

[Fussnote: Vgl. Freuds Untersuchungen über die Entstehung der Moral (des "Über-Ichs") in »Das Ich und das Es«, Int. PsA. Verlag 1923]

hat nun des weiteren gezeigt, dass diese Hemmungen, die den Keim der späteren "Moral" bilden, von der Aussenwelt eingepflanzte Instanzen sind, während wir im Luststreben ein primäres biologisches Phänomen vor uns haben. Es ist nutzlos, zu fragen, ob ein neugeborenes Kind kultivierter Eltern, das auf einer einsamen Insel ausgesetzt würde und sich selbst erhalten könnte, moralische Hemmungen entwickeln würde. Man möchte aber die Frage verneinen.

Wenn nun die Moral eine sozusagen "unnatürliche" Haltung ist, was bedingt dann ihre überragende Macht (in erster Linie als Gegner der Sexualtriebe) ? Auch hier hat Freud empirisch gewonnene Aufklärungen gegeben. Die Moral konnte nur deshalb so stark werden, weil sie ihre Kraft aus den Trieben selbst schöpft, und nicht, weil sie, wie man bis dahin glaubte, ein angeborenes Streben ist, wie etwa das Luststreben.

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In dem Masse, als das Kind seinen Erziehern zuliebe die Forderungen der Gesellschaft zu den eigenen macht, verändert sich sein Ich, es hört allmählich auf, reines Lust-Ich zu sein, und passt sich der Realität an. Diese Anpassung beruht im Beginne völlig auf Lustgewinn, allerdings einem gemässigten, mehr altruistischen und sozial bedeutsameren. Man versteht nun leicht, dass es nicht so sehr darauf ankommt, dass die kulturellen Forderungen sich im Kinde einwurzeln, als auf welche Weise das geschieht, ob die Versagungen derart sind, dass sie mit dem Luststreben ein gangbares Kompromiss schliessen können.

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Die Aufgaben der Erziehung beginnen bei der Geburt.

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Was sind notwendige Versagungen? Nur solche, die diejenigen Triebe des Kindes, die seine soziale Einordnung stören würden, einzudämmen und zu wandeln haben. [ . . . ]
Aber mit dem Begriff der "sozialen Einordnung" als Erziehungsziel ist wenig anzufangen. Man merkt gleich, wie unklar dieser Begriff ist, wenn man bedenkt, dass der Reiche ihn notwendigerweise anders begreift als der Arme, und dass die Erziehungsziele sich ganz allgemein mit Ort, Zeitalter und Klasse ändern. Hier entscheidet praktisch die Weltanschauung, und man wird sich sagen müssen, dass jeder von seinem egoistischen Standpunkt als Erwachsener recht hat. Eine Einigung über das Kind kann hier nicht erzielt werden. Anders ist es, wenn man das Erziehungsproblem vom ärztlichen Standpunkt aus betrachtet, also etwa von der Frage der Neurosenverhütung ausgeht.

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Sonst ist es eine Grundeigenschaft der Eltern, wie der Erzieher im allgemeinen, das Kind von sich aus zu beurteilen, ihm das gleiche Verständnis für die Unrealisierbarkeit seiner Wünsche zuzumuten, wie es Erwachsene besitzen. Weil das Verständnis fehlt, wird jede Äusserung des Lustprinzips als Krankhaftigkeit oder Unart angesehen. Das hat offenbar seinen Grund darin, dass die Eltern durch jede Triebäusserung des Kindes an ihre eigenen verdrängten infantilen Wünsche gemahnt werden und die Triebhaftigkeit des Kindes eine Gefahr für die Aufrechterhaltung der eigenen Verdrängungen bedeutet. Diese Gefahr wird nun durch erzieherische Verbote abgewehrt, die deutlich das Gepräge des Erziehungszwanges haben.

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Bernfeld hat in seiner »Psychologie des Säuglings« [Wien, Springer 1926] plausibel gemacht, dass die Motive der Säuglingspflege Hassregungen gegen das Neugeborene sind. Wie absurd das auch klingen mag, es erscheint schon deshalb richtig, weil wir unter den üblichen Erziehungsmassnahmen wenige sehen, die nicht das Gepräge des Hasses, der Vergewaltigung hätten. Es lohnte sich eine eigene Abhandlung, um nachzuweisen, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl aller erzieherischen Eingriffe von der Art der unnötigen Versagungen sind und dass das Empfinden des Kindes, ungerecht behandelt worden zu sein, eine reale Basis hat. Eine Analyse der Erziehung als Neuroseäquivalent der Erwachsenen steht ebenfalls noch aus.

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Die bewussten Motive [des Erziehers] erweisen sich also als sekundäre Rationalisierungen. Daraus ergibt sich die grosse Schwierigkeit, dem Erziehungsproblem beizukommen. Es gibt kein anderes Mittel als die individuelle Psychoanalyse, den Erziehenden von der wahren Bedeutung und den wahren Motiven seines Tuns zu überzeugen.

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[nach einem Beispielsfall]
Wer bringt den Optimismus auf, zu hoffen, dass sich ein ähnliches Mass an Einsicht und Bewusstheit bei der Masse der Erzieher je einstellen wird? Das liesse hoffen, dass die Neurosen der Erwachsenen und ihre Äquivalente, wie die selbstverschuldete soziale Not und die unglücklichen Ehen, je zu existieren aufhören werden. Die Frage der Erziehung ist aber von der der Gesellschaftsordnung und der der Neurosen nicht zu trennen.
Es ist mir bewusst, dass dieser Pessimismus wenig geeignet ist, zur Lösung der aktuellen Frage "Wie soll man das Kind erziehen?" beizutragen. Aber ist anderes besser geeignet?

[. . . über der Optimismus der Schule Alfred Adlers . . .]

Mit dem Optimismus ist es also nichts, er beruhigt nur das Gewissen der Erwachsenen und ist ein Symptom ihres Erziehungszwanges. Auf weite Sicht dürfte noch der berechtigte Pessimismus fruchtbarer sein; er zwingt zur Selbstkontrolle und führt so zu wertvollen Fragestellungen, während der Optimismus in der Erziehungsfrage die Schwierigkeiten nur verschleiert.

Eine solche Schwierigkeit ist, dass Erziehung, wenn sie einen Sinn haben soll, Massenarbeit sein muss. Auf die Gesellschaft wird es kaum einen Einfluss üben, wenn in einer Millionenstadt fünf oder fünfzig Kinder richtig aufgezogen werden. Das wünschenswerte Optimum, eine rein sachliche, affektfreie Beurteilung der Erziehungsobjekte, wäre derzeit nur durch die Analyse des Erziehers zu erzielen und kommt daher für die Masse nicht in Betracht. Es ist vorläufig nur eine utopische Vorstellung, dass es gelingen könnte, durch einzelne, ihrer selbst voll bewusste Erzieher Verständnis in die Massen der Erzieher zu tragen. Wenn Eltern und Erzieher wissen werden, aus welchem Grunde und wozu sie wirklich erziehen, wenn die massgebenden Autoritäten zu glauben aufhören werden, dass sie in ihren Bestrebungen nur das "Wohl der Menschheit" im Auge haben, wenn die Masse wissen wird, dass das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen den Gegensatz verschiedener Welten bedeutet, dann -- vielleicht -- wird es eine Möglichkeit geben, an aktive Erziehungsmassnahmen zu denken.

Und bis dahin? Die Hoffnungslosigkeit aller derzeitigen Erziehungsmassnahmen, die Tatsache, dass, was immer man macht, man es verkehrt macht, ergibt ausser der Forderung, die Erziehungsfehler zu erkennen und zu verstehen, nur eine negative Regel: Enthaltsamkeit in der Erziehung bis zum äussersten, Einschränkung der Erziehungsmassnahmen auf die allernotwendigsten Versagungen, Wissen, dass man sein Kind aus ganz natürlichen Gründen nicht nur liebt, sondern auch hasst. Und die Gefahren des Gewährenlassens? Sie dürften kaum grösser sein als die, die der Erziehungszwang mit sich bringt. Wir müssen daran denken, dass die ursprüngliche lebendige Kraft, die der Erziehungszwang zähmen will, aus sich selbst heraus einmal Kultur geschaffen hat. Man darf grosses Zutrauen zu ihr haben. Ist es zu gewagt, zu behaupten, dass sich das Leben seine notwendigen Daseinsformen selbst am besten zu schaffen vermag?


Wilhelm Reich im LSR-Projekt