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ein paraphilosophisches Projekt
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»Aufgespiesst !«
zu Max Stirner

Autoren (nach 1945):


Roberto Calasso (1979)
Roberto Calasso (1983)
Roberto Calasso (2001)
Roberto Calasso (2008)
Thomas Seibert
Heiner Hastedt
Richard Herzinger
Sander L. Gilman
Beate Kramer
Gerd Habermann
Olaf Briese
Gerd Achenbach
Jürgen Habermas
Peter Sloterdijk
Hermann Schmitz
Bernhard H. F. Taureck
Ekkehard von Braunmühl
Robert Kurz
Hans Ebeling
Carl-Friedrich Geyer
Rüdiger Safranski
Günter Rohrmoser
Volker Zotz
Jacques Derrida
Harry Mulisch
Vittorio Hösle
Ursula Pia Jauch
Frank Castorf
Wilhelm Schmid
Georges Minois
Peter V. Zima
Winfried Schröder
Wolfgang Essbach
Andreas Arndt
Werner Stegmaier
Uwe Justus Wenzel
Rudolf Burger
Hans G[ünter] Helms (2006)
Martin Meyer (NZZ)
Michel Onfray
ein Fund aus dem Jahre 1927:
Ernst Jünger
Zu Ernst Jünger 1977 siehe hier

 


Roberto Calasso (1979)

Zur Stirner-Lektüre
In ders.: Die neunundvierzig Stufen.
Aus dem Italienischen von Joachim Schulte.
München: Hanser-Verlag 2005, S. 257-306, 378-381 (Anm.)
(orig.: Accompagnamento alla lettura di Stirner. In: Max Stirner: L'Unico e la sua proprietà, traduzione di Leonardo Amoroso. Milano: Adelphi edizioni, 1979)
Roberto Calasso, Jg. 1941, Autor und seit 1968 Inhaber und Leiter des renommierten Mailänder Verlags Adelphi edizioni, Empfänger des "Premio Nietzsche" und zahlreicher anderer Ehrungen, liess 1979 eine neue italienische Übersetzung des »Einzigen« anfertigen, schrieb selbst einen ausführlichen Begleittext dazu und brachte das Buch im eigenen Verlag heraus. Dieser Begleittext ist eine kritische Sichtung der Rezeptionsgeschichte Stirners, in der er deren unausgeschöpftes Potential teilweise ortet, z.B. im Falle Nietzsche, S. 283: dessen Beziehung zu Stirner sei "bis auf den heutigen Tag nicht so aufgeworfen worden, dass alle ihre -- gewaltigen -- Konsequenzen zur Sprache gekommen wären." In den folgenden fünfundzwanzig Jahren kommt er auf diese Frage nicht mehr explizit zu sprechen. Seine Faszination galt stets dem "Barbaren" Stirner, damals (S. 274) wie später (s.u.); und den hatten, wie Calasso als einer von sehr wenigen Autoren sah, Marx und Nietzsche aus der Geschichte verdrängt. Daran wollte Calasso denn doch nicht ernstlich rühren. Die Rezensenten von heute merken nichts von der inneren Spannung seines Stirner-Textes und nehmen ihn als "eine Ehrenrettung des berüchtigten Max Stirner" (Roland Wiegenstein, Die Berliner Literaturkritik, Sept. 2005) oder meinen, Calasso will "selbst Max Stirner" (der es nun wirklich nicht verdient hat ?) "Gerechtigkeit widerfahren lassen" (Steffen Richter, Neue Zürcher Zeitung, 26.7.2005).
08.12.2005

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Roberto Calasso (1983)

Der Untergang von Kasch
Aus dem Italienischen von Joachim Schulte.
Frankfurt/M: Suhrkamp-Verlag 1997. 464 S.
(orig. La Rovina di Kasch, Milano: Adelphi edizioni, 1983)

[Kapitel]
Der künstliche Barbar
(S. 312-347)

»Stirner ist eines der vielen Zeichen, an denen das Ende der Bildung zu merken ist. (312)
[...]
Von mancher Seite verlautet auch, es sei davon auszugehen, dass sich ein zünftiger Philosoph mit so etwas wie Stirner nicht befassen könne. [...] Aus der Kultur ist Stirner weiterhin ausgestossen, obwohl ihm Hunderte und Aberhunderte von Abhandlungen gewidmet sind. (313)
[...]
Besonders fühlbar wird Stirners Präsenz ... bei Autoren, die sich über ihn ausschweigen oder ihn in nie veröffentlichten Texten besprechen, bei Nietzsche und Marx. Viele ihrer Worte können nur dann begriffen werden, wenn man sie als ungeduldiges, mitunter fieberhaftes Flüstern liest, das sich an das sie verfolgende Gespenst Stirner richtet. Im direkten Austausch haben Marx und Nietzsche einander nie viel zu sagen gehabt, doch sie verständigen sich wie zwei Personen, denen, obwohl sie einander nicht kennen, ein Traum (oder ein Grauen) gemeinsam ist. Daher sind sie genötigt, wenigstens im verbissenen, komplizenhaften, empörten, finsteren und zirkulären Ringen mit ihrem Gespenst zusammenzukommen. Dieser Kampf fesselt sie aneinander wie Häftlinge im selben Kerker. Bei Stirner finden diese beiden klardenkenden und provozierenden Erstbefürworter der "experimentellen Philosophie" einen geheimen Teil ihres eigenen Denkens wieder, allerdings jenen, den sie in seinen Konsequenzen nicht anerkennen wollen. Durch ihre ganze Lebensgeschichte lassen sich die Phasen der geduldigen Verheimlichungsarbeit verfolgen...« (314)

In diesen Passagen finden sich wichtige Übereinstimmungen mit meiner Sicht, wie ich sie u.a. in »Ein dauerhafter Dissident« dargestellt habe und für die Fälle Marx und Nietzsche detailliert in späteren »Stirner-Studien« darstellen werde.
Vorerst existieren nur Kurzfassungen zum Thema:
Max Stirner, ein dauerhafter Dissident - in nuce (Jan. 2000)
Den Bann brechen! - Teil 1: Stirner, Marx, Marxforschung (Aug. 2000)
Den Bann brechen! - Teil 2: Stirner, Nietzsche, Nietzscheforschung (Nov. 2000)
Nietzsches initiale Krise (Nov. 2002)

Calassos grundsätzliche Interpretation des »Einzigen« steht jedoch zu meiner im Gegensatz.
Das wird dem Kenner des "LSR-Projekts" bereits durch Calassos Kapitelüberschrift »Der künstliche Barbar« signalisiert; das zeigt sich deutlich z.B. in folgenden Passagen:

»Der Einzige stand in der Bibliothek des jungen Dostojewski.
...das von Stirner vorgeführte anthropologische Monstrum, das dann in Dostojewskis Romanen weiterlebt...
...Bei Dostojewski bricht eine ähnliche Zerrüttung alles Menschlichen ... in den Roman ein...
...Das von Stirner als Einziger bezeichnete Wesen ist vor allem eine formlose Höhlung, aus der Dostojewski ein Wimmeln von Gesichtern heraufbeschwört, zu denen nicht nur Raskolnikow, Kirillow und Iwan Karamasow gehören, sondern auch der Mann aus dem Kellerloch, der sie in seiner angemessenen Anonymität in gewisser Weise alle umfasst.« (328f)

»Die Welt von heute stammt, ohne es zu wissen, in höherem Masse von Stirner ("dem kleinen Beamten des Nichts") ab als von Marx, Freud und Nietzsche.« (318)


29.11.1998 | Mitgeteilt von Gottfried Heuer, London

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7. April 2000: Calasso / Adelphi belegen den URL
http://www.maxstirner.com

(Seit 16.03.2005 ist dieser URL von Edouard d'Araille in GB registriert)

Roberto Calasso (2001)

La letteratura e gli dei
Milano: Adelphi edizione, 2001
english edition, translated by Tim Parks:
Literature and the Gods
London: Vintage, 2001;
deutsche Ausgabe, übersetzt von Reimar Klein:
Die Literatur und die Götter
München: Hanser 2003
Zwanzig Jahre nach »Kasch« kommt Calasso erneut auf Stirner zu sprechen, bezeichnenderweise in einem Kapitel
»Meditationen eines Serienmörders« (vgl. hier Beate Kramer)
(in der englischen Ausgabe pp. 77-100), in dem Calasso darlegt, dass der düstere Schriftsteller Lautréamont (d.i. Isidore Ducasse, 1846-1870) mit seinen »Gesängen des Maldoror« den "romantischen Satanismus" der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts durch einen unromantischen Satanismus überboten bzw. auf den (Tief-)Punkt ("Nadir") gebracht habe. Damit habe er auf dem Gebiet der Literatur dasselbe vollbracht wie Stirner auf dem Gebiet der Philosophie.

pp. 98-99
(nach der englischen Ausgabe, übersetzt von B.A.L.)
»Nach Stirner hat mit Lautréamont der zweite künstliche Barbar die Szene betreten, diesmal kein Barbar des Geistes, sondern einer der Literatur. So wie Stirner den kühnen Junghegelianern gezeigt hat, dass sie ein Haufen frommer Leute sind, die in Ehrfurcht vor dem Staat und der Menschheit erstarren, so zeigt Lautréamont mit grosser Sorgfalt, Geduld und Klarheit den Romantischen Satanisten, den zahlreichen Schriftstellern, deren grösster Baudelaire war, dass sie von den Früchten des barbarischen Grauens nicht mehr als ein kleines Bisschen gekostet hatten. [...] Stirner hat die Philosophie, die vor ihm war (eine Philosophie von höchster Kühnheit), genauso behandelt wie Lautréamont die Literatur der romantischen Rebellen: er trieb sie auf die Spitze, um sie zu zerstören. Beide waren von dem blasphemischen Drang beseelt, Hohn und Spott über absolut alle Regeln zu ergiessen, um zu sehen, was dann passiert. Natürlich passierte direkt fast gar nichts, denn kaum jemand erkannte, worauf sie hinauswollten. Aber die [gedankliche] Geste ist in der Welt. Nach ihnen ist jede Philosophie und jede Literatur von einem verhängnisvollen Bruch durchzogen.«


25.11.2001 | Mitgeteilt von Gottfried Heuer, London

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Roberto Calasso 2008

La Folie Baudelaire
Milano: Adelphi edizione, 2008;
deutsche Ausgabe, übersetzt von Reimar Klein:
Der Traum Baudelaires
München: Hanser 2012
In diesem Werk stellt Calasso "Baudelaire zwar ins Zentrum seiner Betrachtung. Im Grunde geht es ihm aber um eine ganze Epoche, um die Geburt dessen, was man als Moderne bezeichnet, für die der Dichter nur als eine Art Schutzheiliger fungiert." (Rez. von Lena Bopp in der FAZ vom 7. Feb. 2013) Beachtenswert ist, dass er dieser Symbolfigur in ihrer wesentlichen Eigenschaft nur einen Autor an die Seite stellt: Max Stirner. Calasso erwähnt dies aber auf die beiläufigste Art, setzt also beim Leser intime Kennerschaft (zumindest seiner früheren Werke, siehe oben) voraus. Hier die Stelle im Kontext:

S. 417f:
Baudelaire sei (das ausgeprägteste) Exemplar des décadent, d.h. »... ein Einzelwesen ..., das die Verbindungen zum sozialen Ganzen abbricht, indem es sich weigert, seinen Zwecken zu dienen. Diese widersetzlichen Bürger sind ebendeshalb "unfähig, sich privat oder öffentlich zu betätigen", weil sie "allzu fähig sind, einsam zu denken". So kommt es zu bestimmten "'Fällen' von bestürzender Singularität". Zu ihnen gehörte Baudelaire. "Er hatte den Mut, diese Haltung in ganz jungen Jahren anzunehmen, und die Kühnheit, bis zum Ende bei ihr zu bleiben." Der décadent ähnelt dem Fetischisten: in ihm triumphiert das Idiosynkratische, er wehrt sich dagegen, dass seine Singularität von einem Ganzen absorbiert wird. Darin traf sich Baudelaire nur [sic!] mit Max Stirner.«
---------
Laut Index nennt Calasso Stirner nur an dieser einen Stelle.
Die 4 Zitate in seinem Text stammen aus Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine, tome 1, Plon, Paris 1901 (Erstveröffentlichung 1881), pp. 22, 22, 21, 24.


08.03.2013

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Thomas Seibert

1) Geschichtlichkeit, Nihilismus, Autonomie
Philosophie(n) der Existenz. (Diss. Frankfurt/M 1995)
Stuttgart: M&P, Verlag für Wissenschaft und Forschung [Metzler/Poeschel] 1996. 452 S.
Über Stirner: S. 60-80 u. ca. 25 Erw.

2) Existenzphilosophie
Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 1997. 195 S.
Über Stirner: S. 35-49 u. ca. 20 Erw.

3) Die Abenteuer der Autonomie, das Ende des Menschen und die Fragen, die danach noch wichtig sind
In: Die Beute, Heft 15 (3/4, 1997), S. 38-53.
Über Stirner: S. 47f


Thomas Seibert, Jahrgang 1957, der Kierkegaard, Stirner und Nietzsche zu den frühen Existenzphilosophen zählt, zeigt anfangs durchaus Sympathie für Stirner. Ausgerechnet dieser "Unmensch [markiere] die äusserste Gegenposition zu den linken und rechten Kollektivismen, die für die faktische Unmenschlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich zeichnen." (1:78) Beifällig vermerkt Seibert zudem, dass der "stirnersche 'Egoismus'" einen "libertären Kern" habe (1:78) und dass Stirner "sich in einer in der Philosophiegeschichte tatsächlich einzigartigen Weise mit den von den herrschenden Besitzbürgern wie von den hochherzigen Humanisten verworfenen 'niederen Elementen' der Gesellschaft gemein [gemacht habe]." (2:43) Stirner sei "(zweifellos)(noch immer) der eigentliche philosophe maudit". (1:61,63,80; 2:37)

In der Einleitung seiner ersten Schrift kündigt Seibert sogar an, er werde aus sachlich-inhaltlichen Gründen von der Chronologie abweichen und Stirner nach Nietzsche behandeln. (1:16) In den gut zwei Dutzend Erwähnungen Stirners ausserhalb des Stirner-Kapitels erscheint dieser denn auch stets als letzter in der Folge "Kierkegaard-Nietzsche-Stirner". Nach alledem scheint es so, als wolle Seibert Stirner rehabilitieren.

Bei genauerem Hinsehen erkennt man diesen Schein als Täuschung. Schon die "sachlich-inhaltlichen Gründe", die Seibert dafür geltend machen will (1:73), Stirner das letzte Wort nach Kierkegaard und Nietzsche zu lassen, werden in seiner Dissertation (1:73ff) nirgendwo recht klar. Und tatsächlich lässt er in (2) stillschweigend von dieser Konstruktion ab und stimmt der etablierten und über jeden Zweifel erhabenen Meinung zu, dass Nietzsche -- wie vor ihm Marx -- Stirner überwunden habe. Spürbar erleichtert stellt Seibert fest: "[Nun] kann das Ethos der existenziellen Souveränität nicht mehr umstandslos auf die Überspanntheit eines Aussenseiters reduziert werden, sondern ist -- wie im Untertitel des 'Zarathustra' angezeigt -- als moralische Herausforderung 'an alle und keinen' gerichtet." (2:69)

Eine kurzzeitig irritierte geistige Welt scheint wieder in Ordnung. Die "Überspanntheit" eines Aussenseiters, die "unerbittliche Folgerichtigkeit" Stirners, sie war doch nur "hochgradig idiosynkratisch bedingt" und kann "von der Person Stirners nicht abgelöst werden"; (1:79) sie hat schliesslich zu dessen "blasphemischer Selbstermächtigung" (2:35) geführt. Stirner mag kurzzeitig faszinieren, mag Wahrheiten zutage fördern helfen, aber seine "Verneinung" bleibe letztlich "steril".(1:79)

Aber auch der allseits, auch z.B. von Theologen etc., geschätzte Nietzsche hat für Seibert bald seine Schuldigkeit getan. In der letzten o.g. Publikation steht: "Stirners Individualanarchismus lässt sich nicht trennscharf von einem gewalttätig entfesselten Bourgeoisegoismus abheben. [Und] Nietzsches politisches Denken kreist trotz seines Antietatismus um erklärtermassen gegenrevolutionäre Herrschaftsphantasien." (3:48)
Seibert wendet sich nun den zeitgenössischen französischen Kritikern des "Humanismus", namentlich Michel Foucault, zu. Er sucht dort "einen neuartigen, linken Radikalismus, der jede Zustimmung zur bestehenden Gesellschaft verweigert, ohne der Utopie einer anderen Gesellschaft verbunden zu sein." (3:49)

Die Seibert'schen Texte sind insgesamt nicht leicht zu lesen. Aber beim gutwillig gestimmten, die Nöte eines "libertären" Denkers unter dem Liberalismus nachempfindenden Leser stellt sich im Laufe der Zeit trotz des verwirrenden Jargons doch eine ungefähre Vorstellung dessen ein, worauf der Autor hinaus will. Mit Foucault, dem er, jetzt wiederum affirmativ, eine "Stirnersche Wendung" unterstellt, (3:49) wird er jedoch seinem Ziel gewiss nicht näherkommen; denn auch Foucault gehört zu der grossen Schar der weithin akzeptierten Philosophen, die Stirner ("primär" oder/und "sekundär") verdrängt haben (vgl. Laska: Ein dauerhafter Dissident; dort speziell den Fall Althusser). Wie Seibert an einer Stelle zeigt, (1:80, Fn) ahnt er zwar etwas von dieser negativen "unterirdischen Wirkungsmächtigkeit" Stirners, ging ihr aber offenkundig bisher nicht nach.

15.11.1998


4) Existenzialismus
Hamburg: Europäische Verlagsanstalt / Rotbuch-Verlag 2000. 95 S.
Über Stirner: S. 16-17

In diesem Exemplar des modernen Genres kurzer "Einführungen" wird eine Reihe anscheinend per Zufall ausgewählter Stirner-Zitate mittels Paraphrasen zu einem Text verbunden, dessen Qualität am fett gedruckten Schlusssatz abzulesen ist:
"Stirner zufolge ist der Einzige erst dann sein Eigen, wenn er auch sich selbst nicht gleicht, sich auflöst, vergänglich ist. Das Eigentum des Einzigen ist insofern keine 'feste Burg' -- es ist sein Abgrund."

Seibert schrieb seither nicht mehr über Stirner. Er ist derzeit Redakteur der Zeitschrift »Fantômas« -- Halbjahresmagazin für linke Debatte und Praxis und Aktivist in der Interventionistischen Linken (IL) und schreibt zur politischen Philosophie zwischen Marxismus, Existenzialismus und Poststrukturalismus, zu Imperialismus/Empire, Proletariat/Multitude und zur Rekonstitution der Linken.

19.05.2006

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Heiner Hastedt

Der Wert des Einzelnen
Eine Verteidigung des Individualismus.
Frankfurt/M: Suhrkamp-Verlag 1998. 247 S.

Eine Erwähnung Stirners, und zwar in einer Fussnote auf S. 17:

»Wenn ich in den vorangegangenen Passagen den Individualismus durch Autoren wie Adam Smith, John Locke und René Descartes eingeführt habe und nicht beispielsweise mit Blick auf Max Stirner und Bernard de Mandeville, dann hängt dies mit der schon durch den Untertitel angedeuteten Absicht dieses Buches zusammen, den Individualismus letztlich verteidigen zu wollen. Deshalb liegt mir daran, den Individualismus nicht von vornherein begrifflich über sehr einseitige Positionen zu definieren. Wenn diese Arbeit einem historischen Interesse folgte, müsste selbstverständlich dem 'egoistischen' Individualismus ein grösserer Platz eingeräumt werden als dies in der vorliegenden systematisch interessierten Arbeit geschieht. -- Vgl. neuerdings: Richard Herzinger: Die Tyrannei des Gemeinsinns. Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft. Berlin: Rowohlt 1997,  der einigen argumentativen Effekt dadurch erzielt, dass er einen bloss moralisierenden Gemeinsinn zugunsten eines interesseorientierten Egoismus kritisiert: "Dieses Buch ruft dazu auf, sich dem neuen Gemeinschaftswahn und seiner absurden Forderung nach Verzicht, Askese und spirituellen Bussübungen aktiv zu verweigern und sich zu einer oft verleumdeten Produktivkraft zu bekennen: zum Egoismus." (S.14) Im Verlauf des Buches wird jedoch deutlich, dass Herzinger zwar in kritischer Absicht den Egoismus rhetorisch stark macht, aber tatsächlich -- optimistisch und vernunftorientiert -- doch an 'das Gute' im menschlichen Egoismus glaubt.«

Allenthalben erkennen Rezensenten, dass es sich bei Herzingers Egoismus um einen "Egoismus mit Herz" handelt, der bei genauerem Hinsehen vom Altruismus nicht zu unterscheiden ist.

15.11.1998

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Herzinger äussert sich im übrigen im genannten Buch kurz zu Stirner, und zwar wie folgt:
 

 

Richard Herzinger

Die Tyrannei des Gemeinsinns
Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft.
Berlin: Rowohlt 1997. 224 S.

S. 89: Im Kontext einer Erörterung der Frage, warum "selbstsüchtige Bösewichter" (es fallen die Namen Richard III, Jago, J.R. Ewing) auch den faszinieren, der sie moralisch verurteilt:

»...ihr Credo könnte das von Max Stirner sein, des philosophischen Hohepriesters aller kompromisslosen Egoisten: Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt [etc.]...«

S.161: »Ein über sich selbst aufgeklärter Egoismus kommt ohne einen Kult um das sich selbst genügende, selbstherrliche Ego aus, wie er von Max Stirner, dem Pathetiker des Egozentrismus, propagiert worden ist. Der 'Einzige' ist in Wahrheit einer von vielen, und er hat sein 'Ich' keineswegs als 'sein Eigentum'.«

Sonst keine Erwähnungen Stirners. (Hervorhebungen: B.A.L.)

15.11.1998

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Sander L. Gilman

Heine, Nietzsche und die Vorstellung vom Juden
In: Jacob Golomb (Hg.): Nietzsche und die jüdische Kultur. Wien: WUV Universitätsverlag 1998. S. 97-112
(Orig.: Nietzsche and Jewish Culture, 1997; Übersetzer: Helmut Dahmer)

Eine Erwähnung Stirners auf S. 108, Fn. 2:

Gilman nimmt an, dass Nietzsche Stirner kannte, und sagt:
»Max Stirner hatte [in 'Der Einzige und sein Eigentum' 1845] eine unhaltbare Gegenüberstellung der 'Alten' und der 'Neuen' [Philosophen] präsentiert; sein Text ist voll von antisemitischen Anspielungen. (vgl. dazu: Werner J. Dannhauser: Nietzsche's View of Socrates, 1974)«

(Text in [...] nicht von mir. B.A.L.)

15.11.1998

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Beate Kramer

Philosophische Aspekte:
Serienmörder als autonome Einzige (Max Stirner)
Manuskript eines Vortrags im Rahmen der Kriminologischen Studienwoche
zum Thema "Serienkiller" an der Univ. Hamburg, 9.-13. Juni 1997
Der Text wurde in stark überarbeiteter Form publiziert in:
Frank J. Robertz & Alexandra Thomas (Hg.):
Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München: belleville Verlag Michael Farin 2004, S. 386-402

»1. Das Phänomen:
Das Profil des organisierten Täters [Serienkillers] zeigt ihn als ein realitätstüchtiges Individuum, das ein intaktes Sexualleben in intakter Partnerschaft hat, sich sozial normal verhält, über eine hohe Intelligenz verfügt, die ihn zum erfolgreichen Planer und Durchführer seiner Taten macht.«

»4. Der Autonomiebegriff:
Der Einzige [Stirners] setzt sich selbst als autopoietischen Nukleus gegen das stoische, in der systematischen Philosophie ausformulierte nihil ex nihilo fit. «
»Angelehnt an den autopoietischen Autonomiebegriff kommt Mord nur als die letzte konsequente Tat des sich verwirklichenden Individuums vor.«
»Die von Samenow und Yochelson aufgefundenen für Serienmörder relevanten Handlungs- und Denkprinzipien stimmen mit den Stirner'schen anarchischen Prinzipien weitgehend überein. [...] Weit davon entfernt, psychisch gestört zu sein, pflegen Serienmörder einen extremen Lebensstil, den sie nicht aufzugeben wünschen.«
»Dem Serientäter geht es während des Rituals, ähnlich wie bei Vergewaltigungen, nicht primär um eine sogenannte Triebabfuhr. Manipulative Macht- und Gewaltausübung während des rituellen Tötungsvorgangs verschafft nicht nur für diesen Zeitraum ein diskretes Bewusstsein entweder der eigenen Machtvollkommenheit oder des eigenen Machtanspruches. Das setzt ihn gleich mit dem Stirner'schen Autokraten.«

»5. Zur Freiheit des Tuns:
Zur freiheitstheoretischen Grundlegung des Stirner'schen Autonomiebegriffs . . . kann die anthropologische Kategorisierung de Sades fruchtbar gemacht werden . . . «
[Fazit:]
»In letzter Konsequenz ist der systematisch rituell vorgehende Serienmörder die Personifikation von Stirners anarchistischem Autonomiebegriff.«

(Hervorhebungen B.A.L. wegen des jeweiligen Bezugs zu Wilhelm Reich oder La Mettrie.)

03.01.1999

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Gerd Habermann

»Erstmals liegt ein zentrales Werk des amerikanischen Anarchokapitalismus in deutscher Sprache vor: Es ist das Buch "Die Ethik der Freiheit" von Murray N. Rothbard. Dieses Buch ist selbst für dezidiert liberale Kontinentaleuropäer starker Tobak. Rothbard ist ein wahrer Bürgerschreck. Staat und Demokratie wird bei ihm in einer Art jegliche Legitimation abgesprochen, ja sie werden kriminalisiert, wie dies in der europäischen Geistesgeschichte bisher nur der heute fast verschollene Sonderling Max Stirner getan hat.«


Rezension des genannten Buches in: Neue Zürcher Zeitung, 21.5.1999, S. 39

27.5.1999

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Olaf Briese

Konkurrenzen.
Philosophische Kultur in Deutschland 1830-1850
Porträts und Profile.
Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. 195 S.

Das Buch ist ein gutes Beispiel dafür, dass grosse Belesenheit, ausgiebige Detailkenntnisse und grosszügige finanzielle Ausstattung des Autors dessen fehlenden Blick für Wesentliches nicht kompensieren können.
Briese behauptet zwar, dass es sich bei der Zeit, aus der er zwölf "Porträts und Profile" zeichnet, um »philosophische Schlüsseljahre« (29) handelt; Schlüsselfiguren aus dieser Zeit wie Bruno Bauer, Karl Marx (27: »einer der vielen Philosophen des Proletariats«) und Max Stirner blendet er jedoch weitgehend aus. Insbesondere Stirner nennt er offenbar nur kurz, um dem Vorwurf des "Totschweigens" zu entkommen: in einer nicht indexierten Fussnote, wo er auf eine Arbeit von Nikolaus Lobkowicz (ein hochrangiger Funktionär der Katholischen Kirche) hinweist, in der dieser betont haben soll,
»wie sich Stirner und Marx in ihren - inhaltlich völlig entgegengesetzten Modellen - [sic!] letztlich nur an Radikalität zu übertreffen versuchten.«

23.06.1999

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Gerd Achenbach

Gerd Böttcher [d.i. später Gerd B. Achenbach]
"Selbstverwirklichung" oder "Die Lust und die Notwendigkeit".

Amplifikation eines Hegel'schen Kapitels aus der "Phänomenologie des Geistes".
Diss. Univ. Giessen 1981 (Ref.: Odo Marquard, Hans-Michael Baumgartner).
470 S. (S. 89f). Hervorh. B.A.L.


»Gesetzt den Fall, dies Selbstbewusstsein, das nur anerkennt, was ihm zu eigen ist, dem alles andere als fremd erscheint und das infolgedessen nur sich selbst in allem suchen wird, mit einem Wort: dies Selbstbewusstsein, wie es HEGEL in "Die Lust und die Notwendigkeit" geschildert hat, sei in allen wesentlichen Zügen mit dem "Einzigen" MAX STIRNERs identisch -- müsste dann von diesem Hegel'schen Kapitel nicht erwartet werden können, dass in ihm die Position MAX STIRNERs überzeugend, zwingend überwunden wird? [...]
Kurz: Dürfen wir dann nicht von HEGEL die vernünftige Kritik erwarten, die MAX STIRNERs Werk verdiente und bisher noch kaum gefunden hat?
Das Schicksal dieses "merkwürdigen" (E. BLOCH), "berüchtigten" (L. KOLAKOWSKI), "absurd paradoxen" (G. LUKACS) Werkes ist es bisher gewesen, vor allem abgewehrt, verdächtigt, auf allerlei Weise empört diffamiert worden zu sein: STIRNERs "Egoismus" ist ganz einfach eine Unanständigkeit und ausserdem "reaktionär".
Nicht weniger bedenklich freilich ist die Neigung seiner "Anhänger" gewesen, sein Werk als Glaubensmanifest zu heiligen, als "Weltanschauung" auszurufen.
[...]
Doch weder Feindschaft noch Ergebenheit, denn beide sind sie blind, vermögen die Bedeutung STIRNERs zu erkennen.
Beiden aber -- den über ihn Entrüsteten wie seinen Jüngern -- ist gemein, dass sie den Gedanken STIRNERs sei es mit dem Makel sei es mit der Aura einer Einzigartigkeit verbanden, eines Ausserordentlichen, Unerhörten.
Die Bedeutung STIRNERs ist jedoch gerade umgekehrt, dass das, was er gelehrt, zum Teil gefordert hat, banal geworden ist.
Aufregend an seinem Werk ist dies, dass es inzwischen alle Sprengkraft eingebüsst hat, dass sein Gedanke platte Wirklichkeit geworden ist...«

13.9.1999

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Jürgen Habermas

Das Absolute und die Geschichte.
Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken.
Diss. Univ. Bonn 1954 (Ref.: Erich Rothacker)
Hervorh. B.A.L.

Habermas machte in dieser seiner ersten grösseren Arbeit Stirner "zum Ausgangspunkt" seiner Überlegungen (S. 33); er hat den Namen später nie mehr erwähnt, selbst in seinen Arbeiten zum Junghegelianismus nicht.

S. 23: »Max Stirner ist ein typischer Epigone insofern, als er das Modell seines Meisters Hegel, die Geschichte des absoluten Geistes, simplifizierend und karrikierend [sic!] wiederholt und auf die radikale Pointe hin zuspitzt: auf das eigene Ich, das Alles aus dem Nichts erschafft. [...]
In der Tat, so sehr sich auch viele Formulierungen der Wortgebärde nach mit Nietzsches Prophetien decken, um so auffälliger wird gerade beim Vergleich dieser beiden, dass das aus der Armut und der Enge hervorgetriebene Mittelmass durch einen Abgrund von der Radikalität des Genies geschieden ist.«

S. 31: »Der Einzige als absoluter-omnipotenter und endlicher-zeitlicher ist als je gegenwärtiger genau das, was er ist, aber er "ist" seine Zeit, das heisst, er ändert sich nicht nur in jedem Augenblick, sondern er ist nicht mehr "er", der er war, und nicht der, der er sein wird: er ist der, der er jeweils gegenwärtig ist: An dieser Konsequenz wird die Absurdität der Stirnerschen Raserei offenbar.«

S. 32: »Daraus leitet Stirner schliesslich auch das Sophisma ["Verein"] ab, das der zentralen Schwierigkeit seiner Konstruktion [Gemeinschaftsleben] begegnen soll. Zu der Endlichkeit des Einzigen gehört, dass neben ihm andere Einzige existieren. Wie soll sich aber aus einer Mehrzahl solch tollwütiger Wölfe so etwas wie ein Verein bilden?«

06.10.1999

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Peter Sloterdijk

Kritik der zynischen Vernunft
Zwei Bände.
Frankfurt/M: Suhrkamp 1983. zus. 959 S.


Erster Band, S. 191:
Hervorh. B.A.L.

»Stirners Idee ist es, aus seinem Kopf alle fremden Programmierungen einfach hinauszuwerfen. Nach dieser totalen Selbstreinigung des Kopfes soll ein nackter, gewissermassen leerer, reflektierter Egoismus übrigbleiben. [...] Man kann auf vielen hundert Seiten nachlesen, wie sich Marx und Engels [in der nachgelassenen Schrift "Die Deutsche Ideologie"] über diesen im Grunde schlichten Gedanken aufgeregt haben. Sie ... zeigen, dass das Stirner-Ich ... in eine neue Naivität springt, die sich nicht zuletzt an dem kleinbürgerlich prahlerischen Nur-noch-Ich-Standpunkt verrät. [...]
Stirner hat ... ganz naiv das Ich als etwas unterstellt, was "es gibt". [...]
In strahlender Naivität redet Stirner... [...]
Es liegen hier gültige Reflexionserfahrung und verworrene Naivität um Haaresbreite nebeneinander.«

06.10.1999

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Hermann Schmitz

Selbstdarstellung als Philosophie
Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität
Bonn: Bouvier 1995

S. 83: »Durch die rezessive Entfremdung der Subjektivität entlarvt Stirner immerhin diese Unzulänglichkeit der bloss objektiven Tatsachen und stellt Subjektivität als ehrliche Herausforderung hin, mit dem Stachel seiner schonungs- und schamlosen Anmassung, die das Nachdenken dazu treiben kann, den von ihm leer gelassenen Platz des namenlosen Einzigen, der seine Sache auf Nichts gestellt hat, durch genaues Erforschen der Phänomene* zu füllen, mit dem schliesslichen Erfolg der Entdeckung der subjektiven Tatsachen am affektiven Betroffensein.«

S. 7: »Nach meinem Kenntnisstand bin ich der Erste und bislang der Einzige, der -- übrigens oft und seit Jahrzehnten -- vorgetragen hat, dass es Tatsachen, ganz harte Tatsachen, gibt, die in dem Sinn subjektiv  und nicht objektiv sind, dass höchstens Einer, und auch nur im eigenen Namen, sie aussagen kann.«


*Hermann Schmitz ist Begründer der »Neuen Phänomenologie«

22.12.1999

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Bernhard H. F. Taureck

Nietzsche und der Faschismus
Leipzig: Reclam, 2000
(erw. Neuauflage des gleichen Titels von 1989)


S. 229 f [1989: S. 181 f]:

»Müsste Nietzsche nicht konsequenterweise bei einem anarchistischen Egoismus  bzw. einem egoistischen Anarchismus  landen, einer Wegnahme aller Formen von politischer Herrschaft? Ein solcher Anarchismus wurde in Max Stirners  "Der Einzige und sein Eigentum" (1845) radikalistisch reflektiert geboten. [...]
[Nietzsche] macht vor der Konsequenz Stirners halt. Die anarcho-idealistische Befreiung bleibt bei Nietzsche das Vorrecht weniger! Dadurch gewinnt er -- ob nun beabsichtigt oder nicht -- einen methodischen Vorsprung: Stirners Konsequenz der absoluten Normverneinung schlägt in ein Normdasein um bzw. entbehrt der erkenntnismässigen Begründung des Ausstiegs aus allgemeinen Strukturen.

...Nietzsches Differenz zu Stirner... : nur wenn man philosophisch Idealist bleibt [wie Stirner], kann man eine Befreiung aller  zum Egoismus wollen. Die Realität sieht für Nietzsche anders aus: es gab immer Starke und Schwache, und es wird sie immer geben.«

15.03.2000

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Ekkehard von Braunmühl

Was ist antipädagogische Aufklärung ?
Missverständnisse, Missbräuche, Misserfolge der radikalen Erziehungskritik
Bonn: Kid-Verlag 1997

Ekkehard von Braunmühl hat die sog. "Antipädagogik" 1975 durch sein Buch gleichen Titels populär gemacht. Sie wurde (vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident, S. 113-116) von akademischen Pädagogen wie Jürgen Oelkers, Michael Winkler und Rainer Winkel "unter Rekurs auf Stirner - und unter Verwendung psychopathologischer Kategorien" zurückgewiesen. Jetzt greift von Braunmühl, der sich angesichts des ebenfalls als "Antipädagoge" auftretenden Hubertus von Schoenebeck "für meine Arbeit in einer Notwehrsituation" sieht (112), diesem gegenüber zu den gleichen polemischen Mitteln wie seine einstigen Gegner ihm gegenüber. Braunmühl, der sich durchaus schon einmal als "Staatsfeind" oder "Anarchist" zu erkennen gab, versucht, Stirner wie einen "Schwarzen Peter" weiterzugeben.


Braunmühl behauptet, Schoenebeck sei von einer geistigen Krankheit befallen, und schlägt für sie den Namen "Subjektivitis" vor. »Die sprachliche Nähe zu krankhaften Entzündungen ist dabei beabsichtigt. Denn ich fürchte tatsächlich, dass es sich um eine ansteckende, vielleicht sogar unheilbare Denkstörung handelt. Ihr bekanntestes Opfer war m.W. Max Stirner (1806-1856), gelernter Pädagoge wie Dr.v.S., der ihn (ob bewusst oder unbewusst, weiss ich nicht) auf weiten Strecken einfach nacherzählt.« (52)

Braunmühl kommt noch mehrmals auf Stirner zu sprechen, als dessen »Wiedergänger« (105) oder gar »saftlosen Wiedergänger« (69) er seinen Gegner und Konkurrenten Schoenebeck bezeichnet. Beide seien, wenngleich sie die Gefühle vieler Menschen ansprechen, als »Opfer der Subjektivitis« philosophisch unfruchtbar. (70)

20.04.2000

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Robert Kurz

Die Welt als Wille und Design
Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise
Berlin: Edition Tiamat, 1999


S. 31f:

»Mit blossem Auge ist zu erkennen, dass es hier um Reinformen abstrakter Individualität, um das warenförmige Styling kapitalistischer Persönlichkeitsattrappen mit einem ungeheuren Illusionspotential geht, wie es der Individualanarchismus schon im 19. Jahrhundert mit Max Stirners "MIR GEHT NICHTS ÜBER MICH" vorgedacht hat. Aus einer damals bizarren Ideologie, die nur im Randgruppenmilieu einer intellektuellen Bohème gedeihen konnte, hat sich dieser Typus über viele Stationen hinweg ... in der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte weiterentwickelt, bis zu seiner Banalisierung und (relativen) Vermassung in der Postmoderne.«

12.05.2000

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Hans Ebeling

Gut und Böse
Überquerung des Nihilismus jenseits von Nietzsche
Würzburg: Königshausen & Neumann 1995

S. 7:
»Bleibt noch die andere Möglichkeit: deutlichste Rückkehr zum Unterschied des Guten und Bösen, Entwirrung, d. i.: Erinnerung der Zeit statt weiterer Verwirrung der Zeit in der Nihilität. "Nihilismus" meint anhaltend: Preisgabe des Unterschieds von Wahr und Falsch wie vorzüglich Liquidation des Unterschieds von Gut und Böse. Von beidem ist seit längerem genug geschehen: "Lang ist die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre." Nämlich diesseits  von Gut und Böse.«

S. 83:
»Der plebiszitäre oder 'demokratische' Nihilismus hat wenig Erfreuliches übriggelassen. Max Stirner alias Caspar Schmidt (1806-1856), der seine Sache auf Nichts gestellt hat, könnte heute mit Freude wahrnehmen, wie der globalen Tendenz auf Verherrlichung der Ethnizität die individuelle auf Verherrlichung der eigenen Selbstverwirklichung entspricht, nur dass es da kein Selbst gibt, das zu verwirklichen wäre.«


Mitgeteilt von Jakob Voss, Chemnitz

04.08.2000

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Carl-Friedrich Geyer

Stirner, Max
Artikel in: Grosses Werklexikon der Philosophie, hg. v. Franco Volpi. Band 2. Stuttgart: Alfred Kröner 1999. S. 1448-1449
Berlin: Edition Tiamat, 1999


Stirner ist "der eigentliche Inaugurator des modernen Nihilismus" und wird "von der einschlägigen Literatur als der Ahnvater des Anarchismus apostrophiert."
"Das Ansehen seines Hauptwerkes 'Der Einzige und sein Eigentum' war im Ausland stets grösser als in Deutschland."

04.08.2000

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Rüdiger Safranski

Nietzsche
Biographie seines Denkens
München: Hanser-Verlag 2000

S. 122-129:
Kapitel »Mit Max Stirner und über ihn hinaus«
Der Autor übernimmt zunächst aus meinem ZEIT-Artikel über Stirner -- mit Herkunftsangabe und für mich schmeichelhaftem Vertrauen in die dort nicht belegten Ausführungen --, dass namhafte Denker zeitweilig stark von Stirner beeindruckt bzw. beunruhigt waren, ihn aber nicht oder nur an entlegener Stelle erwähnen. Er nennt die Namen Feuerbach, Husserl, Schmitt, Simmel, formuliert etwas vorsichtiger bei Marx und Nietzsche, lässt Habermas weg. Er tritt dann in verschiedene teils detaillierte (zu Nietzsche) teils allgemeinere (Stirner als radikaler "Nominalist" etc.) Erörterungen ein, um schliesslich zu folgendem Ergebnis zu gelangen:

»In einer Hinsicht allerdings wird Nietzsche bei Stirner etwas gänzlich Fremdes und sicherlich auch für ihn Abstossendes wahrgenommen haben. Denn Stirner, so sehr er auch das Schöpferische betont, zeigt sich bei der Hartnäckigkeit, mit der er das Eigentum an sich selbst reklamiert, schliesslich doch als Kleinbürger, dem das Eigentum alles bedeutet, auch wenn es nur das Eigentum an sich selbst ist.«

[Nov. 2000: vgl. a. Kapitel Rüdiger Safranski in: Bernd A. Laska: Den Bann brechen ! - Max Stirner redivivus. Teil 2: Nietzsche und die Nietzscheforschung.]

04.08.2000

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Günter Rohrmoser

Der Ernstfall. Die Krise unserer liberalen Republik
Berlin: Ullstein 1994. 559 S.

S. 423:
»Diese [die heutige, unter der "totalen Herrschaft des Liberalismus" erreichte] Individualisierung und das mit ihr verbundene Freiheitsprinzip sind Ausdruck einer geschichtlichen Entwicklung, die Max Stirner, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, in seinem Buch "Der Einzige und sein Eigentum" charakterisiert hat. Es ist die Tendenz, dass jeder einzelne sich mit seinen Bedürfnissen, seinen Interessen und Ansprüchen selbst zum Absoluten erklärt und jede Beschränkung seines Willens zur Erfüllung der eigenen Ansprüche als eine unerträgliche Einschränkung und Unterdrückung seiner Freiheit versteht. Nietzsche hat diese Tendenz die "atomistische Revolution" genannt, das heisst die Auflösung aller innerlich zusammenhaltenden, Gemeinschaft schaffenden Kräfte.«

Und kurz danach noch einmal:

S. 425:
»Die zunehmend postmodern sich verfassende Gesellschaft ist die Konsequenz eines seit langem andauernden, nun sich beschleunigenden Prozesses der Individualisierung. Die einzig beachtenswerte Substanz in dieser Gesellschaft scheint der einzelne zu sein, der sich in seinem Recht absolut setzt. Das sich absolut setzende Individuum negiert jede es übersteigende objektive Allgemeinheit. Das ist das Zeitalter Max Stirners: Jedes Individuum ist im Verhältnis zu sich selbst das Absolute. Wenn dieser Prozess der Individualisierung und des Hedonismus sich weiter durchsetzt, muss das zwangsläufig zur inneren Auflösung der Gesellschaft führen. Es wird die "atomistische Revolution" (Nietzsche) eintreten. Nietzsche sah, dass aus dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft, aus der Selbstzersetzung und der Dekadenz der bürgerlichen Kultur die atomistische Revolution hervorgehen und die Gesellschaft sich in Anarchie auflösen werde. Die Individuen sind nicht mehr bereit, irgendeine durch die Geschichte gewordene oder vermittelte Autorität anzuerkennen.«


Mitgeteilt von Peter Nasselstein, Hamburg

09.09.2000

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Volker Zotz

Auf den glückseligen Inseln
Buddhismus in der deutschen Kultur
Berlin: Theseus-Verlag 2000

S. 222f:
»Von Anfang an ist das Leiden am Subjektsein, an der Vereinzelung oder Einsamkeit des Ich ein grosses Thema des Buddhismus. Die Erschütterung darüber, dass der Mensch aus einem Geborgensein in Natur und Sippenverbänden heraustrat und sich als Ich einer Welt gegenüberfand, in der er zunehmend auf sich gestellt wirken musste, führte zur Lehre vom Anatman. Die Erklärung des Subjekts als hinfällig, und meditatives Erfahren dieser Hinfälligkeit sollte vom Leid befreien.«
S. 302:
»Die Entthronung Gottes konnte sein Ebenbild, den Menschen, nicht unberührt lassen. [...] Ein früher Versuch der Rettung des Ich vor dem Hintergrund des Atheismus und mit ihm zerbrochener traditioneller Werte stammt von Max Stirner.«
S. 303:
»Nach Stirner steht nun die Erkenntnis an, dass einzig das individuelle Ich, das jeder als solches erfahren kann, als unmittelbare Wahrheit gelten darf.«
S. 304:
»Stirner [...] versuchte bei aller Distanz zum Christentum doch eine der wichtigsten christlich-abendländischen Ideen zu retten, jene der Person. Aber der Versuch, allein durch individuelle Erfahrung an einem Personbegriff festzuhalten, der zuvor metaphysisch untermauert und damit für alle bindend und somit verbindend war, setzte den einzelnen nicht nur absolut, sondern entliess ihn zugleich in die Einsamkeit.«
S. 331:
»[Rudolf Steiners] 'volles Ich' entstammt der Tradition platonischer Ideen einer unsterblichen Seele, der Monadenlehre Leibniz' oder Max Stirners, mit dem Steiner sich intensiv auseinandersetzte. Stirners trotziges Beharren auf dem Ich, das er ohne Gott oder metaphysische Absicherungen quasi als absolute Grösse auf dem Nichts gründen will, und Steiners Zukunftsprogram eines von den Bedingungen der Welt autonomen Ichs verfolgen mit dem Versuch einer Rettung der Subjektivität eine ähnliche Intention. In einer Welt, die von Religionskritik und Wissenschaft zunehmend verobjektiviert wurde, sollte dem Menschen das letzte und einzige gerettet werden, was ihm bleiben konnte, das Gewahrsein seinerselbst als eines Handelnden, Leidenden und Wollenden.«
Mitgeteilt von Peter Nasselstein, Hamburg

24.04.2001

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Jacques Derrida

Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale.
(»Spectres de Marx«, 1993, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann)
Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch-Verlag 1995

ca. S.190-230 über Marx und Stirner:

Derrida beginnt mit der etwas kokett vorgetragenen und gewiss deutungsbedürftigen Versicherung, er wolle erst gar nicht versuchen zu verhehlen,
»...dass wir die Originalität, die Kühnheit und gerade den philosophisch-politischen Ernst Stirners ... durchaus ernst nehmen... « (S. 193)

und wartet gegen Ende seiner ca. 40-seitigen Ausführungen mit einem Satz auf, der wohl als Entschuldigung dafür gemeint ist, dass er als zünftiger Philosophieprofessor sich überhaupt auf Stirner eingelassen hat. Er kenne Stirner, versichert Derrida all denen, die es bei der Lektüre nicht selbst gemerkt haben, wirklich nur aus zweiter Hand:
»Es wäre natürlich eine notwendige und hochinteressante Aufgabe, Stirner über die ... Textauszüge hinaus zu lesen, die die Deutsche Ideologie  aus Der Einzige und sein Eigentum  herausschneidet ...« (S. 225)
Wie aufgrund eines durchgängigen Musters der Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte des Stirner'schen Werks zu erwarten war, hat Derrida diese Aufgabe, die doch wohl vor Abfassung dieses Buches zu erledigen gewesen wäre, nie in Angriff genommen.


29.06.2001

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Harry Mulisch

Die Entdeckung des Himmels
Roman. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt
München: Carl Hanser Verlag 1993 (nl. Orig. 1992), 800 S.

Harry Mulisch (geb. 1927) hatte zu Beginn seiner Karriere eine Monographie über Wilhelm Reich verfasst, in der er seine ambivalente, vorwiegend abschätzige Meinung über Reichs Person und Werk zum Ausdruck brachte (vgl. meine Rezension). Zwei Jahrzehnte später, als mittlerweile international berühmter Romancier, schrieb er o.g. Buch, sein opus magnum,  in dem er sich u.a. über Max Stirner äussert: zwar beiläufig, aber keineswegs marginal; und, erwartungsgemäss, in gleichermassen abschätziger Weise.

Mulisch vermittelt sein Stirner-Bild über die Romanfigur des Wolfgang Delius: 1892 in k.u.k.-Österreich geboren, "hellblaue Augen mit düsterem Hintergrund", "Blick, so kalt wie flüssige Luft", "Germane mit einem Monokel im Auge", Berufsoffizier der berittenen Artillerie im Krieg 1914-18, hochdekoriert, in den 20er Jahren dann "Lehrer an einer Privatschule für höhere Töchter", bald aber wieder obenauf, als "Nazi" -- und ab 1940 im besetzten Holland in hoher Position zuständig für allerlei Schreckliches. Hinzu kommt: Delius hatte 1926 eine 18-jährige Jüdin geheiratet und führte - wen wundert's? - eine "abscheuliche Ehe". Seine Frau verliess ihn 1939 mit dem 6-jährigen Sohn, woraufhin Delius dafür sorgte, dass sie 1942 in ein Lager im Osten deportiert wurde, wo sie umkam. Delius wurde 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet.

Dieser Bilderbuch-Nazi nun war, so will es Mulisch -- ein glühender Verehrer Stirners. Seinen Sohn, 1933, exakt neun Monate nach dem Reichstagsbrand geboren, nannte er Max (eine Hauptfigur des Romans). Das Düstere in seinem Blick habe nicht nur von seinen Kriegserfahrungen hergerührt: "Es steckte eine noch tiefere, grundsätzlichere Niedergeschlagenheit in ihm. In seinem Ranzen hatte er Stirners »Der Einzige und sein Eigentum«." Natürlich litt seine Ehe unter dieser Disposition: "Wenn sie abends ausgehen wollte, vertiefte er sich lieber in Max Stirner. Während sie sich mit ihren gleichaltrigen jüdischen Freunden und Freundinnen amüsierte, las er ... über das Individuum als dem Einzigen und über sein Eigentum. Nach Stirner brauchte sich niemand etwas vorschreiben zu lassen, durch wen oder was auch immer: das einzigartige Ego war souverän bis zum Verbrechen."

Später, im Kriegsverbrechergefängnis, habe Delius stirnerianisch deliriert: "Es gibt nur mich. Was es nicht gibt, das kann nicht sterben", habe er auf einer Zigarettenschachtel notiert. Er sei, "nach Hitlers Untergang ... in einen wirklichen metaphysischen Solipsismus geraten." In seiner Zelle habe er nur ein Buch gehabt, Stirners »Einzigen« (signiert "Wolfgang Delius - Im Felde 1917"), und dies sei auch alles gewesen, was seinem Sohn Max nach der Hinrichtung seines (von ihm natürlich abgrundtief verachteten) Vaters geblieben ist. Max aber ist glücklicherweise immun gegen das tödliche Gedankengift.

Zitate von den Seiten 12-14, 52, 118-120, (282).


Nach einem Hinweis von Arne C. Jansen, Haarlem, Niederlande

10.08.2001

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Vittorio Hösle (und "Nora K.")

Das Café der toten Philosophen.
Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene.
München: Verlag C.H. Beck 1996

S. 207 (Brief Vittorio an Nora,13.10.1995):
[ein fiktives Gespräch mit historischen Philosophen:]
[...]
[George Berkeley:] "...alles Materielle ... existiert nur durch das Bewusstsein."
[Nora:] "Durch welches Bewusstsein? Deines? Sind wir ausserhalb deiner nichts?"
[George Berkeley:] "So weit würde ich nicht gehen..."
[Max Stirner:] "Aber ich! Ich bin der Einzige und ihr seid mein Eigentum!"
[George Berkeley - oder Vittorio Hösle:] "Aber nein, Max, lass' uns bitte in Frieden..."
Doch Max klatschte in die Hände, und da er ziemlich unsympathisch ausschaute, schloss ich die Augen.

S. 210 (Brief von Nora an Vittorio, o.D.)
[...]
Wer war denn eigentlich dieser seltsame Max? Als ich Bettina spasseshalber sagte, sie sei mein Eigentum, sie sei meine Einbildung und in Wirklichkeit gebe es sie gar nicht, meinte sie kurzentschlossen: 'Dann kitzle ich dich, dann wirst du schon merken, dass es mich gibt!'

S. 211 (Brief von Vittorio an Nora, 09.12.1995):
[...]
Bettina hat übrigens recht. Um manchen Philosophen zu widerlegen, genügt es, ihn zu kitzeln -- mehr ist gar nicht nötig.

Im gleichen Brief nennt Hösle, der einst als "Wunderkind" der deutschen akademischen Philosophie gefeiert wurde, den entscheidenden Grund dafür, dass er selbst die Weltauffassung, die er Stirner unterstellt, nicht akzeptieren kann:
"Nur weil wir wissen, dass Gott eine Mehrzahl von Menschen will, weil sich in den Beziehungen zwischen ihnen die Moral vollendet, können wir sicher sein, dass es andere Menschen gibt."


04.10.2001

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upj [Ursula Pia Jauch]

Vogelfrei
Kurzrezension von: Richard Reschika: Philosophische Abenteurer. Elf Profile von der Renaissance bis zur Gegenwart. Tübingen: Mohr Siebeck 2001 (UTB 2269)
In: Neue Zürcher Zeitung, 3./4.11.2001, S. 36

»Nun sind auf der weiten Tundra der Philosophie weitaus mehr als elf Existenzen mit unkonventionellen Lebensläufen aufzutreiben. Dass Reschika just diese Herren versammelt hat -- ... Julien Offray de La Mettrie, Max Stirner ... -- muss wohl nicht als letztes Wort über das abenteuerliche Denken gelten. Auch hätte ein querliegendes Frauenzimmer dem elffältig-herrlichen Albumblatt nicht geschadet. So schräg wie Max Stirner war Helene von Druskowitz wohl allemal.«

[Hervorh. B.A.L.]


siehe auch Jauch über La Mettrie
siehe auch Jauch über Reich

03.11.2001

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Frank Castorf (Intendant der Berliner "Volksbühne")

Der Einzige und sein Offenbarungseid.
Gedanken zur Zeit [sic !]
In: Berliner Zeitung, 24./25.04.2004, S. 4

»Der berühmte Berliner Mädchenschullehrer Max Stirner, kleinbürgerlicher Antipode von Karl Marx, und einer der ersten Ideologen des [heute herrschenden] verschärften Individualanarchismus, musste schon vor 150 Jahren die Kehrseite des Marktegoismus erfahren. [...] Seine Ich-AG [Milchvertrieb] ging in kürzester Zeit pleite... Stirner wurde depressiv und starb als verarmte Fussnote zu Marx und Nietzsche.«

Dass Castorf, wie Hans Günter Helms (»Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«, 1966) und nach ihm viele Andere, in Stirner den heimlichen Ideologen des heutigen Westens sieht, geht noch deutlicher aus einem Text hervor, den er anlässlich seiner Inszenierung eines Stückes nach Frank Norris' Roman »Gier nach Gold« (ab 22. Mai 2004) auf die Netzseite der Volksbühne setzen liess. Darin heisst es eindeutig: Die westliche Demokratie als "Verein von Egoisten" (Stirner) ist nur im gemeinsamen Scheitern erfolgreich" (so auch in dem leicht redigierten Text, der in der »Berliner Zeitung« vom 30.4.&1.5.&2.5.2004 abgedruckt ist).


Mitgeteilt von Peter Töpfer, Berlin

30.04.2004

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Wilhelm Schmid

Nicht Revolution bringt Freiheit, sondern Selbstmächtigkeit
Bis heute ein Unruheherd für das marxistische Denken: Max Stirner und sein Buch »Der Einzige und sein Eigentum«
In: Neues Deutschland. Sozialistische Tageszeitung, 2./3.8.2003, S. 22

Auch dieser Autor, ein "freier Philosoph", der durch moderne Bücher zur "Lebenskunst" hervortrat, sieht in Stirner -- wie Castorf, nur mit anderer Wertung -- einen Philosophen des liberalistischen Individualismus des Westens.

Schon früher (in: Die Zeit, 10.01.2002, S. 47) hatte er, ziemlich kryptisch, geschrieben:
»Das törichte Hohngelächter von Marx und Engels [über Stirner] erstarb erst 1989 auf den Lippen derer, die ihr eigenes Leben reklamierten. Es ist aber eine offene Frage, ob die Welt, die übrig blieb, nicht noch perfidere Methoden kennt, den Menschen ihr Leben aus der Hand zu nehmen.«

Etwas weniger kryptisch heisst es nun:
»Man sollte Stirner die Gerechtigkeit widerfahren lassen anzuerkennen, mit welcher Folgerichtigkeit er die Prämissen der kommunistischen Ideen auf die zwingenden Resultate hochgerechnet hat. Daraus folgt freilich nicht, dass die Alternative, die er vertritt, ebenso zwingend die bessere ist. Allzu leicht konnte er seinerzeit vom "Verbrauch des Lebens" sprechen, in dem der wahre Lebensgenuss liege; dies sollte das Kennzeichen einer neuen Zeit sein, die am Beginn des 21. Jahrhunderts nun auch schon wieder eine alte ist. Die "modernen Tendenzen", die sich damals in Stirners Sicht ankündigten, sind in der Tat zur Epoche des Verbrauchs von Leben, zur Epoche des Konsums geworden.«

[Hervorh. B.A.L.]


06.05.2004

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Georges Minois

Geschichte des Atheismus.
Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, 2000, 740 S.

Der angesehene französische Historiker (geboren 1946, Absolvent der École Normale Supérieure, Spezialist für Religions-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte) behandelt in seinem grossangelegten Werk, das oft mit Fritz Mauthners vierbändiger Atheismusgeschichte (1923) verglichen wird, Stirner in wenigen Zeilen des dreieinhalbseitigen Abschnitts »Der verzweifelte psychologische und individualistische Atheismus von Stirner, Schopenhauer und Hartmann« (S. 561 f). Dort heisst es:

»Dieses düstere, verworrene Jahrhundert [das 19.] hat viele Geister desorientiert, die in einer bereits weitgehend desillusionierten Welt in Verzweiflung geraten sind...
Die Tendenz wird schon von Schleiermacher eingeleitet -- indem er die Religion zu einer rein psychologischen Angelegenheit erklärt...
Ebenso gefährlich ist die Haltung Kierkegaards...
Aber der wahre individualistische Ungläubige ist Max Stirner...
Es gibt weder Gott noch Mensch, es gibt nur Ich, und dieses Ich muss man befreien, indem man alle Transzendenzen und alle Idole verwirft, ebenso die Idee einer Kommunikation mit dem Anderen, der unwiderruflich ausser Reichweite ist. Die Konsequenz ist ein verzweifelter Nihilismus, eine Sackgasse. ... Das Ich kann lediglich dem Schauspiel seiner eigenen Zerstörung beiwohnen.«

(»Die logische Folge des individualistischen Atheismus finden wir bei [Gottfried] Keller, Schopenhauer, [Eduard von] Hartmann: es ist der Wille zur Vernichtung.«)


10.05.2004

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Peter V. Zima

Von Hobbes zu Stirner: Mensch, Naturzustand und Staat.
»Leviathan« und »Der Einzige und sein Eigentum« im Vergleich.
In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 4 (28), 3. November 2004, S. 4-10

Auch dieser Autor, ein Mag. Dr. und O.Univ.Prof. für Komparatistik, sieht in Stirner -- wie z.B. Castorf und Schmid -- einen Philosophen des liberalistischen Individualismus des Westens, aber einen unfreiwilligen, einen, der das selbst gar nicht gemerkt hat.

»Schon Marx und Engels haben auf die Umkehrung der realen Verhältnisse bei Stirner hingewiesen. [...] Marx' und Engels' Kritik an Stirner ... lässt jedoch die Frage offen, weshalb Stirner das Verhältnis von Bürgertum und Staat so falsch einschätzte und sein Heil schliesslich in einem idealistischen Anarchismus suchte... [...] Stirner mag ... übersehen haben, dass der bürgerliche Staat längst zum Hüter des bürgerlichen Individualismus und Egoismus geworden war, den er selbst auf die Spitze treibt, um ihn gegen Bürgertum und Staat zu wenden. Er verkannte den bürgerlich-kapitalistischen Charakter seiner eigenen anarchistischen Revolte.«


10.05.2004

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Winfried Schröder

Moralischer Nihilismus.
Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche.
Stuttgart: Frommann-Holzboog, 2002, 283 S.
(alle Zitate von den S. 49f und 150)

Der angesehene Philosophiehistoriker (Redakteur beim Ritter'schen »Historischen Wörterbuch der Philosophie«) ist zwar der Meinung, dass Stirner allein den
»unverblümten [sic!] moralischen Nihilismus«
vertritt; dennoch behandelt er dessen »dickleibiges Pamphlet« [Der Einzige und sein Eigentum] in seinem Buch über genau dieses Thema nur widerwillig ("wenigstens kurz"). Warum ?
»Nicht nur wegen des völligen Fehlens einer argumentativen Absicherung seines radikalen Egoismus wird Stirner in diesem Band nur am Rande berücksichtigt. Selbst die Hoffnung, dass wenigstens die Aporien seines Standpunktes interessant sein könnten, wird getäuscht.«
Zugleich sagt er:
»Das qualvoll zu lesende Buch ist aber als Artikulation einer Extremposition ... nicht ohne Interesse.«

Schröders widersprüchliche oder ambivalente Haltung zu Stirner zeigt sich auch in folgendem.
Zum einen meint er, in Stirners »rhetorischer Suada«
»kommt immer wieder eine treuherzig-optimistische Anthropologie zum Vorschein. Stirners Vertrauen auf unsere Ausstattung mit menschenfreundlichen Neigungen ist gross.«
Hundert Seiten weiter sieht er Stirner auf der Linie von de Sade:
»Sade meinte, die im Atheismus gipfelnde aufklärerische Traditionskritik führe zur Erhebung des Bösen zur Norm. [...] Auch selbsternannte Erben der Aufklärung haben den Kern dieser Vorstellung ihrem Selbstverständnis einverleibt. So begriff sich Max Stirner als Vollender des von der Aufklärung in Gang gesetzten Projektes der ›Selbstbefreiung‹.«

Vgl. a. Winfried Schröder über La Mettrie.


08.04.2005


Nachtrag 08.12.2005:
Winfried Schröder hat für die Reclam-Ausgabe seines Buches, die soeben erschienen ist, nicht nur, wie er schreibt, "den Anmerkungsapparat gestrafft", sondern, was hier besonders interessiert, auch die Stirner-Passage. Dabei hat er die meisten der oben "aufgespiessten" Stellen getilgt.

Nachfolgend wird der gesamte vom Autor gestrichene Text wiedergegeben. Er ist auf S. 56 in der 10. Textzeile einzusetzen, wo es heisst: "Das Buch Der Einzige und sein Eigentum ist [ ... ] eine Kampfansage..."

Für [ ... ] stand im Original, S. 49f:

... das wortreiche Bekenntnis eines Schriftstellers, der mehr noch als Nietzsche der Wirkung seiner rhetorischen Suada (82)
---------------
(82) Nicht nur wegen des völligen Fehlens einer argumentativen Absicherung seines radikalen Egoismus wird Stirner in diesem Buch nur am Rande berücksichtigt (vgl. allerdings auch unten S. 150). Selbst die Hoffnung, dass wenigstens die Aporien seines Standpunktes interessant sein könnten, wird getäuscht. Die Konfliktträchtigkeit des Egoismus, den Stirner ja allen anempfiehlt, liegt auf der Hand: "Greife zu und nimm, was du brauchst. Damit ist der Krieg Aller gegen Alle erklärt. Ich allein bestimme, was ich haben will." (S. 286 [Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart, Reclam 1972]) Es ist ernüchternd zu sehen, dass Stirner das sich hieraus ergebende Problem mit einer theoretischen Posse lösen zu können glaubt. Die Lösung besteht in dem Rat, die Individuen sollten ihre Interessen durch die Bildung von Zweckverbänden mit gewissen gemeinsamen Zwecken, also durch eine Institution sichern; er nennt sie den "Verein". "Als Einzigen kannst Du Dich bloss im Vereine behaupten" (S. 349). Hier wird wundersamerweise respektiert, was zuvor mit grosser Geste abgeräumt worden war: "Im Vereine, und nur im Vereine, wird das Eigentum anerkannt" (S. 349). Obwohl wir "zueinander nur Eine Beziehung, die der Brauchbarkeit, der Nutzbarkeit", haben und "einander nichts schuldig" (S. 311) und "Recht", "Freiheit", "Menschlichkeit" "nichts als Worte" (S. 390) sind, ist in einem "Verein von Egoisten" (S. 196) Zusammenleben möglich. Interessenkonflikte legen sich, so scheint es, von selbst bei. Neben solchen naiven Versicherungen kommt immer wieder auch eine treuherzig-optimistische Anthropologie zum Vorschein. Stirners Vertrauen auf unsere Ausstattung mit menschenfreundlichen Neigungen ist gross; es spricht für sich und die Qualität seiner Gedankenarbeit: "Soll Ich etwa an der Person des Andern keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen [ ... ] ? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann ich ihm mit Freuden opfern [ ... ]. Es macht ja Meine Lust und Mein Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben" (S. 323f).

statt der Überzeugungskraft von Argumenten vertraute, allerdings nicht über dessen stilistische Potenz verfügte. Das dementsprechend qualvoll zu lesende Buch ist aber als Artikulation einer Extremposition -- "l'individualisme [ ... ] à son sommet" (83) -- nicht ohne Interesse. Es ist tatsächlich ...
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(83) A. Camus: L'homme révolté (1951). Paris 1972, S. 86f (dt. S. 53f)

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Wolfgang Essbach

Stirner, Max
In: RGG4. Religion in Geschichte und Gegenwart.
Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft.
Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage. Band 7: R-S.
Tübingen: Mohr Siebeck 2004, Sp. 1739

Hier ist ausnahmsweise kein Zitat "aufzuspiessen", sondern die schlichte Tatsache der Nennung meines Buches »Ein dauerhafter Dissident« (1996) in einer Liste von vier Titeln Sekundärliteratur über Stirner, die Essbach in diesem kurzen Artikel empfiehlt. Zwei dieser Titel sind aber ohnehin nur Belege speziell für die Beziehung von Anarchismus resp. Existentialismus zu Stirner, so dass Essbach als generelle Literatur zu Stirner hier nur zwei Bücher nennt: sein eigenes, »Gegenzüge« (1982), und mein genanntes.
Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert:
1) ist mein Buch meines Wissens bisher nirgendwo besprochen worden (einzige Ausnahme: kurz im Rahmen einer Sammelrezension der »Stirner-Studien«).
2) stammt das implizite Urteil, das durch diese Auswahl aus mittlerweile zahlreichen Stirner-Büchern gesprochen wurde, von einem der ganz wenigen wirklichen Kenner der Materie (der aber leider keine Rezension geschrieben hat).


10.05.2005

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Andreas Arndt

Neue Unmittelbarkeit.
In: Walter Jaeschke (Hg.): Philosophie und Literatur im Vormärz.
Der Streit um die Romantik (1820-1854).
(Philosophisch-literarische Streitsachen, Band 4).
Hamburg: Verlag Felix Meiner 1995. S. 207-233 (227)

»Nun ist Stirners Hauptwerk, das auf mehreren hundert Seiten in endlosen Tautologien etwas beschwört, was nach Stirner selbst ein Ineffabile ist, hier nur als Symptom von Interesse. Die radikale Inanspruchnahme der aus den Beständen der deutschen idealistischen Philosophie erborgten Unmittelbarkeit für das individuelle Selbst macht überdeutlich, was die Berufung auf Unmittelbarkeit schon immer war: die Willkür subjektiver Reflexion.«


10.01.2006

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Werner Stegmaier

Geist. Hegel, Nietzsche und die Gegenwart
In: Nietzsche-Studien, 26 (1997), S. 300-318 (301)

»Derrida beobachtet [in seinem Buch ›Marx' Gespenster‹] Marx dabei, wie er die "Gespenster" der "deutschen Ideologie" beschwört, insbesondere die "Gespenster" Max Stirners, der seinerseits den Hegelschen Geist zum Gespenst erklärte und ingrimmig verfolgte.«


Stegmaiers Kenntnis und Meinung über Stirner werden deutlicher in dem von ihm herausgegebenen und kommentierten Band VII der Gesammelten Werke des Mathematikers Felix Hausdorff (1868-1942), der unter dem Pseudonym Paul Mongré auch philosophische Schriften veröffentlichte. Auf S. 557 erklärt Stegmaier:

»Solipsismus ... ist das philosophische Streben, das Bewusstsein von der Welt allein als Bewusstsein meiner selbst zu erklären. Der konsequenteste Vertreter des Solipsismus ist Max Stirner. Schopenhauer spricht hier von "theoretischem Egoismus", gesteht zu, dass er "durch Beweise" nicht zu widerlegen sei, verweist ihn als "ernstliche Überzeugung" aber ins "Tollhaus".«


20.06.2006

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Uwe Justus Wenzel

Max Stirners angestrengter Selbstgenuss.
In: Neue Zürcher Zeitung, 25. Oktober 2006

»Heute vor zweihundert Jahren wurde Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner in Bayreuth geboren. Soll man aber eines monomanischen Windbeutels gedenken, dessen "einziges Verdienst" es -- nach Marx -- gewesen sei, "der Ausdruck der deutschen Kleinbürger von heute zu sein, die danach trachten, Bourgeois zu werden"? Man soll nicht, man darf jedoch. Schliesslich hat Stirner noch ein weiteres Verdienst; er hat einer Gedichtzeile von Goethe zum geflügelten Fortleben auch unter Anarchisten und Existenzialisten verholfen: Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt.«


25.10.2006

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Rudolf Burger

"Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt"
In: Die Presse (Wien), 24. Juni 2006

»So radikal war Religionskritik davor nicht und danach nicht mehr...«
»Das Werk markiert den absoluten Nullpunkt [!] der abendländischen Metaphysikkritik.«
»Einen solchen Ton hatte es in der Philosophie bis dahin nicht gegeben, und er wurde auch später nie mehr angeschlagen, auch nicht von Nietzsche... Stirner nimmt Nietzsches Religions- und Moralkritik (nicht nur) weitgehend vorweg, sondern er ist ihm auch an logischer Stringenz und Radikalität des Gedankens bei weitem überlegen.«

Doch schliesslich resümiert Burger:
Stirner habe gezeigt, dass der Mensch »zur gefährlichen Bestie wird ... wenn erst die staatlichen Zwangsinstitutionen zerstört sind.« Deshalb hätten die Anarchisten Distanz zu ihm gehalten. »Der einzige dem Individualanarchisten Stirner in politicis wirklich gewachsene Gesprächspartner wäre Thomas Hobbes gewesen.«


27.10.2006

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Hans G[ünter] Helms

Studiogespräch über Stirner aus Anlass von dessen 200. Geburtstag.
In: Bayern2Radio, 21:30 bis 22:30 Uhr

Helms hat 1966 mit seinem Buch »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft« die sog. zweite Stirner-Renaissance eröffnet. (Vgl. dazu Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit -- Editionsgeschichte von Stirners »Einzigem«) Helms sah seine 600 Seiten umfassende Schrift als eine historisch dringend gebotene Aktualisierung von Marx' Kritik an Stirner: "Die ideologische Lage in der Bundesrepublik Deutschland war der Anlass, ihre gefährliche Entwicklung der Motor dieser Arbeit." (S. 1) Er vertritt darin die These, "dass Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeists sind" (S. 5), der in der BRD fortlebt. Stirners »Der Einzige« und Hitlers »Mein Kampf« seien trotz einiger oberflächlicher Widersprüche "vollkommen miteinander zu vereinbaren", auch wenn Hitler den »Einzigen« nicht gekannt haben mag. (S. 5, 481)

Helms vertrat jetzt, vierzig Jahre später, in obigem Studiogespräch -- in dem er sich als "Universalhistoriker" vorstellen liess -- nach wie vor diese Ansicht, "aktualisierte" sie aber durch die Behauptung, dass heute George W. Bush als mächtigster Exponent des Stirnerianismus anzusehen sei.


27.10.2006

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Martin Meyer

(Feuilleton-Chef Neue Zürcher Zeitung)
Albert Camus. Die Freiheit leben
München, Hanser 2013, S. 125f

Es geht hier um einen... »Nihilismus, der aus der Negation göttlicher Verantwortung für die Schöpfung die Konsequenzen zieht. Auch dies läuft unter dem Banner der Selbstermächtigung und nimmt so vorweg, was danach in eine 'absolute Bejahung des Daseins' mündet. Deren entschiedenste Repräsentanten sind für Camus einerseits Max Stirner, anderseits Friedrich Nietzsche. Lässt man die Skurrilitäten biographischer und gedanklicher Façon beiseite, die Stirner in seiner Dachkammer des ewigen Studenten verfolgten, so bleibt als Summe aus dessen Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum ein radikaler Solipsismus als Anleitung zum einzig 'vernünftigen' Leben. 'Ich hab meine Sach' auf Nichts gestellt.'«


07.11.2013

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Michel Onfray

Im Namen der Freiheit.
Leben und Philosophie des Albert Camus

München: Knaus 2013, S. 387f
(frz. Orig. L'ordre libertaire. La vie philosophique d'Albert Camus. Paris: Flammarion 2012; ins Deutsche übersetzt von Stephanie Singh)

Onfray stellt fest, dass Stirner kein Anarchist sei. »Denn dieser Linkshegelianer, der zum Beweis der eigenen Kraft die ganze Welt zerstören wollte, kümmerte sich überhaupt nicht um das Schicksal der Gesellschaft. [***] Es geht ihm nur um ihn selbst und die eigene Kraft und die Fähigkeit anderen zu schaden! Er behauptet, entscheidend sei nicht das Verbrechen, sondern die List, mit der man der Justiz entkomme. Er rechtfertigt den Inzest, legitimiert Lüge und Wortbruch. Andere sind für ihn nichts. ...
Der Text [des Einzigen] ist von seltener Brutalität und soll das Lieblingsbuch von Lenin und Mussolini gewesen sein. Mit ihm begründete Stirner einen Terrorismus, dem Camus niemals zustimmen würde.«

[***]
Ausgelassen wurde oben Onfrays Aufzählung dessen, was alles von Stirner »in gleicher Weise in den Dreck gezogen [wird]: Polizei Armee, Steuern, Kirche, Christentum, Papst, Staat, Vaterland, Nation, Beamte, Richter, Hierarchien, Gott, Glaube, Priester, Sünde, Religion, Arbeit, Familie, Ehe, Geld, Bildung, Autorität, Gesellschaft, Monogamie, Treue, Pflichten, Freundschaft, Liebe, Erbe, Ehre, das Gute, die Tugend un die Vernunft.«


07.11.2013

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Ernst Jünger

Das Sonderrecht des Nationalismus.
(Erstveröffentlichung in: Arminius, 23. Januar 1927)
Neudruck in: ders.: Politische Publizistik 1919-1933, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz
Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 280-285
Dieses Zitat aus einer bisher nur schwer zugänglichen Quelle wird, obwohl 75 Jahre alt, ausnahmsweise hier "aufgespiesst", weil es als Ergänzung zu meinen Ausführungen über Jüngers Verhältnis zu Stirner in "Katechon" und "Anarch" von einigem Interesse ist. Jünger hat Stirner bis in die 70er Jahre m.W. sonst nirgendwo erwähnt.
S. 283:
»Indem wir das Notwendige wollen, wollen wir unsere besondere Notwendigkeit, unsere besondere Wahrheit und unsere besondere Sittlichkeit. Dieser Wille regiert alles Lebendige, wir wollen ihn nur schärfer und klarer machen, indem wir ihn ausdrücklich anerkennen. Wir wollen alle Widersprüche von vornherein ausschalten, wir wollen vor uns selber ehrlich sein.
[und jetzt fährt Jünger mit einer erstaunlichen Assoziation fort:]
Wir wollen damit nicht die Anarchie im Stirnerschen Sinne, sondern eine höchste Ordnung, die Ordnung, die das Schicksal selbst dem Leben vorgeschrieben hat. Wir setzen nicht unsere Notwendigkeit allein, sondern wir setzen sie in Bezug auf andere Notwendigkeiten.«

[Hervorh. B.A.L.]


23.01.2002

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