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ein paraphilosophisches Projekt
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Erstveröffentlichung in:
Wolfram Beyer [Hg.]: Anarchisten. Zur Aktualität anarchistischer Klassiker. Berlin: OPPO-Verlag 1993. S.9-25


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Bernd A. Laska

Der schwierige Stirner

Die Unperson
Der "Vergessene"
Der Wiederentdeckte
Der Anarchist
Der Popanz
Der "Rechte"
Der Reduzierte
Anmerkungen

Max Stirner, dessen Buch »Der Einzige und sein Eigentum« (1844) ohne substantiellen Verlust als sein Gesamtwerk genommen werden kann, ist heute dem philosophisch und politisch interessierten Publikum weithin bekannt: als "individualistischer Anarchist". Nachschlagewerke führen Stirner (1806-1856) ausserdem als extremen Subjektivisten, Solipsisten, Egoisten. Inhaltlich wird damit in der Regel kaum mehr verbunden als die Aussage des Zitats, das meist zur Charakterisierung seiner Position angeführt wird: "Mir geht nichts über Mich". Das alles weist Stirner weder als originellen noch als bedeutsamen Denker aus. Historisch gilt er denn auch als Randfigur, als einer aus der Schar der "linken" Hegelschüler, als Fussnote zu Marx oder auch zu Nietzsche.

Was also könnte "schwierig" sein an Stirner bzw. dem »Einzigen«? Zunächst einmal muss verwundern, dass ein so abseitiges Buch, das einen als eher trivial angesehenen Gedanken auf mehr als 400 Seiten traktiert, seit 1972 wieder in ungekürzter Fassung und als Taschenbuch ständig auf dem Markt ist. (1) Verwundern muss auch, dass gerade sein Herausgeber, Ahlrich Meyer, dies mit Besorgnis und Missfallen betrachtet: er behauptet raunend, der »Einzige« habe eine böse "Erfolgsgeschichte" gehabt, und diese setze sich auch nach 1945 [sic!] mittels anti-marxistischer und existentialistischer Ideologien fort, "ohne dass das geistige Elend seines Ursprungs zur Kenntnis genommen worden wäre." Es sei also leider so, "dass wir mit Stirner noch nicht am Ende" sind. Meyer hält Stirner als ideologische Gefahr für "aktuell". (2)

Verwundern muss wiederum, dass gleichzeitig ein anderer sachkundiger Kommentator, Alfred Schaefer, der Stirner ebenfalls für einen anti-marxistischen "Existenzphilosophen" hält, diesem eben deshalb Aktualität zubilligt, weil er "heute unser Vorbild sein [könne], wenn wir uns gegen die übermächtigen Verbände und Institutionen zur Wehr setzen." (3) Meyer dämonisiert Stirner (im Anschluss an Hans G. Helms, (4) der im »Einzigen« eine Art Kryptographie der Ideologie sowohl des Faschismus als auch der "anonymen Gesellschaft" der BRD sieht), um ihn dann zu verwünschen. Schaefer reduziert Stirner auf ein "demokratisches" Heldenklischee, um ihn dann zu preisen. Beide ignorieren geflissentlich, dass keiner der wenigen Faschisten resp. Existenzialisten, die sich überhaupt zu Stirner geäussert

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haben, als dessen Anhänger zu bezeichnen wäre. Beide verschweigen, ja leugnen sogar das Spezifikum der Stirner'schen Philosophie, das sie gleichwohl insgeheim so sehr fasziniert, dass sie diesen sonst als antiquiert geltenden Autor neben oder gar vor den vielen moderneren Existenzialisten als aktuell auszeichnen. Beide, Meyer und Schaefer, weichen dem "Schwierigen" aus, das sie im »Einzigen« sehr wohl spürten.

Dieses Ausweichen kennzeichnet allerdings die gesamte bisherige Stirner-Rezeption. Berühmte Denker, von Karl Marx über Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Edmund Husserl bis zu Jürgen Habermas, vermieden, nachdem sie in jungen Jahren durch Stirner tief verunsichert worden waren, eine öffentliche Darlegung der Schwierigkeiten, die sie schliesslich "überwunden" haben. Die trotzdem relativ umfangreiche Sekundärliteratur zu Stirner sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte der Wirkung Stirners, jedenfalls der folgenschweren Wirkung, eine Geschichte des Ausweichens und "Überwindens" ist.

Darin bilden auch die Anarchisten keine Ausnahme. Insbesondere deren allgemein anerkannte "Klassiker", Proudhon, Bakunin, Kropotkin, die ja alle später schrieben als Stirner, spürten in dessen Texten offenbar etwas, das sie als so (ver-)störend, als so unangenehm empfanden, dass sie sich nicht damit auseinandersetzen wollten und es vorzogen, sich gar nicht oder nur in Andeutungen, oberflächlichen Wendungen etc. über Stirner zu äussern (Näheres später). - Auch Meyer und Schaefer, ausgewiesene Sachkenner, sind im übrigen der Ansicht, dass Stirner, den üblichen Einordnungen zum Trotz, nicht zu den "Klassikern des Anarchismus" zu zählen sei.

Auch ich sehe in Stirner keinen Klassiker des historischen Anarchismus, denke jedoch, dass Stirner (potentieller) Klassiker eines überfälligen (Neo-)Anarchismus ist, und nur als solcher auch wirklich aktuell. Die Zeit für einen solchen Stirner'schen (Neo-)Anarchismus dürfte jetzt insofern reif sein, als "Opas Anarchismus" (ob proletarischer oder avantgardistischer Provenienz) und manch andere mächtige "Überwinder" Stirners (Marx, Nietzsche) endlich ihren Zauber verloren haben und wohl kaum eines der heutigen "libertären" Konzepte, die sich wiederum bloss an jeweils modische Ismen anhängen, ernsthaft als Anarchismus auftritt oder auftreten könnte. Die Theorie dieses neuen Anarchismus, dessen Substanz aus dem »Einzigen« (auch in Stirners Augen nur "ein sehr unbeholfener ... Anfang") (5) erst herauszufiltern und zu präparieren wäre, kann ich hier natürlich nicht präsentieren. Jeder Versuch einer vorgreifenden Kurzfassung könnte nur schädlich sein. Hier kann es mir nur darum gehen, zur Motivation für

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spätere inhaltliche Arbeit zunächst einmal plausibel zu machen, dass im »Einzigen« eine Idee stecken muss, die seit hundertfünfzig Jahren in Latenz gehalten wurde. Deshalb möchte ich, trotz des beschränkten Raums, im folgenden versuchen, die Geschichte der Stirner-Rezeption als eine Geschichte des Ausweichens und des "Überwindens" zu skizzieren.

Die Unperson

Es besagt wenig, dass Stirner sich selbst nicht als Anarchist bezeichnete; vielleicht lag sein Grund darin, dass eben dies kurz zuvor bereits ein Mann getan hatte, mit dem er sich im »Einzigen« kritisch auseinandersetzt: Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) (6). Proudhon allerdings ignorierte Stirners Argumente und liess sich auf eine Diskussion nicht ein. - Ein anderer Autor jener Zeit, der, von Stirner attackiert, ebenfalls der Diskussion auswich, war Edgar Bauer (l820-1886), immerhin der Mann, der Gustav Landauer zufolge zeitlich vor Stirner, nämlich 1843, "den Anarchismus für Deutschland eigentlich begründete". (7) - Auch Michail Bakunin (1814-1876), neben Proudhon die andere grosse Gestalt des internationalen Anarchismus des 19. Jahrhunderts, vermied es, obwohl seinerseits stark in der hegelianischen Diskussion engagiert, auch nur ein Wort zu Stirner zu äussern.

Doch nicht nur für Anarchisten warf Stirner offenbar Probleme auf, die sie öffentlich nicht erörtern wollten. Auch der junge Karl Marx (1818-1883), zu Zeiten, als er noch mit Proudhon und Bakunin auf gutem Fusse stand, fühlte sich von Stirners »Einzigem« hart bedrängt; und auch er, der öffentlichen Polemiken sonst nicht auszuweichen pflegte, zog es im Falle Stirner vor, zu schweigen. Erst nach seinem Tode wurde bekannt, dass er damals einen geradezu monströsen Anti-Stirner, dicker als der »Einzige«, verfasst hat -- und unveröffentlicht liess. Als Ergebnis dieser sehr privatim geführten Auseinandersetzung mit Stirner hat Marx sich das Grundmuster seiner Philosophie zurechtgelegt, den "historischen Materialismus", den er dann sein Leben lang "wissenschaftlich" ausgestaltete und damit für Generationen zu einer attraktiven Weltanschauung machte. (Marx' leidenschaftliche Stirner-Polemik »Sankt Max« wurde 1903 in Auszügen und 1932 in voller Länge publiziert. Marx-Forscher jeder Couleur haben sie in seltener Einmütigkeit bagatellisiert, meist sogar ignoriert, und damit Marx' geistiges Ausweichmanöver sekundär nachvollzogen. (8)

Die zeitgenössische Diskussion um Stirners »Einzigen« blieb, da sich ihr so wichtige Köpfe wie Proudhon, Bauer, Marx und Bakunin verweigerten, oberflächlich. Stirner selbst monierte dies,

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freilich folgenlos, in einer Replik. (9) Bereits im Jahre 1847, noch deutlich vor der Zäsur des Jahres 1848, war es still um den »Einzigen«. Und Stirner war offensichtlich zur Unperson geworden: "man" wusste Bescheid und redete nicht oder allenfalls in Andeutungen über ihn bzw. sein berüchtigtes Buch. Der gewiefte Taktiker Marx hat gewusst, warum er »Sankt Max« in der Schublade liess. (10)

Der "Vergessene"

Die Zäsur, die durch die Ereignisse des Jahres 1848 entstand, betraf natürlich nicht nur das politische Leben, sondern auch das geistige. Die Fragen, die die jungdeutschen Dichter und die linkshegelianischen Philosophen des Vormärz so leidenschaftlich beschäftigt hatten, wurden jetzt von vielen rasch "vergessen". Einst radikale Intellektuelle wurden, von dem Ausgang der Revolution enttäuscht, zu Renegaten, Leisetretern, Pessimisten, Realpolitikern. Andere, meist Emigranten, knüpften ihre Hoffnungen (weiterhin) an die aufkommende Arbeiterbewegung. In der Philosophie kam die Zeit Schopenhauers, des Positivismus und des "Zurück zu Kant". Die schon vor 1848 erstickte Diskussion um Stirner, der 1856 starb, konnte in diesem Klima nicht aufleben. In den folgenden vier Jahrzehnten schwelte »Der Einzige« im literarischen Untergrund und wurde nur sehr selten von einigen Aussenseitern erwähnt.

Georg Friedrich Daumer (1800-1875), in den 1840er Jahren ein u.a. von Marx sehr geschätzter, äusserst scharfer Kritiker der biblischen Religionen, exponierte 1864 Stirners »Einzigen« warnend als logische Konsequenz aufklärerischer Gottlosigkeit, als "Krone und Abschluss" des von den Linkshegelianern veranstalteten (wie er sich nun ausdrückte:) "altadamischen Selbstbejahungs- und Selbstenthüllungsprozesses". (11) - Friedrich Albert Lange (1828-1875) erwähnt in seiner »Geschichte des Materialismus« Stirners "berüchtigtes Werk" als "das extremste [Buch], das wir überhaupt kennen", und wandte sich dann umgehend einem anderen Thema zu. (12) - Eduard von Hartmann (1842-1906) stand als junger Mann kurze Zeit "auf Stirners Standpunkt" und entwickelte dann seine »Philosophie des Unbewussten« (1869), von der er sagt, sie allein sei in der Lage, diesen Standpunkt wirklich zu überwinden. (13) Da er in seinem Buch, einem philosophischen Bestseller (10 Auflagen bis 1890), Stirner nur auf drei von fast 700 Seiten behandelt, fiel dieser wesentliche Aspekt des Werkes tatsächlich nur einigen "Kundigen" auf, während die Masse der "schlafenden Hunde" erst gar nicht geweckt wurde. Ein solcher Kundiger war der junge Friedrich Nietzsche (1844-1900), wie seine zweite

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»Unzeitgemässe Betrachtung« (1874) zeigt. Nietzsche lieferte hier eine massive Hartmann-Kritik, die sich auf nur dreissig Seiten des dicken Buches konzentriert, aber eben auf jene, die auch die Stirner-Stellen enthalten; er vermied es indes geradezu auffällig, Stirner auch nur zu nennen. Hartmann verstand und schwieg dazu bis zu Nietzsches sog. Zusammenbruch. (14) Angesichts dieser und anderer Eiertänze fragte zumindest ein zeitgenössischer Autor, Robert Otto Anhuth, in wohl gespielter Arglosigkeit, warum man denn eigentlich diesen Stirner derart "sekretiere". (15) Er bekam, natürlich, keine Antwort und schwieg fürderhin auch selbst. -- Nietzsche übrigens erwähnte Stirner auch in seinen späteren Schriften nicht, er schwieg über ihn im privaten Verkehr ebenso wie in all seinen überkommenen Entwürfen, Fragmenten und Notizen. Um so gewichtiger sind deshalb die wenigen dennoch aufgefundenen Beweise und Indizien, die seine Kenntnis des »Einzigen« klar belegen. [2003: Vgl. dazu Nietzsches initiale Krise] (Den zahllosen Nietzsche-Forschern jeglicher Richtung sagten sie allerdings bisher wenig: die meisten ignorierten sie, aber auch Autoren, die Nietzsches Stirner-Kenntnis ohne weiteres annahmen, taten dies nur en passant  und wussten philosophisch nichts damit anzufangen; der "Grosse Verdacht", der Nietzsches Denken antrieb, ist ihre Sache nicht, schon gar nicht gegenüber Nietzsche.)

Der Wiederentdeckte

Nachdem der »Einzige« einige Jahrzehnte lang im geistigen Untergrund eine leise, jedoch in ihren Folgen (v.a. Marx, Nietzsche) kaum zu überschätzende Wirksamkeit gehabt hatte, machte der gewandelte Zeitgeist (Einflüsse der französischen und russischen Literatur, vor allem auch Ibsens) sein langsames Vordringen in die Öffentlichkeit möglich. Stirners Wiederentdeckung bereitete sich um 1880 vor, in einem intellektuellen Milieu, in dem überhaupt der Radikalismus des "Vormärz" wieder aufzuleben begann. Die jungen, wilden und rebellischen "Realisten" oder "Naturalisten" um Julius und Heinrich Hart knüpften ausdrücklich an die jungdeutschen Dichter und die linkshegelianischen Philosophen der Zeit vor 1848 an. So kam es, dass 1882 im Verlag von Otto Wigand Nachf., gleichzeitig mit der ersten wichtigeren Publikation dieser neuen Richtung, dem 1. Heft »Kritische Waffengänge« der Brüder Hart, auch die erste Neuauflage von Stirners »Einzigem« erschien. Wer sie angeregt hatte, war bisher nicht zu ermitteln. Die radikalen Literaten jedenfalls, die der Verleger als Adressaten im Sinn gehabt haben mochte, schwiegen zu ihr. Die Wiedergeburt des »Einzigen« war eine schwierige und verdient deshalb hier eine etwas genauere Betrachtung (Anm. 1998: vgl. Bernd A. Laska: Ein heimlicher Hit. 1994.)

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In literaturgeschichtlichen Darstellungen werden als die radikalsten jener rebellischen Dichter oft Hermann Conradi und John Henry Mackay genannt. -- Für Conradi (1862-1890) ist überliefert, dass er den »Einzigen« gleich nach Erscheinen der Neuauflage gelesen hat. Dies ist jedoch nur durch das eher zufällige Zeugnis eines Freundes verbürgt. Conradi selbst mied, nicht nur in seinen publizierten Schriften, sondern auch in seiner privaten Korrespondenz, in der er Freunden u.a. über seine Lektüreerlebnisse berichtete, geradezu auffällig den Namen Stirner, so z.B., wo er von den "grossen Ideen der grössten deutschen Dichter und Denker" spricht und letztere dann wie folgt aufzählt: "Feuerbach, Strauss, Bauer, und wie sie alle heissen [sic!], die heute fast vergessen sind". (16) -- Mackay (1864-1933), in Schottland geboren, aber (seit 1866) in Deutschland aufgewachsen, war in den frühen 80er Jahren mit Conradi eng befreundet, im übrigen aber, anders als Conradi, auch unter jenen Aussenseitern ein Aussenseiter. "Es waren alles Genies", schrieb er später mit bitterem Hohn. "Ich fühlte mich nicht zugehörig und ging nach London." (17) Davor lag, im Jahre 1885, der Bruch mit Conradi, bei dem beider Einstellung zu Stirner die entscheidende Rolle gespielt haben könnte. Conradi hatte nämlich damals, als einer der ersten in Deutschland, Nietzsche für sich entdeckt -- als den willkommenen Überwinder Stirners, als der er bald auch allgemein angesehen wurde. Wenn Conradi daraufhin einige subtile Gehässigkeiten über Mackay, seinen "Busenfreund a.D.", publizierte; wenn er Mackay nun einerseits als herzensguten Mann hinstellte, der aber -- leider -- als Dichter mangels "natürlicher Grösse" erfolglos bleiben werde; wenn er Mackay andererseits belächelte, weil dieser noch "mit allerhand radikalen Anschauungen liebäugelt"; (18) dann ist unschwer zu erkennen, dass Mackay dadurch, dass er den "Reifeprozess" von Stirner zu Nietzsche nicht mitgemacht hat, noch ein Stachel in Conradis intellektuellem Gewissen war. Doch die schnell einsetzende breite Nietzsche-Begeisterung machte es Conradi zunächst leicht, Mackay zu vergessen: über Stirner hatte er sich nur mit engsten Freunden auszutauschen gewagt; zu Nietzsche konnte er sich endlich öffentlich bekennen ("Wir Jünger Nietzsches!"). (19) Conradi starb 1890 einen camouflierten Freitod.

Mackay indes hatte zu jener Zeit ebenfalls noch kein öffentliches Wort über Stirner verlauten lassen. Nach dem Bruch mit Conradi und dem Empfinden, mit den naturalistischen Literaten überhauptwenig gemein zu haben, ging Mackay im Frühjahr 1887 nach London. Er verbrachte ein Jahr im Milieu der exilierten Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Auch dort fühlte er sich letztlich "nicht zugehörig" und schloss sich keiner Gruppe auf

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Dauer an; er sammelte jedoch den Erfahrungsstoff, der in sein späteres Buch »Die Anarchisten« einging. Als Mackay aus London zurückkehrte, liess er zunächst anonym einen Gedichtband »Sturm« (1888) erscheinen. Das sozialrevolutionäre Pathos seiner Verse machte ihn für viele schnell zum gefeierten "Sänger der Anarchie". Mackays Bekanntschaft mit Stirner ist diesem Band jedoch noch nicht eindeutig anzusehen.

Erst die zweite, vermehrte Auflage des schnell vergriffenen »Sturm«, die 1890 nicht mehr anonym erschien, ist sozusagen Mackays coming-out  als Stirnerianer. Sie enthält gleich zu Beginn ein hymnisches Gedicht »An Max Stirner«, und in einem weiteren, neuen Gedicht, »Die Selbstfindung«, heisst es stirnerisch: "Und langsam fand ich mich. Ein Jahr zerrann / In letzten Kämpfen, bis ich mich gewann." Das Gedicht ist datiert mit "Frühjahr 1889". Mackays Jahr der letzten Kämpfe, denen offenbar andere vorangegangen waren, war somit die Zeit von seiner Rückkehr aus London bis zu seiner ersten öffentlichen Erwähnung Stirners. Am 13. April 1889 liess Mackay im »Magazin für Literatur« einen »Aufruf!« abdrucken, durch den er Kontakt zu Leuten suchte, die Stirner noch gekannt bzw. das erste Erscheinen des »Einzigen« noch miterlebt hatten; denn er hatte beschlossen, Stirners Biograph zu werden.

Mackays eigene Darstellung seines Weges zu Stirner, nachzulesen im ersten Kapitel seiner 1898 erstmals erschienenen Stirner-Biographie, sieht freilich anders aus als die hier gegebene. Er sei, erklärt er dort, auf den Namen Stirner im Sommer 1887 gestossen, als er im Lesesaal des Britischen Museums in London Langes »Geschichte des Materialismus« (s.o.) studierte; vorher und auch im Verlaufe des folgenden Jahres, das verstrich, bis er schliesslich zur Lektüre des »Einzigen« kam, sei ihm der Name Stirner nicht mehr begegnet. Damit wollte Mackay offenbar seinen Anspruch unterstreichen, der alleinige Entdecker Stirners zu sein. Aus diesem Grunde schwieg er auch zur 2. Auflage des »Einzigen« von 1882, deren Veranlassung er kannte oder leicht hätte ermitteln können. In Mackays Version seines Weges zu Stirner spielt Conradi ebensowenig eine Rolle wie etwaige andere naturalistische Literaten. Sie kann heute als Legende angesehen werden.

Mackay hatte naheliegende Gründe, diese Legende zu erfinden. Er schien zudem nicht zu befürchten, dass sie damals (nach 1898) Widerspruch erführe. Conradi (der im übrigen ja schon früher über Stirner geschwiegen hatte) war bei Erscheinen des Buches tot, und von eventuellen Dritten oder "Mitwissern", falls es solche überhaupt gab, war kaum Widerspruch zu erwarten. Denn die Rekonstruktion der "wahren Geschichte" der Stirner-

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Rezeption der achtziger Jahre wäre ja die Redramatisierung einer privaten, heimlichen Angelegenheit gewesen, die jene, die an ihr teilhatten, Mackay ausgenommen, inzwischen nach Art Conradis oder sonstwie für sich längst entdramatisiert hatten. -- Diese klandestine und dann verdrängte und damit versunkene Stirner-Rezeption hinterliess natürlich wenig offenkundige Spuren und harrt noch der philologischen Bergung. Dass sie keine Chimäre ist, bezeugt u.a. der Dichter Georg Keben (geb. 1859). Er berichtet auch, allerdings aus etwas abgeklärter Sicht, über die Gefühle, die er als junger Mann bei der Konfrontation mit Stirner hatte. Als er, etwa gleichzeitig mit Conradi und Mackay, erstmals Stirners neuerschienenem Buch begegnet sei, da "forderte der Zynismus des 'Einzigen' meine ganze jugendfrische Entrüstung heraus." Er habe sich von Stirner "im Innersten ergriffen" gefühlt. Stirner habe ihm viele Illusionen zerstört; inzwischen wisse er aber: "Stirners radikaler Individualismus enthält [nicht mehr als] die logische Begründung der bestehenden Zustände!" (20) Anderen geriet die Bewältigung Stirners nicht so glatt; sie äusserten sich denn auch weniger deutlich.

Mackay war der erste Stirnerianer und stand als solcher zunächst für viele Jahre allein. Das zeugt, angesichts der Art und Weise, wie viele andere, darunter die erwähnten säkularen Geister, vor und nach ihm auf Stirner reagierten, von einer erstaunlichen Courage, von seltener Eigenständigkeit, Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit -- die Mackay auch sonst in seinem Leben oft bewiesen hat. Wenngleich Mackays Stirner-Interpretation ("gleiche Freiheit Aller") (21) eine liberalistische Banalisierung ist, so steht ihr doch seine tiefe Intuition zur Seite, die ihn von der Singularität und potentiellen Bedeutung des Stirner'schen Werks überzeugt sein liess. Aus ihr schöpfte er denn auch die Kraft für sein lebenslanges Wirken für dieses Werk. Aber es gab seinerzeit, was Mackay nicht gelten lassen wollte, noch andere Personen, die die Wiederentdeckung Stirners befördert haben.

Diese Wiederentdecker verfolgten allerdings gänzlich andere Absichten als Mackay. Der erste, Friedrich Engels (1820-1895), trat 1886 mit der Behauptung hervor, der eigentliche "Prophet des heutigen Anarchismus" sei -- Stirner; Bakunin sei nur dessen Epigone, habe "sehr viel aus ihm genommen". (22) Engels war also der Ansicht, dass er die Intimfeinde seiner Partei, die Anarchisten, kompromittieren konnte, wenn er ihnen Stirner als Stammvater unterschob. Die Reaktion der Anarchisten -- betretenes Schweigen -- gab ihm Recht, so dass daraufhin weitere führende Vertreter der Marx-Partei, wie Eduard Bernstein und Georgi Plechanow, nach dem gleichen Muster polemisierten. -- Der zweite Stirnerentdecker

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dieser Art war der schon genannte Eduard von Hartmann, ein damals vielgelesener und einflussreicher Philosoph, der die optimistisch-idealistischen Anhänger Feuerbachs, vor allem aber die gewaltig zunehmende Menge der Verehrer Nietzsches als seine Gegner ansah. Hartmann bemühte sich deshalb, zweierlei zu propagieren: erstens, dass "Feuerbachs Anthropologismus und sein auf diesen gestütztes Humanitätsideal durch Max Stirner für ewig ad absurdum  geführt" worden sei; (23) und zweitens, dass das Faszinosum »Nietzsches 'neue Moral'« im Ergebnis "keineswegs etwas Neues [sei], sondern von Max Stirner ... schon im Jahre 1845 ... in meisterhafter Form mit einer nichts zu wünschen übrig lassenden Deutlichkeit und Offenheit dargelegt worden [war]." (24) Dahinter steht natürlich die Behauptung, dass die (fraglos als notwendig einzusehende) philosophische Überwindung Stirners -- und damit zugleich Feuerbachs und Nietzsches -- durch Hartmann bereits geleistet worden sei (s.o.).

Diese beiden polemischen Muster -- der Gegner sei im Grunde Stirnerianer oder die wahre Konsequenz der Position des Gegners sei bereits durch Stirner entwickelt worden -- haben später immer wieder Nachahmer gefunden. Vorbedingung dafür war natürlich der die Kontrahenten verbindende, stillschweigende Konsens darüber, dass Stirners Position, bei aller Kühnheit, Stringenz etc. die ihr oft konzediert wurde, aus Gründen, die nicht näher erläutert zu werden brauchen, also quasi axiomatisch, für jeden Anständigen, Zivilisierten, Vernünftigen, Wohlmeinenden etc. gänzlich inakzeptabel sei.

Der Anarchist

Engels also war es gewesen, der damit begonnen hatte, Stirner den Anarchisten zuzuschieben. Aber es waren nicht nur Vertreter seiner Partei, die seinem Beispiel folgten. So versuchte etwa 1888 ein Autor, den erwähnten Angriff Hartmanns auf Feuerbach dadurch abzuwehren, dass er die "Lichtgestalt des edlen, von reinster Menschlichkeit durchdrungenen" Feuerbach der "wüsten, zerfahrenen, haltlosen Erscheinung" Stirners gegenüberstellte. Dieser sei, o Schreck, "der blut- und brandatmende Anarchist ... ein Most im Philosophengewande!" (25) - In dieser Zeit, um 1890, spätestens mit dem Erscheinen einer Reclam-Ausgabe des »Einzigen« Anfang 1893, war das Tabu, das jahrzehntelang eine öffentliche Diskussion Stirners unterdrückt hatte, aus verschiedenen, teilweise oben genannten äusseren Gründen endgültig zersetzt. Doch typischerweise betrieb man keine, nicht einmal eine scheinhafte "Vergangenheitsbewältigung", fragte nicht nach den Gründen des Tabus und diskutierte Stirner jetzt in grosser Breite,

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allerdings den zum "radikalen Individualisten" banalisierten Stirner -- sozusagen unter dem Patronat Nietzsches, der als mindestens ebenso radikal galt, nur eben viel, viel kulturvoller. Es erschienen also zwar über Jahre hinweg, im "Stirnerjahr" 1906 noch einmal kulminierend, zahlreiche Artikel, Bücher, Dissertationen über Stirner; aber sie alle blieben letztlich ''im Rahmen", besser: sie rührten nicht an jenen fast numinos anmutenden Komplex, der bis heute so viele Geister, darunter einige der grössten, meist in ihren jungen Jahren und nur kurzzeitig, in jenen Bann gezogen hat, über den sie später keinen näheren Aufschluss mehr gaben. (Anm. 1998: vgl. Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 1996.)

Um die Jahrhundertwende erfolgte auch die dauerhafte, "wissenschaftliche" Klassifizierung Stirners als Anarchist, und zwar hauptsächlich durch seine Aufnahme in weit verbreitete und in die wichtigsten Sprachen übersetzte Monographien über den Anarchismus, die nicht-anarchistische Autoren wie Ernst Viktor Zenker (1895), Paul Eltzbacher (1900) oder Ettore Zoccoli (1907, dt. l909) verfasst haben. Dass diese Autoren Juristen, waren, war kein Zufall, denn in jenen Jahren befassten sich, bewogen durch eine Serie von Attentaten, die als "Propaganda der Tat" für den Anarchismus ausgegeben wurden, viele akademische Staatsdenker und Rechtsphilosophen mit dem Anarchismus auch als theoretische Herausforderung. Einige von ihnen, so der prominente Neukantianer Rudolf Stammler (1856-1938), sahen in Stirner den konsequentesten Vertreter der Idee des Anarchismus. Stammler interpretiert Stirners Anarchismus allerdings so, dass er ihn, was nicht überrascht, als zwar theoretisch hochinteressant, aber als nicht menschengemäss und impraktikabel verwerfen kann.

Der Popanz

Die Anarchisten reagierten auf solche "bürgerlichen" Erörterungen ebenso verhalten wie auf die Unterschiebungsversuche der Marxisten. Sie spürten wenig Neigung, sich von aussen einen solchen "Klassiker" aufdrängen zu lassen, setzten sich aber auch nicht deutlich zur Wehr. Obwohl ein Kenner der Szene wie Rudolf Rocker sichtlich verärgert und deshalb in übertriebener Weise behauptete, Stirners Buch sei vielen Anarchisten "zu einer neuen Offenbarung, zu einer Art letzten Wahrheit ... zu einer neuen Bibel" geworden, (26) waren öffentliche Äusserungen zu Stirner aus ihren Reihen eher selten. Gelegentlich trugen sie unverkennbare Züge von Ambivalenz, so etwa ein Gedenkartikel eines anonymen Verfassers aus dem "Stirnerjahr" 1906. Er hebt an: "Einem, der immer ein von Vielen Unverstandener, ein Missverstandener bleiben wird, seien zu seinem Todestage diese Zeilen gewidmet." Etwas später: "Uns kommunistischen Anarchisten steht das Buch

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(der »Einzige«) durchaus fern, ja es ist unseren Gegnern ein reichhaltiges Waffenarsenal." [sic!] Denn: "Stirners Egoismus ist die vollkommenste Verneinung aller gegenseitigen Hilfe" [Kropotkin]. 'Schliesslich aber doch: "Stirner war ein Freier, ein Unbeeinflusster, ein Stürmer und Revolutionär ... ein Vorkämpfer des Anarchismus. Und da geziemt es uns, zu seinem Todestag ehrend seiner zu gedenken." (27) Allgemeiner war jedoch entschiedene Abwehr, wie sie vor allem durch Schweigen, gelegentlich auch artikuliert, wie in folgendem Diktum, zum Ausdruck kam: Stirner besteche zwar durch "eindringliche und überzeugende Dialektik" heisst es dort, und Nietzsche blende durch "erhabene, poetische Sprachgewalt." "Und doch dürfen und können beide nicht recht haben." (28) -- Max Nettlau, der anarchistische Historiker des Anarchismus, resümiert 1925 in ebenso vagen wie vorsichtigen Worten: "Max Stirner war nie vergessen, wurde aber meist missverstanden, zu seiner Zeit und seitdem." (29) Auch Nettlau wagte sich nicht an die Frage, warum Stirner für die meisten Anarchisten ein Popanz war.

Schon Proudhon und Bakunin hatten zu Stirner geschwiegen. Und auch Petr Kropotkin (1842-1921), der dritte grosse massgebliche und um die Jahrhundertwende lebende anarchistische Theoretiker, vermied trotz "Stirner-Welle" lange Zeit, fast zwei Jahrzehnte, zum "Anarchisten" Stirner Stellung zu nehmen. Erst sehr verspätet erwähnte er ihn, gezwungenermassen und gewollt beiläufig, in verschiedenen allgemeinen Artikeln über Anarchismus, so in dem Beitrag, den er 1910 für die 11. Ausgabe der Encyclopedia Britannica  verfasste. Er meint dort, Stirner habe jenen gewöhnlichen Individvalismus propagiert, der im Namen der Kultur Privilegien zur "Persönlichkeitsentwicklung" für eine Möchtegern-Elite fordere. Stirner finde deshalb Anklang nur in begrenzten Künstler- und Literatenkreisen, aber nicht bei Anarchisten. Solche Privilegien, führt er andernorts aus, könne zudem nur ein (Zwangs-)staat sichern. Stirners wütende Staatsschelte sei deshalb so unseriös wie die der Manchesterleute. Ein gewolltes Missverständnis? Wer Kropotkins letztes und unvollendet gebliebenes Werk, seine »Ethik«, aufmerksam liest, kann sich dieser Vermutung kaum entziehen; denn der gebildete und feinsinnige Autor scheint hier im Begriff gewesen zu sein, seine groben und forcierten Missdeutungen Stirners zu revidieren. Jedenfalls ist er mit der »Ethik« gerade dort stecken geblieben, wo Stirner'sche Gedanken gerade für einen konsequenten Anarchisten unausweichlich sind.

Auch "unorthodoxe" Anarchisten, wie Eugen Dühring, Moritz von Egidy, Benedikt Friedlaender, Fritz Brupbacher und Gustav Landauer (zu ihm später) hielten deutliche Distanz zu Stirner.

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Dühring (1833-1921) beispielsweise, der "Antikrat", der gern und heftig gegen die "Anarchlerei" aller Anarchistenfraktionen z.T. mit Stirner'schen Argumenten polemisierte, diskutiert Stirner in seinen zahlreichen Schriften nirgends. Als Zenker (s.o.) jedoch seine Lehre als mit der Stirner'schen wesensgleich bezeichnete, empfand Dühring dies sofort so, wie es gemeint war, als Diffamierung, nahm aber, trotz seiner sonstigen Streitlust, nicht selbst Stellung, sondern liess in der Zeitschrift seines "Socialitären Bundes" argumentationslos kontern: "Solches albernes Geschreibsel ... verdient keine Widerlegung." (30)

Der "Rechte"

Der "wissenschaftliche" Anarchist Kropotkin versuchte, sich Stirners zu erwehren, indem er ihn dorthin verbannte, wohin die "wissenschaftlichen" Sozialisten bereits den Anarchismus mitsamt Stirner verbannt hatten: zu den gelegentlich "wild" werdenden, aber nichtrevolutionären "Kleinbürgern", nach "rechts" also. Hinzu kam, dass einige eher "rechte" Autoren natürlich keine Skrupel hatten, Stirner als denjenigen zu belobigen, der das aufklärerische, kritische, freiheitliche, atheistische, genuin "linke" Denken mit grossartiger Konsequenz zu seinem logischen Ende gebracht habe. Das Zwielicht, in das Stirner durch solche Urteile geriet, und die Gewohnheit, bloss in parteipolitischen Kategorien zu denken, mögen dazu beigetragen haben, dass das Stirner-Bild immer verwirrender wurde. Ein Autor, der an der komplexen Rezeptionsgeschichte des »Einzigen« gänzlich irre wurde, Hans G. Helms (geb. 1932), hat mit einem riesigen Aufwand (600 Seiten) versucht, Stirner als "rechten" Erzideologen zu präsentieren. (31) Er bietet eine unglaubliche Pseudo-Akribie auf, um seine These zu untermauern, "dass Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeists sind", und dass "ein Kontinuum der faschistischen Ideologie" bis in die Gegenwart der BRD besteht. Obwohl das manische Buch fast nur als Dokument eines verzweifelten marxistisch-antifaschistischen Fanatismus gelten kann, und auch das gewaltige Textaufgebot seine abstruse These natürlich nicht belegt, diskreditierte es seinen Autor kaum. (32) Gleichwohl: Es gibt keinen "rechten" Denker, der von Stirner spezifisch und positiv, also anders als etwa auch Marx, beeinflusst worden wäre, keinen, der ernstlich als Stirnerianer zu bezeichnen wäre. (33) Es fällt im Gegenteil erwartungsgemäss leicht, deutliche Worte gegen Stirner auch von "rechts" zu finden. Sogar der derzeit vielleicht prononcierteste Vertreter eines "rechten Anarchismus", Michel-Georges Micberth, weist den -- natürlich, wie gehabt, nur zu pole-

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mischen Zwecken -- gegen ihn erhobenen Verdacht, Anhänger Stirners zu sein, mit Entschiedenheit zurück. (34) (Anm. 1998: vgl. Bernd A. Laska: "Katechon" und "Anarch". Carl Schmitts und Ernst Jüngers Reaktionen auf Max Stirner. 1997)

Der Reduzierte

Es gab natürlich -- neben der bisher geschilderten, alle weltanschaulichen Lager umfassenden Ablehnung Stirners -- auch ausdrückliche Anhänger Stirners, allerdings nur sehr wenige. Der erste und dauerhafteste war der schon genannte John Henry Mackay (1864-1933). Er führte für seine Spielart von Anarchismus die Bezeichnung "individualistischer Anarchismus" ein, einen Pleonasmus, den er bewusst und notgedrungen gewählt hat, da die Bezeichnung "Anarchismus" schon von bestimmten Fraktionen der sozialen Bewegung besetzt war, die nach Mackay kollektivistisch bzw. kommunistisch und damit nicht wirklich anarchistisch orientiert waren. -- Mackays Verdienste als Stirnerianer liegen hauptsächlich in der Erhellung der Biographie Stirners. Seine angebliche Weiterentwicklung und Vollendung der Lehre Stirners (Stichwort: "gleiche Freiheit Aller") ist, wie erwähnt, in Wahrheit eine Banalisierung, eine Reduktion auf eine radikale Spielart des Liberalismus.

Der zweite "individualistische Anarchist" war Rudolf Steiner; (1861 - 1925), der in den 90er Jahren Mackay sehr nahe stand. Steiner hatte 1893 seine »Philosophie der Freiheit« veröffentlicht und meinte damals, "die Übereinstimmung meiner Ansichten mit den Stirner'schen ausführlich zeigen" zu können. (35) Er schrieb in den folgenden Jahren einige apologetische Beiträge zu Stirner und Mackay, bekannte sich auch öffentlich als "individualistischer Anarchist" -- bis er offenbar in eine tiefe geistige Krise geriet und, wie er sich später ausdrückte, "mit dem rein ethischen Individualismus in eine Art Abgrund gerissen" wurde. Steiner wandte sich nach 1900 der "Theosophie" zu und begründete bald darauf seine "Anthroposophie", für die er schnell das Gehör fand, das ihm für seine »Philosophie der Freiheit« versagt geblieben war. Die "schöne Freundschaft" mit Mackay fiel diesem Prozess freilich zum Opfer. (36) Die sonst recht akribische anthroposophische Literatur übrigens vermeidet es geflissentlich, die Stirner-Mackay-Periode und vor allem jenen "Abgrund" im Leben Steiners näher auszuleuchten.

Auf die weitere Geschichte des Stirnerianismus, in der neben Mackay noch Anselm Ruest, Gerhard Lehmann, Rolf Engert, Hans Sveistrup und einige wenige andere zu nennen wären, kann hier nicht näher eingegangen werden. Interessant ist jedoch noch ein Blick auf einen Mann, der, obwohl prominent, stets ein Aussenseiter der anarchistischen Bewegung geblieben ist: Gustav

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Landauer (1870-1919). Landauer las den »Einzigen« Mitte 1892. Dass auch er damals spontan von Stirner stark beeindruckt war, zeigt sich (typischerweise) in seinen Publikationen nur indirekt; es verrät sich z.B. dadurch, dass er damals gelegentlich Artikel mit dem Pseudonym "Caspar Schmidt" zeichnete, d.h. mit Stirners (damals noch kaum bekanntem) richtigen Namen. (37) Landauer äusserte sich später aber auch einige Male direkt, so dass ein schwankender Verlauf seiner Wertschätzung Stirners erkennbar wird. Anfangs bestand offenbar eine Rivalität zu Mackay, der wie Landauer in Berlin lebte. Es sei "ein Jammer", klagte Landauer 1895, dass "ein bedeutender Philosoph, Stirner, und ein guter Dichter, aber unbedeutender Denker wie Mackay immer in einem Atem genannt werden." (38) Im Verlauf der 90er Jahre entfernte sich Landauer aufgrund seines rastlosen Aktivismus immer mehr von Stirner. Als er schliesslich im Jahre 1900, mit veranlasst durch einen Gefängnisaufenthalt, etwas zur Ruhe kam, wandte er sich jedoch erst recht von Stirner ab und mystischem Gedankengut zu. -- Erich Mühsam (1878-1934), der damals Landauer kennenlernte, erinnerte sich später dankbar, dass Landauer ihm geholfen habe, "gewisse Schwankungen in der Auffassung", die ihn, Mühsam, "zeitweilig in die Nähe Stirners trieben" [sic!], zu überwinden. (39) (Der unermüdliche anarchistische Publizist schrieb im übrigen kaum ein Wort über Stirner.) -- Landauer schien sich damals endgültig von Stirner gelöst zu haben, kam jedoch Jahre später, nach einer harten Auseinandersetzung mit der Anarchistischen Föderation, noch einmal auf ihn zurück. Im Jahre 1909 lud er sogar den Erzstirnerianer Mackay ein, an seiner neugegründeten Zeitschrift »Der Sozialist« mitzuarbeiten. (40) Obwohl Mackay ablehnte, umwarb Landauer ihn und die "individualistischen Anarchisten" noch für einige Zeit. 1911 nannte Landauer Stirner als denjenigen, bei dem "Anarchismus ... seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat." (41) Doch im gleichen Text wird klar, dass Landauer Stirners Anarchismus jetzt prinzipiell wie Mackay sah: als Ultra-Liberalismus. Das freilich war nicht mehr der Stirner, von dem der junge Bilderstürmer, der mit "Caspar Schmidt" gezeichnet hatte, ein ahnendes Verständnis gehabt haben muss; es war ein Stirner, den er bereits so präpariert hatte, dass er bald auf ihn verzichten konnte.

*

Die Platzgründe, die jetzt zum Abbruch dieses Ganges durch die Wirkungsgeschichte Stirners zwingen, waren es auch, die dazu zwangen, a) die jeweiligen "Fälle" in äusserster Knappheit zu skizzieren, b) auf eine Fülle von stützenden Belegen nicht einmal

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hinweisen zu können, c) Dutzende von Reaktionen auf Stirner, die die aufgezeigten Tendenzen der Rezeption unterstreichen, unerwähnt zu lassen, und, nicht zuletzt, d) auf Inhalte überhaupt nicht eingehen zu können. Das Inhaltliche jedoch wird letztlich das Entscheidende sein, wenn über Stirners (potentiellen) ideengeschichtlichen Rang, seine Tauglichkeit zur BegrÜndung eines zeitgemässen (Neo-)Anarchismus und seine "Aktualität" zu befinden ist. Platzgründe sind es auch, die eine Zusammenfassung nicht mehr erlauben. Ich hoffe, dass die gebotenen Skizzen prägnant genug waren, um zu erkennen, dass Stirner tatsächlich für viele wichtige Denker eine solche "Schwierigkeit" darstellte, dass sie ihm lieber auswichen. Hier nur gelegentlich kurz zu erwähnen waren die sekundären Ausweichmanöver der Nachfolgenden, die, etwa in den Fachliteraturen zu Marx, Nietzsche, Steiner oder den anderen Genannten, alle Verdachtsmomente bagatellisierten oder ignorierten. Mehr als ein Anstoss war im gegebenen Rahmen nicht möglich. Ob er ausreicht, um Eigeninitiativen im Sinne der einleitenden Bemerkungen in Gang zu setzen, wird sich zeigen. (Anm. 1998: vgl. die Stirner- Studien, 1994ff.)


Anmerkungen

(1) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Hg. v. Ahlrich Meyer. Stuttgart 1972 (Reclams UB Nr. 3057-3062). 412 + 50 S.
Vgl. die sehr interessante Editionsgeschichte Ein heimlicher Hit

(2) ebd., aber 1981, in einer Notiz "Zur Neuauflage 1981", S. 461 f

(3) Alfred Schaefer: Der Staat und das Reservat der Eigenheit. Berlin (West) 1989. Klappentext

(4) Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln 1966. 619 S.

(5) Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken. Hg. v. Bernd A. Laska. Nürnberg 1986. S. 170

(6) explizit v.a. S. 50, 275-278, 393 der Reclamausgabe 1972

(7) Gustav Landauer: Zur Geschichte des Wortes "Anarchie". In: Der Sozialist, 1.Jg., Nr. 7-8, 1909, S. 61

(8)Es gibt freilich Ausnahmen. Über sie informiert: Wolfgang Essbach: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus, Frankfurt/M 1982. Essbach sagt im Vorwort, er hätte das Buch nicht schreiben müssen, "wenn ich den etablierten wissenschaftlichen und politischen Auffassungen hätte vertrauen können." Er selbst scheint jedoch seinen eigenen Versuch, das Problem, das in der bereits von Marx erstickten Kontroverse verborgen liegt, theoretisch zu bewältigen, inzwischen als zwar fehlgegangen. aber auch erledigt zu betrachten. (vgl. sein Buch: Die Junghegelianer. München 1988)
Vgl. dazu Den Bann brechen ! ... [Kap. "Essbach"]

(9) M(ax) S(tirner): Recensenten Stirners (1845). Neu hg. von Bernd A. Laska, in: Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken. Nürnberg 1986, S. 147-205

(10) Auf Einwände wie den, Proudhon und Bakunin hätten von Stimer nichts gewusst, oder den, Marx habe für sein Manuskript keinen Verleger gefunden, kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

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(11) Georg Friedrich Daumer: Das Christentum und sein Urheber. Mainz 1864. S. 118-136

(12) Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus (1865). Frankfurt/M 1974 (suhrkamp stw 70)

(13) Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten (1869). 12. Aufl. Leipzig 1923. Band 2. S. XIII, 370-373

(14) Die Interaktion Hartmann-Nietzsche wäre eine genauere Untersuchung wert. Wolfert von Rahden, der eine solche lieferte (Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 481-502), kommt trotz grosser Akribie zu keiner erhellenden Interpretation, eben weil er die Rolle Stirners dabei nicht adäquat einzuschätzen vermag.

(15) Robert Otto Anhuth: Das wahnsinnige Bewusstsein und die unbewusste Vorstellung. Ein Ant(h)elogikon der Hartmann'schen Philosophie. Halle 1877. S.52

(16) Hermann Conradi: Gesammelte Schriften. Leipzig 1911. I. Band. Einleitung von Paul Ssymank. S. LXXXIII (Fn.), CXIX und LXXVI, LXXVIII

(17) John Henry Mackay: Abrechnung. Berlin 1933. S. 33

(18) Hermann Conradi: Gesammelte Schriften. Leipzig 1911. Band 2, S. 79, 346-349. In seinem Roman »Phrasen« (Leipzig 1887) karikiert Conradi Mackay auf S. 283f als "Stuart Matthew".

(19) Hermann Conradi: Phrasen. Leipzig 1887. S. 40-43

(20) Georg Keben: John Henry Mackay und sein Philosoph. In: Monatsblätter. Organ der "Breslauer Dichterschule", Bd. 16, Heft 12 (Dez.1890), S. 172-174, 189-190 (190)

(21) Siehe dazu K.H.Z. Solneman [d.i. Kurt Helmut Zube]: Der Bahnbrecher John Henry Mackay. Freiburg 1977. S. 143-166. Nicht ausdrücklich, aber implizit ist das Kriterium, das Anarchismus auch vom Ultra-Liberalismus klar scheidet, enthalten in: Bernd A. Laska: Max Stirner als "pädagogischer" "Anarchist". In: Anarchismus und Pädagogik. Hg. v. Ulrich Klemm. Frankfurt/M 1991. S. 33-44 (unter neuem Titel Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei Max Stirner.)

(22) Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In : Die Neue Zeit, 4 (1886), S. 145 -157,193-209. Erschien 1888 als Buch und fand weite Verbreitung.

(23) Eduard von Hartmann: Die Philosophie der Gegenwart. In: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes. Jg. 57, Nr. 16, 14. April 1888, S. 242

(24) Eduard von Hartmann: Nietzsches "neue Moral". In: Preussische Jahrbücher, Band LXV11, Heft 5, Mai 1891, S. 504-521 (521)

(25) Albrecht Rau: Ludwig Feuerbach und Max Stirner. In: Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, Jg. 57, Nr. 41, S. 643-646

(26) Rudolf Rocker: Anarchismus und Organisation. Berlin o.J. [ca. l919]. Neudruck West-Berlin 1981, S. 30

(27) Anonym: Max Stirner. In: Der Freie Arbeiter, 3. Jg., Nr. 26, 28. Juni 1906, S. 106

(28) Anonym: Stirner und Nietzsche. In: Der Anarchist (Berlin), März 1906

(29) Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie. Berlin 1925. S. 179

(30) G. Himmelserb: Die anarchistische Utopie und das antikratische Gesellschaftsideal. In: Der Moderne Völkergeist, 3. Jg., Nr. 16 (August 1896), S. 125-127

(31) Hans G. Helms: Die Ideologie ..., a.a.O., S. 5, 491

(32) Das gilt sowohl allgemein als auch für massgebliche Kreise der heutigen anarchistischen Szene, wo man sich von der Sachkunde des Stirner- (und Anarchisten-)Hassers Helms blenden lässt. Vgl. Arno Maierbruggers Buch »Fesseln brechen nicht von selbst« (1991) und die sich anschliessende Kontroverse in der Zeitschrift »Schwarzer Faden« (Nr. 42, 43, 44)

(33) Der späte Ernst Jünger, der sich seit 1977 gelegentlich positiv zu Stirner

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äusserte, ist da keine Ausnahme. (Anm. 1998: Ausführlich dazu hier.)

(34) M(ichel)-G(eorges) M(icberth): Exit Max. In: Le Nouveau Pal, No. 15, Nov./Dec. 1982. Siehe auch: François Richard: Les Anarchistes de Droite. Paris 1991. S. 68

(35) Brief Steiner an Mackay vom 5.12.1893; versch. Veröff.

(36) Rudolf Steiner: Mein Lebensgang (1925). Dornach 1962. S. 370-372

(37)Es waren offenbar nicht seine harmlosesten, denn auf einen solchen Artikel, »Rohe Gewalt«, erschienen am 3.6.1893 in der Zeitschrift »Der Sozialist«, folgten Hausdurchsuchungen und Gerichtsverfahren.

(38) Zit. nach: Signatur g.l. - Gustav Landauer im »Sozialist« (1892-1899). Hg. v. Ruth Link-Salinger. Frankfurt/M 1986. S. 52

(39) Erich Mühsam: Von Eisner bis Leviné. Berlin 1929. S. 10

(40) Brief Landauer an Mackay vom 13.5.1909. Original im Mackay-Nachlass, Archiv des ehem. Instituts für Marxismus-Leninismus, Moskau, Font 307, Nr. 19, L. 214-215

(41) zit. nach: Gustav Landauer: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Hg. v. Siegbert Wolf. Frankfurt/M 1989. S. 140

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